Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.13/2004
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1P.13/2004 /zga

Urteil vom 21. April 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay, Bundesrichter Féraud,
Gerichtsschreiber Störi.

A. ________,
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Harry Nötzli,

gegen

W.________,
X.________,
Y.________,
Z.________,
Beschwerdegegner,
Bezirksgericht Lenzburg, Metzgplatz, 5600 Lenzburg,
Staatsanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus,
5001 Aarau,
Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer, Obere Vorstadt 38, 5000
Aarau.

Strafverfahren; Beweiswürdigung,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons
Aargau, 1. Strafkammer, vom 15. Oktober 2003.

Sachverhalt:

A.
Das Bezirksgericht Lenzburg verurteilte A.________ am 28. November 2002 wegen
mehrfachen Betrugs (Art. 146 Abs. 1 StGB), mehrfachen versuchten Betrugs
(Art. 146 Abs. 1 i.V.m. Art 21 Abs. 1 und 22 Abs. 1 StGB) und mehrfacher
Urkundenfälschung (Art. 251 Ziff. 1 StGB) zu 14 Monaten Zuchthaus und
verpflichtete ihn zu Schadenersatzzahlungen an verschiedene Zivilklägerinnen.
Es hielt für erwiesen, dass er, teilweise unter Mithilfe von B.________ und
C.________ und weiteren Komplizen, ein Fahrzeug wahrheitswidrig als gestohlen
meldete sowie Unfälle mit gemieteten Autos arrangierte und sich die
absichtlich verursachten und in seiner Garage in Lenzburg künstlich erhöhten
Schäden von den Schadenversicherern ersetzen liess.

In teilweiser Gutheissung der Berufung A.________s sprach das Obergericht des
Kantons Aargau diesen am 15. Oktober 2003 vom Vorwurf der mehrfachen
Urkundenfälschung frei und reduzierte das Strafmass auf 13 Monate Zuchthaus.
Im Übrigen wies es die Berufung ab.

B.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 8. Januar 2004 wegen Willkür (Art. 9 BV)
und Verletzung von Art. 6 EMRK beantragt A.________, das Urteil des
Obergerichts aufzuheben, soweit es ihn belastet. Ausserdem ersucht er, ihm
unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung zu bewilligen und seiner
Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

C.
Mit Verfügung vom 5. Februar 2004 erkannte das präsidierende Mitglied der I.
öffentlichrechtlichen Abteilung des Bundesgerichts der Beschwerde
aufschiebende Wirkung zu.

D.
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht verzichten auf Vernehmlassung. Die
X.________ beantragt, das obergerichtliche Urteil insbesondere im sie
betreffenden Zivilpunkt zu bestätigen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Beim angefochtenen Entscheid des Obergerichts handelt es sich um einen
letztinstanzlichen kantonalen Endentscheid (Art. 86 Abs. 1 OG). Der
Beschwerdeführer ist durch die strafrechtliche Verurteilung in seinen
rechtlich geschützten Interessen berührt (Art. 88 OG), weshalb er befugt ist,
die Verletzung verfassungsmässiger Rechte zu rügen. Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde, unter dem Vorbehalt gehörig begründeter Rügen (Art. 90 Abs. 1
lit. b OG; BGE 127 I 38 E. 3c; 125 I 492 E. 1b; 122 I 70 E. 1c), einzutreten
ist. Soweit im Folgenden auf Ausführungen in der Beschwerdeschrift nicht
eingegangen wird, genügen sie den gesetzlichen Begründungsanforderungen
nicht.

2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt, die Aussagen von B.________, C.________,
D.________ und E.________, die sie an der erstinstanzlichen Hauptverhandlung
vom 28. November 2002 gemacht hätten und auf denen seine Verurteilung
wesentlich beruhe, seien nichtig, da die Mitangeschuldigten nach § 105 Abs. 1
der Strafprozessordnung des Kantons Aargau vom 11. November 1958 (StPO) nicht
als Zeugen, sondern nur als Auskunftspersonen hätten einvernommen werden
dürfen. Seine Verurteilung auf Grund unverwertbarer Aussagen sei deshalb
willkürlich und verletze den in Art. 32 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 2 EMRK
verankerten Grundsatz in dubio pro reo. Was der Beschwerdeführer indessen in
diesem Zusammenhang aus Art. 32 Abs. 1 BV oder Art. 6 Ziff. 2 EMRK zu seinen
Gunsten ableiten will, ist weder dargelegt (Art. 90 Abs. 1 lit. b OG) noch
ersichtlich.

2.2 Fehlerhafte Entscheide sind nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung
nichtig, wenn der ihnen anhaftende Mangel besonders schwer ist, wenn er
offensichtlich oder zumindest leicht erkennbar ist und wenn zudem die
Rechtssicherheit durch die Annahme der Nichtigkeit nicht ernsthaft gefährdet
wird. Inhaltliche Mängel einer Entscheidung führen nur ausnahmsweise zur
Nichtigkeit. Als Nichtigkeitsgründe fallen vorab funktionelle und sachliche
Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde sowie krasse Verfahrensfehler in
Betracht (BGE 129 I 361 E. 2.1 mit Hinweisen auf die Rechtsprechung).

2.3  Nach allgemeinem Prozessgrundsatz kann nicht Zeuge sein, wer im
Verfahren Partei, insbesondere Beschuldigter ist (BGE 98 IV 212 E. 1; 92 IV
201 S. 207). Ein Tatverdächtiger muss sich nicht selbstbelasten und darf
schweigen oder gar ungestraft lügen. Diese verfassungs- und
konventionsrechtlich garantierten Verteidigungsrechte schliessen es aus, ihn
in einem Strafprozess unter Hinweis auf Art. 307 StGB zu einem wahren und
vollständigen Zeugnis zu verpflichten. Im Übrigen bestimmt das anwendbare
Verfahrensrecht, wer als Zeuge einvernommen werden kann (BGE a.a.O.). Nach
dem einschlägigen § 105 Abs. 1 StPO darf nicht als Zeuge einvernommen werden,
wer der im Verfahren zur Diskussion stehenden strafbaren Handlungen
verdächtig erscheint.

2.4 Nichtigkeit ist von allen rechtsanwendenden Behörden in allen
Verfahrensstadien von Amtes wegen zu berücksichtigen (BGE 129 I 361 E. 2; 122
I 97 E. 3a). Die Rüge, das angefochtene Urteil stütze sich auf unverwertbare
Zeugenaussagen und sei deswegen nichtig, ist daher zulässig.

Nicht zu prüfen ist, ob das Abstellen auf die umstrittenen Zeugenaussagen
allenfalls einen weniger schweren Mangel darstellt, der das angefochtene
Urteil zwar nicht nichtig, sondern "bloss" anderweitig verfassungswidrig
erscheinen lassen könnte: für ein solches Vorbringen hätte der
Beschwerdeführer den kantonalen Rechtsmittelzug ausschöpfen müssen (Art. 86
Abs. 1 OG), was er mit dieser erstmals in der staatsrechtlichen Beschwerde
erhobenen Rüge unterliess.

2.4.1 B.________, C.________, D.________ und E.________ waren im
Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer mitangeklagt und wurden vom
Bezirksgericht Lenzburg an der Hauptverhandlung vom 16. Mai 2002, zu welcher
der Beschwerdeführer unentschuldigt nicht erschien, abgeurteilt. Diese
Urteile wurden nicht angefochten und erwuchsen in Rechtskraft. Alle vier
waren damit am 28. November 2002, als das Bezirksgericht Lenzburg gegen den
Beschwerdeführer verhandelte, nicht mehr als Mitangeklagte oder sonstwie als
Parteien am Verfahren beteiligt, was ihrer Befragung als Zeugen aus den
erwähnten Gründen ausgeschlossen hätte.

2.4.2 Damit stellt sich allein die Frage, ob § 105 Abs. 1 StPO eine Befragung
von Tatverdächtigen als Zeugen auch nach ihrer rechtskräftigen Verurteilung
ausschliesst. Dies ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht der Fall und vom
Gesetzeszweck her auch nicht zwingend. Nach der rechtskräftigen Verurteilung
bedarf ein Tatbeteiligter des Schutzes der ihm als Beschuldigtem zustehenden
Verfahrensgarantien grundsätzlich nicht mehr. In Rechtsprechung (ZR 88/1989
Nr. 3 S. 5 ff.) und Lehre (Nathan Landshut, Zeugnispflicht und Zeugniszwang
im Zürcher Strafprozess, Zürcher Diss., Zürich 1998, S. 8; Niklaus Schmid,
Strafprozessrecht, 4.A., Zürich 2004, Rz. 659f) wird denn auch die Auffassung
vertreten, dass ein rechtskräftig Verurteilter im Prozess gegen einen
Tatbeteiligten als Zeuge aussagen kann bzw. muss. Selbst wenn eine
verfassungskonforme Auslegung von § 105 Abs. 1 StPO zum Ergebnis führen
müsste, dass die Befragung von Tatbeteiligten auch nach ihrer Verurteilung
als Zeugen unzulässig wäre, so läge darin jedenfalls kein offensichtlicher
oder leicht erkennbarer schwerer Verfahrensfehler, der die Nichtigkeit eines
solchen Zeugenbeweises zur Folge hätte. Die Rüge ist unbegründet.

3.
Der Beschwerdeführer wirft dem Obergericht vor, die Beweise willkürlich zu
seinen Lasten gewürdigt zu haben.

3.1 Willkürlich handelt ein Gericht, wenn es seinem Entscheid
Tatsachenfeststellungen zugrunde legt, die mit den Akten in klarem
Widerspruch stehen. Im Bereich der Beweiswürdigung besitzt der Richter einen
weiten Ermessensspielraum. Das Bundesgericht greift im Rahmen einer
staatsrechtlichen Beschwerde nur ein, wenn die Beweiswürdigung offensichtlich
unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht
oder auf einem offenkundigen Versehen beruht (BGE 124 I 208 E. 4a; 117 Ia 13
E. 2c; 18 E. 3c je mit Hinweisen).

3.2 Die Beweislage gegen den Beschwerdeführer ist vorab auf Grund der
Geständnisse seiner Komplizen B.________, C.________, D.________ und
E.________ erdrückend. Wie in E. 2 dargelegt, ist die Verwendung dieser
Aussagen nicht zu beanstanden. Der Beschwerdeführer findet es zwar
bedenklich, dass die vier vor ihm abgeurteilt und ihre Aussagen damit vom
Bezirksgericht Lenzburg bereits am 16. Mai 2002 abschliessend gewürdigt
worden seien. Es ist unter dem Gesichtspunkt der Vorbefassung tatsächlich
nicht immer unproblematisch, wenn ein Gericht ein Strafverfahren gegen
mehrere Angeklagte nicht mit einer einzigen Hauptverhandlung abschliesst,
weil unter Umständen der Eindruck entstehen kann, dass es sich mit der
Verurteilung eines Teils der Angeklagten auch in Bezug auf die Schuld der
weiteren, noch zu beurteilenden Angeklagten bereits festgelegt haben könnte
(vgl. BGE 126 I 68 E. 3, 4 mit Hinweisen). Ausstandsgründe sind jedoch nach
Treu und Glauben ohne Verzug geltend zu machen (BGE 124 I 121 E.2; 119 Ia 221
E. 5a; 118 Ia 282 E. 3a). Der Beschwerdeführer hätte somit eine solche
Befangenheitsrüge spätestens am 28. November 2002 erheben müssen, als er an
der Hauptverhandlung die gleichen Richter vor sich hatte, die am 16. Mai 2002
bereits gegen seine Komplizen verhandelten. Da er dies unterliess und auch in
der Berufung nicht geltend machte, seine Verurteilung sei wegen Vorbefassung
der beteiligten Bezirksrichter aufzuheben, ist seine Befangenheitsrüge in der
staatsrechtlichen Beschwerde ohne weiteres verspätet. Zudem ist der
Beschwerdeführer darauf hinzuweisen, dass er es war, der zur Hauptverhandlung
vom 16. Mai 2002 unentschuldigt nicht erschien und es daher selber zu
vertreten hat, dass er nach seinen Komplizen abgeurteilt wurde.

3.3 Was nebst den unbegründeten Einwänden gegen die Verwendung dieser
Aussagen seiner Komplizen bleibt, erschöpft sich in appellatorischer Kritik,
die nicht geeignet ist, mit Erfolg Willkür nachzuweisen. So hat etwa das
Obergericht keineswegs verkannt, dass das Verhältnis zwischen B.________ und
dem Beschwerdeführer stark getrübt war und dargelegt, weshalb es diesen
trotzdem für glaubwürdig und dessen Aussagen - trotz des scheinbaren
Widerspruchs in Bezug auf die Frage, wer im Fall des Peugeot 505 Break das
Unfallprotokoll ausfüllte - für glaubhaft hält (angefochtenes Urteil S. 26 -
29). Der Beschwerdeführer hält dem seine Sicht der Dinge entgegen -
B.________ wolle ihn aus Rache falsch belasten - und will aus der angeführten
Ungenauigkeit um das Ausstellen des Unfallprotokolls schliessen, dessen
Belastungen seien erfunden. Diese und weitere Einwände in dieser Art lassen
die obergerichtliche Beweiswürdigung nicht als willkürlich erscheinen, vor
allem, wenn man sich vor Augen hält, dass sich der Beschwerdeführer auf diese
Weise gegen eine Vielzahl von Vorfällen mit manipulierten Autounfällen zur
Wehr setzt, in denen er von weiteren Personen - u.a. C.________, F.________,
D.________, G.________, E.________ - belastet wird. In Bezug auf die Aussagen
von F.________ macht er zwar geltend, er sei nie ordnungsgemäss mit diesem
konfrontiert worden, räumt aber ein, nie einen entsprechenden Beweisantrag
gestellt zu haben. Dem braucht hier indessen nicht weiter nachgegangen zu
werden, hat doch das Obergericht im angefochtenen Entscheid S. 42
ausdrücklich ausgeführt, dass den Aussagen F.________s keine ausschlaggebende
Bedeutung zukäme, da die glaubhaften Aussagen B.________s auch für sich
allein betrachtet zu einem Schuldspruch ausreichten. Bei dieser klaren
Beweislage konnte das Obergericht auch ohne Verfassungsverletzung die Abnahme
weiterer Beweise ablehnen. Die Willkürrüge ist somit offensichtlich
unbegründet und damit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.

4.
Die Beschwerde ist somit abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens wird der Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art.
156 OG); er hat zwar ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung gestellt, welches jedoch abzuweisen ist, da die Beschwerde
aussichtslos war (Art. 152 OG). Praxisgemäss hat die nicht anwaltlich
vertretene National-Versicherungs-Gesellschaft Versicherung keinen Anspruch
auf eine Parteientschädigung.

Demnach erkennt das Bundesgericht

im Verfahren nach Art. 36a OG:

1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.

2.
2.1 Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird
abgewiesen.

2.2 Die Gerichtsgebühr in Höhe von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer
auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bezirksgericht Lenzburg, der
Staatsanwaltschaft und dem Obergericht des Kantons Aargau, 1. Strafkammer,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 21. April 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: