Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1P.103/2004
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1P.103/2004 /gij

Urteil vom 28. Mai 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesgerichtsvizepräsident Nay,
Bundesrichter Aeschlimann,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Max Sidler,

gegen

1. A.________,
2. B.________,
3. C.________,
alle vertreten durch Fürsprecher Franz Müller,
4. D.________, Fachpsychologe für  Neuropsychologie und Psychotherapie,
vertreten durch Fürsprecher Sven Marguth, Beschwerdegegner,
Untersuchungsrichter 1 des Untersuchungsrichteramtes III Bern-Mittelland,
Hodlerstrasse 7, 3011 Bern,
Prokurator 1 der Staatsanwaltschaft III
Bern-Mittelland, Hodlerstrasse 7, 3011 Bern,
Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern, Hochschulstrasse 17, 3012
Bern.
Strafverfahren,

Staatsrechtliche Beschwerde gegen den Beschluss der Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Bern vom 7. Januar 2004.

Sachverhalt:

A.
X. ________ erlitt in den Jahren 1992 bis 1994 drei Auffahrunfälle. Auf Grund
der dabei erlittenen Verletzungen sprach ihr die Eidgenössische
Invalidenversicherung eine ganze Rente zu, und die E._______ Versicherungen
als UVG-Versicherer sprachen X.________ am 8. Februar 2001 eine
lebenslängliche UVG-Rente auf der Grundlage einer Erwerbsunfähigkeit von 75 %
zu.

Am 29. August 2001 machte X.________ als Inhaberin einer Versicherungsagentur
und Hausfrau bei den F.________ Versicherungen (heute: G.________
Versicherungen) einen ungedeckten Direktschaden in der Höhe von circa 3 Mio.
Franken geltend.

B.
Am 23. Oktober 2003 reichte X.________ beim Untersuchungsrichteramt
Bern-Mittelland Strafanzeige ein gegen Dr. A.________, Dr. B.________,
C.________ und Dr. D.________ wegen Verletzung von Art. 35 des
Datenschutzgesetzes und des Berufsgeheimnisses im Sinne von Art. 321 StGB und
stellte die erforderlichen Strafanträge. Sie warf den drei Erstgenannten vor,
umfangreiche medizinische Akten über sie aus dem Besitz der G.________
Versicherungen ohne ihre Einwilligung und damit unbefugt an einen Dritten -
den Neuropsychologen Dr. D.________ - weitergegeben und bei diesem ein
Aktengutachten eingeholt zu haben. Letzterer habe Berufsgeheimnisse verraten,
indem er in seinem Gutachten aus den ihm vorgelegten medizinischen Unterlagen
Schlüsse gezogen und an die G.________ Versicherungen weitergegeben habe. In
der Beilage reichte sie nebst verschiedenen Beweismitteln ein Parteigutachten
von Prof. E.________ ein, welches die Strafbarkeit der zur Anzeige gebrachten
Handlungen bejahte.

Ohne irgendeine nach aussen in Erscheinung tretende Untersuchungshandlung
getätigt zu haben, beantragte der Geschäftsleitende Untersuchungsrichter des
Untersuchungsrichteramtes III Bern-Mittelland am 13. November 2003 dem
Prokurator 1 der Staatsanwaltschaft Bern-Mittelland, auf die Anzeige nicht
einzutreten. Dieser stimmte dem Antrag am 17. November 2003 bei, womit er zum
Beschluss erhoben wurde.

X.________ rekurrierte am 28. November 2003 bei der Anklagekammer des
Obergerichts des Kantons Bern gegen diesen Beschluss mit folgendem
Rechtsbegehren:
"1. Es sei davon Vormerk zu nehmen, dass sich die Rekurrentin als
Privatklägerin konstituiert und im vorliegenden Verfahren Parteirechte
auszuüben begehrt.

2.  Es seien unter Aufhebung des Beschlusses vom 17. November 2003 gegen
Dr. A.________, Dr. B.________, C.________, Dr. D.________ sowie gegen
Unbekannt Strafuntersuchungen zu eröffnen.

Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beschuldigten."
Die Anklagekammer des Obergerichts des Kantons Bern trat auf den Rekurs am 7.
Januar 2004 mangels Legitimation nicht ein. Zur Begründung führte sie an, zum
Rekurs nach Art. 323 Abs. 1 Ziff. 2 des Gesetzes über das Strafverfahren vom
15. März 1995 (StrV) legitimiert seien die Privatklägerschaft und das Opfer,
das sich noch nicht als Privatklägerin konstituiert habe. Vorliegend sei
nicht ersichtlich, und die Rekurrentin behaupte dies auch gar nicht, dass sie
Opfer im Sinne des OHG sei. Als Privatklägerin konstituiere sich eine
verletzte Person nach Art. 47 Abs. 2 Ziff. 1 StrV durch die ausdrückliche
Erklärung, die Bestrafung des Angeschuldigten und die Ausübung von
Parteirechten im Verfahren zu verlangen. Wenn Art. 323 Abs. 1 Ziff. 2 StrV
der Privatklägerschaft die Rekursmöglichkeit eröffne, so setze dies bereits
bei unbefangener Lesart des Gesetzes voraus, dass die Konstituierung als
Privatklägerin vor dem Ergehen des anzufechtenden Beschlusses erfolgen müsse.
Dies folge auch unschwer daraus, dass der Gesetzgeber für die Opfer bestimme,
dass diese zum Rekurs legitimiert seien, auch wenn sie sich noch nicht als
Privatkläger konstituiert hätten. Für die Anzeiger ohne Opferqualität ergebe
sich im Umkehrschluss, dass ihre Rekurslegitimation von ihrem Status als
Privatkläger abhänge; eine Konstituierung erst im Rekurs selber sei daher
verspätet. Da die von einem Anwalt eingereichte Strafanzeige nicht unklar
gewesen sei und keinen Hinweis enthalten habe, dass sich die Anzeigerin als
Privatklägerin konstituieren wolle, hätten die Behörden auch keine Pflicht
gehabt, ihr Gelegenheit zu verschaffen, sich zu einer allfälligen
Konstituierung als Privatklägerin zu äussern.

C.
Mit staatsrechtlicher Beschwerde vom 17. Februar 2004 wegen formeller
Rechtsverweigerung und Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV)
sowie Art. 6 und 13 EMRK beantragt X.________, den Rekursentscheid der
Anklagekammer aufzuheben.
Das Untersuchungsrichteramt III Bern-Mittelland verzichtet auf
Vernehmlassung. Die Anklagekammer beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
A.________, B.________ und C.________ verzichten in einer gemeinsamen Eingabe
auf Vernehmlassung. D.________ beantragt, die Beschwerde abzuweisen, soweit
darauf einzutreten sei. Der Prokurator 1 der Staatsanwaltschaft
Bern-Mittelland beantragt, die Beschwerde kostenfällig abzuweisen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid (Art. 86 Abs. 1
OG), mit dem die Anklagekammer auf den Rekurs der Beschwerdeführerin gegen
den Entscheid der Staatsanwaltschaft, auf ihre Strafanzeige nicht
einzutreten, ihrerseits nicht eintrat. Die Beschwerdeführerin wirft der
Anklagekammer vor, ihr willkürlich bzw. überspitzt formalistisch die
Rekurslegitimation abgesprochen und damit eine formelle Rechtsverweigerung
begangen zu haben. Dazu ist sie nach ständiger Praxis des Bundesgerichts zu
Art. 88 OG befugt, auch wenn sie als durch eine angeblich strafbare Handlung
Geschädigte grundsätzlich nicht legitimiert ist, gegen die Einstellung oder
Nicht-Eröffnung des Strafverfahrens staatsrechtliche Beschwerde zu erheben
(Zusammenfassung der Rechtsprechung in BGE 128 I 218 E. 1.1). Die übrigen
Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die
Beschwerde einzutreten ist.

2.
Das Verbot des überspitzten Formalismus untersagt dem Richter, formelle
Vorschriften mit übertriebener Schärfe anzuwenden oder an Rechtsschriften
überspannte Anforderungen zu stellen und damit dem Bürger den Rechtsweg in
unzulässiger Weise zu versperren. Die Verfahrensvorschriften des
Zivilprozess-, Strafprozess- und Verwaltungsrechtes haben der Verwirklichung
des materiellen Rechtes zu dienen, weshalb die zur Rechtspflege berufenen
Behörden verpflichtet sind, sich innerhalb des ihnen vom Gesetz gezogenen
Rahmens gegenüber dem Rechtssuchenden so zu verhalten, dass sein
Rechtsschutzinteresse materiell gewahrt werden kann. Allerdings steht nicht
jede prozessuale Formstrenge im Widerspruch mit Art. 29 Abs. 1 BV, sondern
nur solche, die als exzessiv erscheint, durch kein schutzwürdiges Interesse
gerechtfertigt ist, zum blossen Selbstzweck wird und die Verwirklichung des
materiellen Rechts in unhaltbarer Weise erschwert oder gar verhindert. Das
Bundesgericht prüft frei, ob eine derartige Rechtsverweigerung vorliegt (BGE
127 I 31 E. 2a/bb; 125 I 166 E. 3a; 121 I 177 E. 2b/aa, 120 V 413 E. 5a
S.417, je mit Hinweisen).

3.
3.1 Das Bundesgericht hatte sich schon verschiedentlich mit der Berner
Regelung zu beschäftigen, wonach die Geschädigte als Partei am Strafverfahren
teilnehmen kann, wenn sie sich als Privatklägerin konstituiert. Es hat
erkannt, dass das System nicht grundsätzlich zu beanstanden ist, dass es
indessen mit Art. 4 aBV nicht vereinbar ist, ihr die Ausübung von
Parteirechten ohne vorherige Anhörung zu verweigern, wenn die konkreten
Umstände den Schluss zulassen, dass sie Parteistellung beanspruchen möchte
(BGE 119 Ia 4 zum aufgehobenen Gesetz über das Strafverfahren vom 20. Mai
1928; dieses Urteil ist nach wie vor beachtlich, da die Regelung der
Privatklägerschaft praktisch unverändert ins geltende Recht überführt wurde,
vgl. Jürg Aeschlimann, Das neue bernische Gesetz über das Strafverfahren vom
15. März 1995, in: Heinz Hausheer (Hrsg.), Die neue Gerichtsorganisation des
Kantons Bern und deren Auswirkungen auf den Zivil- und Strafprozess, Bern
1996, S. 161). Es gibt vertretbare Gründe, eine Geschädigte nur dann als
Partei am Verfahren zu beteiligen, wenn sie dies ausdrücklich wünscht und
namentlich bereit ist, das damit verbundene Kostenrisiko zu tragen (BGE
a.a.O. E. 2d S. 8).
Nach Art. 47 Abs. 1 StrV ist die Geschädigte und Strafantragstellerin befugt,
sich durch schriftliche oder mündliche Erklärung oder durch Einreichung einer
Zivilklage als Privatklägerin zu konstituieren. Art. 47 Abs. 2 StrV verlangt
für die Konstituierung als Privatklägerin keine besondere Form, weshalb dafür
jede Erklärung genügen muss, aus der hervorgeht, dass sich die Geschädigte
als Partei am Verfahren beteiligen möchte (BGE 119 Ia 4 E. 2c/aa). Nach Art.
47 Abs. 3 StrV ist diese Konstituierung bis zum Schluss des erstinstanzlichen
Beweisverfahrens zulässig, womit die Geschädigte einen weiten Spielraum hat,
wann sie eine entsprechende Erklärung abgeben will; sie kann damit, wofür es
gute Gründe geben mag, bis zur gerichtlichen Hauptverhandlung zuwarten.

3.2 Nach der Auffassung der Anklagekammer sind Untersuchungsrichter und
Staatsanwalt befugt, auf eine Strafanzeige ohne vorherige Ankündigung nicht
einzutreten, mit der Folge, dass die Geschädigte, die noch keine Erklärung
nach Art. 47 Abs. 2 StrV abgab, keine Parteistellung hat und gegen die
Einstellung des Strafverfahrens nicht rekurrieren kann. Dies würde die
Geschädigte zwingen, sich bereits mit der Strafanzeige als Privatklägerin zu
konstituieren, wenn sie sich ihre Parteistellung sichern will, da sie sonst
riskiert - wie es hier geschehen ist -, dass sie als erste Reaktion der
Strafverfolgungsbehörden einen Nichteintretensentscheid erhält, den sie dann
mangels Parteistellung nicht anfechten kann. Auch wenn die Anklagekammer die
Auffassung vertritt, es liege nicht im öffentlichen Interesse, dass die
Geschädigte als Partei am Strafverfahren teilnimmt, so sind die
Gerichtsbehörden nicht befugt, die geschädigtenfreundlichere Haltung des
Gesetzgebers, die in Art. 47 Abs. 3 StrV ihren Niederschlag gefunden hat, zu
"korrigieren". Es sind keine schützenswerten Interessen ersichtlich, die es
erlauben würden, den der Geschädigten für die Konstituierung als
Privatklägerin vom Gesetz eingeräumten grossen Spielraum durch eine rigide,
Sinn und Geist des Prozessrechts widersprechende Gesetzesanwendung auf Null
zu reduzieren und sie faktisch zu zwingen, eine derartige Erklärung bereits
mit der Einreichung der Strafanzeige abzugeben. Dies ist überspitzt
formalistisch.

3.3 Mit der Einreichung einer Strafanzeige ist regelmässig die Erwartung
verbunden, dass die Strafverfolgungsbehörden aktiv werden und eine
Strafuntersuchung einleiten. Wer sich mit einer Strafanzeige exponiert und
sich freiwillig den mit einem Strafverfahren auch für die Geschädigte zu
erwartenden Unannehmlichkeiten aussetzt, hat in der Regel ein persönliches
Interesse am Verfahren, das das allgemeine Bürgerinteresse an einer
lückenlosen Strafverfolgung übersteigt. Im Einreichen einer Strafanzeige
liegt daher grundsätzlich immer ein starkes Indiz dafür, dass sich die
Anzeigerin am Verfahren beteiligen und Parteirechte ausüben will. Solange die
Geschädigte nicht ausdrücklich oder konkludent ihr Desinteresse erklärt hat,
muss der Untersuchungsrichter daher damit rechnen, dass sie sich vorbehält,
sich als Privatklägerin zu konstituieren. Er ist diesfalls nach Treu und
Glauben verpflichtet, sie vor einer allfälligen Einstellung des Verfahrens
anzufragen, ob sie Parteirechte beansprucht oder nicht.

3.4 Dies gilt um so mehr in einem Fall wie hier, wo sich die
Anzeigeerstatterin nicht mit dem blossen Einreichen einer Strafanzeige
begnügte. Sie reichte vielmehr eine Rechtsschrift, ein Beweismitteldossier
und ein auf eigene Kosten erstelltes Parteigutachten ein. Damit hat sie einen
erheblichen Aufwand betrieben und sich von Anfang an wie eine
Verfahrenspartei benommen. Für den Untersuchungsrichter konnte unter diesen
Umständen kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass sie sich eine
Konstituierung als Privatklägerin zumindest vorbehalten wollte. Er hat Art. 9
BV verletzt, indem er das Verfahren einstellte, ohne die Anzeigeerstatterin
anzufragen, ob sie Parteirechte beanspruche.
Die Anklagekammer ihrerseits ist in überspitzten Formalismus verfallen und
hat im Ergebnis eine formelle Rechtsverweigerung begangen (Art. 29 Abs. 1
BV), indem sie die in der Rekursschrift enthaltene Erklärung der
Beschwerdeführerin, sich als Privatklägerin konstituieren zu wollen, als
verspätet zurückwies und auf den Rekurs mangels Legitimation nicht eintrat
(vgl. BGE 119 Ia 4 E. 2, unveröffentlichter Entscheid 1P.199/2002 vom 13.
Juni 2002, E. 2). Die Beschwerdeführerin hat dieses Vorgehen zu Recht gerügt.
Unter diesen Umständen braucht nicht geprüft zu werden, ob die Geschädigte im
Sinne des OHG Opfer ist, welches auch ohne Konstituierung als Privatklägerin
Parteirechte ausüben könnte.

4.
Die Beschwerde ist damit gutzuheissen und der angefochtene Entscheid
aufzuheben. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, auf die Erhebung von
Kosten zu verzichten. Hingegen hat der Kanton Bern die Beschwerdeführerin für
das bundesgerichtliche Verfahren zu entschädigen.

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der angefochtene Entscheid der
Anklagekammer vom 7. Januar 2004 aufgehoben.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Der Beschwerdeführerin wird für das bundesgerichtliche Verfahren eine
Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zu Lasten des Kantons Bern zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Untersuchungsrichter 1 des
Untersuchungsrichteramtes III Bern-Mittelland, dem Prokurator 1 der
Staatsanwaltschaft III Bern-Mittelland und der Anklagekammer des Obergerichts
des Kantons Bern schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 28. Mai 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: