Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.10/2004
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1P.10/2004 /sta

Urteil vom 27. Januar 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Aeschlimann, Eusebio,
Gerichtsschreiberin Leuthold.

X. ________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Pablo
Blöchlinger,

gegen

Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich, Büro B-4, Molkenstrasse 15/17,
Postfach 1233, 8026 Zürich,
Bezirksgericht Zürich, Haftrichterin, Wengistrasse 28, Postfach, 8026 Zürich.

Art. 29 Abs. 2 und Art. 31 Abs. 1 BV, Art. 5 Ziff. 1 EMRK (Haftentlassung),

Staatsrechtliche Beschwerde gegen die Verfügung des Bezirksgerichts Zürich,
Haftrichterin, vom 22. Dezember 2003.
Sachverhalt:

A.
Die Bezirksanwaltschaft V für den Kanton Zürich führt gegen den aus
Serbien-Montenegro stammenden X.________ eine Strafuntersuchung wegen
Verdachts der Gefährdung des Lebens und weiterer Delikte. Sie wirft ihm vor,
er sei am 16. Oktober 2003 in einem Restaurant in Zürich an einer tätlichen
Auseinandersetzung unter mehreren jugoslawischen Landsleuten beteiligt
gewesen und habe dabei mit einer Pistole gewollt drei Schüsse zwischen die
sich streitende Menschengruppe in Richtung des Bodens abgefeuert, so dass
Y.________ eine Schussverletzung am Oberschenkel erlitten habe. Der
Angeschuldigte wurde mit Verfügung des Haftrichters des Bezirksgerichts
Zürich vom 17. Oktober 2003 in Untersuchungshaft versetzt. Er stellte am 17.
Dezember 2003 ein Haftentlassungsgesuch. Mit Verfügung vom 22. Dezember 2003
wies die Haftrichterin das Gesuch ab und erstreckte die Haft bis zum 17.
April 2004.

B.
Gegen diesen Entscheid reichte X.________ am 6. Januar 2004 beim
Bundesgericht staatsrechtliche Beschwerde ein. Er beantragt, die angefochtene
Verfügung sei aufzuheben und er sei unverzüglich aus der Untersuchungshaft zu
entlassen, eventuell unter Anordnung einer Ersatzmassnahme.

C.
Die Bezirksanwaltschaft stellt in ihrer Vernehmlassung vom 12. Januar 2004
den Antrag, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Haftrichterin verzichtete auf
eine Vernehmlassung.

D.
In einer Replik vom 21. Januar 2004 nahm X.________ zur Beschwerdeantwort der
Bezirksanwaltschaft Stellung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Mit einer staatsrechtlichen Beschwerde, die sich gegen die Fortdauer der Haft
richtet, kann in Abweichung vom Grundsatz der kassatorischen Natur der
Beschwerde nicht nur die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, sondern
ausserdem die Entlassung aus der Haft, allenfalls unter Anordnung einer
Ersatzmassnahme, verlangt werden (BGE 124 I 327 E. 4b/aa S. 332 f.; 115 Ia
293 E. 1a S. 297, je mit Hinweisen). Die mit der vorliegenden Beschwerde
gestellten Anträge sind daher zulässig.

2.
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Abweisung seines
Haftentlassungsgesuchs verletze das Recht auf persönliche Freiheit nach Art.
31 Abs. 1 BV und Art. 5 Ziff.1 EMRK.

2.1 Bei staatsrechtlichen Beschwerden, die gestützt auf das
verfassungsmässige Recht der persönlichen Freiheit wegen der Ablehnung eines
Haftentlassungsgesuchs erhoben werden, prüft das Bundesgericht im Hinblick
auf die Schwere des Eingriffs die Auslegung und Anwendung des entsprechenden
kantonalen Rechts frei. Soweit jedoch reine Sachverhaltsfeststellungen und
damit Fragen der Beweiswürdigung zu beurteilen sind, greift das Bundesgericht
nur ein, wenn die tatsächlichen Feststellungen der kantonalen Instanz
willkürlich sind (BGE 128 I 184 E. 2.1 S. 186; 123 I 31 E. 3a S. 35, je mit
Hinweisen). Die vom Beschwerdeführer ebenfalls angerufene Vorschrift von Art.
5 EMRK geht ihrem Gehalt nach nicht über den verfassungsmässigen Anspruch auf
persönliche Freiheit hinaus. Indessen berücksichtigt das Bundesgericht bei
der Konkretisierung dieses Anspruchs auch die Rechtsprechung der
Konventionsorgane (BGE 114 Ia 281 E. 3 S. 282 f. mit Hinweisen).

2.2 Gemäss § 58 Abs. 1 der Strafprozessordnung des Kantons Zürich (StPO) ist
die Anordnung oder Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft zulässig, wenn der
Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtigt wird und
überdies Flucht-, Kollusions- oder Fortsetzungsgefahr besteht. Ausserdem darf
die Haft nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (§ 58 Abs.
3 StPO). Die Haftrichterin war der Auffassung, im vorliegenden Fall seien der
dringende Tatverdacht sowie Fluchtgefahr gegeben; zudem erweise sich die
Fortdauer der Haft als verhältnismässig.

Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass ein dringender Tatverdacht
gegeben ist. Hingegen wirft er der kantonalen Instanz vor, sie habe zu
Unrecht angenommen, es bestehe Fluchtgefahr.

2.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme der
Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich der Angeschuldigte,
wenn er in Freiheit wäre, der Strafverfolgung und dem Vollzug der Strafe
durch Flucht entziehen würde. Die Schwere der drohenden Strafe darf als ein
Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden. Sie genügt jedoch für sich allein
nicht, um den Haftgrund zu bejahen. Vielmehr müssen die konkreten Umstände
des betreffenden Falles, insbesondere die gesamten Verhältnisse des
Angeschuldigten, in Betracht gezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62; 117 Ia
69 E. 4a S. 70, je mit Hinweisen).

2.3.1 Dem Beschwerdeführer werden mehrfache Gefährdung des Lebens im Sinne
von Art. 129 StGB, fahrlässige einfache Körperverletzung gemäss Art. 125 StGB
sowie mehrfache Vergehen gegen das Bundesgesetz über Waffen, Waffenzubehör
und Munition zur Last gelegt. Im Falle eines Schuldspruchs hätte er eine
längere Freiheitsstrafe zu gewärtigen. Es kann ohne Verletzung der Verfassung
angenommen werden, schon mit Rücksicht auf die drohende Strafe bestehe ein
erheblicher Anreiz zur Flucht.

2.3.2 Hinsichtlich seiner persönlichen Verhältnisse hatte der
Beschwerdeführer in der Einvernahme vor der Bezirksanwaltschaft am 17.
Dezember 2003 ausgeführt, er sei am 7. Dezember 1978 in Serbien geboren und
habe dort bei seinen Eltern gelebt, bis er am 30. Mai 2002 in die Schweiz
gekommen sei. Hier habe er ein Asylgesuch gestellt, das abgelehnt worden sei.
Seit dem 21. März 2003 sei er mit Z.________ verheiratet, die er in der
Schweiz kennen gelernt habe. Er besitze die Aufenthaltsbewilligung B. In
Serbien habe er Jura studiert. Nach 3 Jahren habe er das Studium abgebrochen,
doch sei er immer noch immatrikuliert. Er "plane auch, demnächst
weiterzustudieren". Er müsse noch ein weiteres Jahr studieren. Danach müsste
er noch 2 weitere Jahre studieren, wenn er die Anwaltsprüfung machen möchte.
Auf die Frage, wie er seine Zukunft sehe, erklärte er, es hänge davon ab, wie
die Wahlen Ende Dezember in Serbien verlaufen würden. Falls es möglich sei,
möchte er sein Studium in Serbien beenden und anschliessend schauen, ob und
wie sein Abschluss anerkannt werde, um in der Schweiz als Jurist praktizieren
zu können. Er müsse auch noch besser Deutsch lernen. Voraussichtlich brauche
er für all das 4 oder 5 Jahre.

Die Haftrichterin stützte sich im angefochtenen Entscheid auf diese Angaben
des Beschwerdeführers. Sie hielt fest, der Beschwerdeführer habe bis vor
eineinhalb Jahren bei seinen Eltern in Serbien gewohnt, wo seine Familie
heute immer noch lebe. Er sei zwar mit einer "Schweizerin" (richtig: mit
einer Serbin, die in der Schweiz aufgewachsen ist) verheiratet und besitze
die Aufenthaltsbewilligung B. Er habe jedoch in der erwähnten Einvernahme vom
17. Dezember 2003 auf die Frage, wie er sich seine Zukunft vorstelle,
erklärt, er erwäge - je nach Wahlausgang in Serbien - dort sein Jurastudium
und die Ausbildung zum Rechtsanwalt zu beenden, wofür er voraussichtlich vier
bis fünf Jahre brauche. Unter diesen Umständen könne nicht davon ausgegangen
werden, die Beziehungen des Beschwerdeführers zur Schweiz seien derart
gefestigt, dass er, wenn er in Freiheit wäre, in der Schweiz bleiben würde.
Der Haftgrund der Fluchtgefahr sei deshalb zu bejahen.

2.3.3 In der staatsrechtlichen Beschwerde wird nichts vorgebracht, was
geeignet wäre, diese Überlegungen der Haftrichterin als verfassungswidrig
erscheinen zu lassen. Es wird vor allem eingewendet, die kantonale Instanz
habe dem Umstand zu wenig Rechnung getragen, dass der Beschwerdeführer
verheiratet sei, dass seine Ehefrau in der Schweiz lebe und dass er damit
über eine Aufenthaltsbewilligung verfüge, die ihn zum Verbleib in der Schweiz
berechtige. Die Haftrichterin hat auf diese Umstände hingewiesen, war aber
der Ansicht, sie vermöchten angesichts der Beziehungen des Beschwerdeführers
zu seinem Heimatland Serbien die Fluchtgefahr nicht entscheidend zu
reduzieren. Diese Auffassung ist sachlich vertretbar. Der 25-jährige
Beschwerdeführer hat bis Mai 2002, als er in die Schweiz kam, bei seinen
Eltern in Serbien gelebt. Nach seinen Angaben studierte er dort während 3
Jahren Jura und ist immer noch immatrikuliert. Er hat in der erwähnten
Einvernahme vom 17. Dezember 2003 wiederholt erklärt, er wolle in Serbien
weiterstudieren bzw. sein Studium in Serbien beenden. Es lässt sich mit Grund
erwägen, unter diesen Umständen könne nicht davon ausgegangen werden, die
Beziehungen des Beschwerdeführers zur Schweiz seien derart gefestigt, dass er
im Falle einer Freilassung in der Schweiz bleiben würde. Werden die gesamten
Verhältnisse des Beschwerdeführers in Betracht gezogen, so verletzte die
Haftrichterin die Verfassung und die EMRK nicht, wenn sie den Haftgrund der
Fluchtgefahr bejahte.

3.
Sodann macht der Beschwerdeführer geltend, die Haftrichterin sei mit keinem
Wort auf seinen Antrag eingegangen, eventuell sei er unter Anordnung von
Ersatzmassnahmen aus der Haft zu entlassen. Durch die Nichtbehandlung des
Eventualantrages habe sie "gegen die Prüfung der Haftvoraussetzungen
verstossen und somit gleichzeitig gegen die persönliche Freiheit". Ausserdem
sei der in Art. 29 Abs. 2 BV gewährleistete Anspruch auf rechtliches Gehör
verletzt worden.

3.1 Im angefochtenen Entscheid wurde geprüft, ob der dringende Tatverdacht
sowie Fluchtgefahr gegeben seien und ob die Fortdauer der Untersuchungshaft
verhältnismässig sei. Die Rüge, die Haftrichterin habe ihre Pflicht zur
Prüfung der Haftvoraussetzungen verletzt, ist daher unzutreffend.

3.2 Was die aus Art. 29 Abs. 2 BV folgende Begründungspflicht angeht, so
reicht es unter dem Gesichtspunkt dieser Bestimmung aus, wenn die urteilende
Behörde kurz die Überlegungen nennt, von denen sie sich leiten liess und auf
welche sich ihr Entscheid stützt (BGE 126 I 97 E. 2b S. 102 f. mit
Hinweisen).

Der Freiheitsentzug steht unter der Maxime der Verhältnismässigkeit, und wenn
die Anwesenheit des Angeschuldigten im Prozess durch eine Ersatzmassnahme in
genügender Weise sichergestellt werden kann, ist es unverhältnismässig, ihm
die Freiheit zu entziehen, um dieses Ziel zu erreichen. Die Haftrichterin
führte im angefochtenen Entscheid aus, die Fortdauer der Untersuchungshaft
erscheine angesichts der Schwere des dem Beschwerdeführer vorgeworfenen
Delikts als verhältnismässig. Aus dieser Erwägung sowie den Dispositivziffern
1 und 2 des Entscheids, wonach das Haftentlassungsgesuch abgewiesen und die
Haft bis zum 17. April 2004 erstreckt wurde, ergibt sich, dass der
Eventualantrag des Beschwerdeführers abgelehnt wurde, da die Haftrichterin -
auch wenn sie dies nicht ausdrücklich sagte - davon ausging, mit einer
Ersatzmassnahme könne die Fluchtgefahr nicht hinreichend gebannt werden. Eine
Verletzung von Art. 29 Abs. 2 BV liegt somit nicht vor. Es wäre indes
wünschenswert, wenn in einem solchen Fall jeweils kurz dargelegt würde, dass
und weshalb der Eventualantrag auf Anordnung von Ersatzmassnahmen abzulehnen
sei.

4.
Die Auffassung der Haftrichterin, im vorliegenden Fall vermöchte eine
Ersatzmassnahme die Fluchtgefahr nicht ausreichend zu vermindern, ist
vertretbar und verletzt die Verfassung und die EMRK nicht.

Nach dem Gesagten ist die staatsrechtliche Beschwerde abzuweisen.

5.
Die Kosten des bundesgerichtlichen Verfahrens sind gemäss Art. 156 Abs. 1 OG
dem Beschwerdeführer aufzuerlegen. Dieser hat keinen Anspruch auf eine
Entschädigung (Art. 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die staatsrechtliche Beschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 2'000.-- wird dem Beschwerdeführer auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Bezirksanwaltschaft V für den
Kanton Zürich, Büro B-4, und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichterin,
schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 27. Januar 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Das präsidierende Mitglied:  Die Gerichtsschreiberin: