Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1A.73/2004
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1A.73/2004 /gij

Urteil vom 6. Juli 2004

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesgerichtspräsident Aemisegger, Präsident,
Bundesrichter Aeschlimann, Féraud,
Gerichtsschreiberin Gerber.

X. ________, Beschwerdeführer 1
Y.________, Beschwerdeführer 2,
beide vertreten durch Advokat Dr. Beat Schultheiss,

gegen

Einwohnergemeinde Binningen, Curt Goetzstrasse 1, 4102 Binningen,
Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft, Regierungsgebäude, Rathausstrasse
2, 4410 Liestal,
Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht,
Poststrasse 3, Postfach 635, 4410 Liestal.

Verkehrspolizeiliche Anordnung Paradiesstrasse/Neubadrain, Binningen;
Lärmschutzverordnung,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, vom 4. Februar
2004.
Sachverhalt:

A.
Mit verkehrspolizeilicher Anordnung vom 24. Mai 2003 verfügte die Justiz-,
Polizei- und Militärdirektion zusammen mit der Bau- und Umweltschutzdirektion
des Kantons Basel-Landschaft die Reduktion der Geschwindigkeit auf dem
Strassenzug Paradiesstrasse/Neubadrain in Binningen, vom Kronenplatz bis zur
Kantonsgrenze Basel-Stadt, von bisher 50 km/h auf neu 40 km/h. Mit der
Geschwindigkeitsbegrenzung soll die Lärmbelastung des Strassenzugs reduziert
werden.

B.
Gegen diese Anordnung erhoben X.________ und Y.________ gemeinsam Beschwerde
beim Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft. Am 21. Oktober 2003 wies der
Regierungsrat die Beschwerde ab, weil die Voraussetzungen zur Anordnung einer
verkehrspolizeilichen Massnahme nach Artikel 3 Abs. 4 des
Strassenverkehrsgesetzes vom 19. Dezember 1958 (SVG) erfüllt seien und die
Senkung der Höchstgeschwindigkeit auf 40 km/h zweck- und verhältnismässig
sei.

C.
Gegen diesen Beschluss erhoben X.________ und Y.________ gemeinsam Beschwerde
ans Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und
Verwaltungsrecht. Nach Durchführung einer Parteiverhandlung trat das
Kantonsgericht am 4. Februar 2004 auf die Beschwerde mangels Legitimation der
Beschwerdeführer nicht ein.

D.
Dagegen erheben X.________ und Y.________ gemeinsam
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht. Sie beantragen, das
angefochtene Urteil sei aufzuheben, es sei ihre Beschwerdelegitimation
festzustellen und die Sache zu materieller Beurteilung an das Kantonsgericht
zurückzuweisen. Mit separater Eingabe vom 30. März 2004 beantragen die
Beschwerdeführer, ihrer Beschwerde sei aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.

E.
Der Regierungsrat, die Gemeinde Binningen und das Eidgenössische Departement
für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) beantragen Abweisung
der Beschwerde. Das Kantonsgericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

F.
Mit Verfügung vom 10. Mai 2004 wurde das Gesuch der Beschwerdeführer um
Gewährung der aufschiebenden Wirkung abgewiesen.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Angefochten ist ein Nichteintretensentscheid des Kantonsgerichts
Basel-Landschaft, einer kantonal letzten Instanz. In der Sache geht es um
eine auf Art. 3 Abs. 4 SVG gestützte Verkehrsanordnung. Art. 100 lit. l Ziff.
1 OG, der die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen Massnahmen der örtlichen
Verkehrsregelung ausschloss, wurde mit der Änderung des
Strassenverkehrsgesetzes vom 14. Dezember 2001 (in Kraft seit dem 1. Januar
2003; AS 2002 S. 2767) aufgehoben. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann
auch geltend gemacht werden, das Kantonsgericht habe die Legitimation der
Beschwerdeführer zu Unrecht verneint und damit Art. 98a Abs. 3 OG verletzt
und die Anwendung von Bundesrecht vereitelt (BGE 127 II 264 E. 1a S. 267; 123
I 275 E. 2c S. 277 mit Hinweisen).

Die Beschwerdeführer sind als Parteien des kantonalen Verfahrens zur Rüge
legitimiert, auf ihre Beschwerde sei zu Unrecht nicht eingetreten und ihnen
sei damit das Recht verweigert worden.

Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher einzutreten.

1.2 Mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das Bundesgericht können die
Verletzung von Bundesrecht - einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch
des Ermessens - und die unrichtige oder unvollständige Feststellung des
rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden (Art. 104 lit. a und b OG). Hat
allerdings - wie im vorliegenden Fall - eine richterliche Behörde als
Vorinstanz entschieden, ist das Bundesgericht an den festgestellten
Sachverhalt gebunden, es sei denn, dieser sei offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden (Art. 105 Abs. 2 OG). Neue tatsächliche Behauptungen und
Beweismittel sind nur soweit zulässig, als sie die Vorinstanz von Amtes wegen
hätte erheben müssen und deren Nichterheben eine Verletzung wesentlicher
Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 128 III 454 E. 1 S. 457 mit Hinweisen).

2.
Die kantonalen Gerichte, gegen deren Entscheide die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht zulässig ist, müssen
Beschwerdelegitimation und Beschwerdegründe mindestens im gleichen Umfang wie
für die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ans Bundesgericht gewährleisten (Art.
98a Abs. 3 OG).

2.1 Zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist berechtigt, wer durch die
angefochtene Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren
Aufhebung oder Änderung hat ( Art. 103 lit. a OG). Dieses Interesse kann
rechtlicher oder auch bloss tatsächlicher Natur sein und braucht mit dem
Interesse, das durch die vom Beschwerdeführer als verletzt bezeichneten
Normen geschützt wird, nicht übereinzustimmen. Immerhin wird verlangt, dass
der Beschwerdeführer durch den angefochtenen Entscheid stärker als jedermann
betroffen ist und in einer besonderen, beachtenswerten, nahen Beziehung zur
Streitsache steht. Diese Anforderungen sollen die Popularbeschwerde
ausschliessen. Das geforderte Interesse besteht im praktischen Nutzen, den
die erfolgreiche Beschwerde dem Beschwerdeführer eintragen soll, das heisst
in der Abwendung eines materiellen oder ideellen Nachteils, den der
angefochtene Entscheid für ihn zur Folge hätte (BGE 121 II 176 E. 2a S. 177
f. mit zahlreichen Hinweisen; 116 Ib 321 E. 2a S. 323 f.; 113 Ib 225 E. 1c S.
228; 112 Ib 154 E. 3 S. 158 f.).
2.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesrats, der bis zum 31. Dezember 2002 für
Beschwerden gegen Massnahmen der örtlichen Verkehrsregelung zuständig war,
ist die Legitimation zu bejahen, wenn ein Verkehrsteilnehmer die mit einer
Beschränkung belegte Strasse mehr oder weniger regelmässig benützt (VPB 55.32
E. 4b S. 304; 53.26 E. 6c S. 174 f. mit Hinweisen).

Vorausgesetzt wird eine gewisse Häufigkeit der Fahrten; diese ist nach dem
Bundesrat zu bejahen, wenn die Fahrten über eine längere Zeitspanne und in
gleichmässigen, eher kurzen zeitlichen Abständen durchgeführt werden. Diese
Voraussetzung beurteile sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls:
Ein schutzwürdiges Anfechtungsinteresse sei in der Regel gegeben, wenn die
Massnahme eine Strasse betrifft, die der Beschwerdeführer als Anwohner oder
Pendler befährt, denn hier dürfe mit gutem Grund angenommen werden, dass er
diese regelmässig und über eine längere Zeitspanne hinweg benütze. Hingegen
sei ein solches Interesse zu verneinen, wenn ein Be           troffener die
Strecke lediglich gelegentlich befahre, zum Beispiel zum Einkauf in einem
entfernter gelegenen Einkaufszentrum (VPB 55.32 E. 4b S. 304).

2.3 Die bundesrätliche Praxis stellte auf die effektive Benützung der Strasse
ab; nicht verlangt wurde, dass der Beschwerdeführer die Strecke befahren
müsse, d.h. zwingend auf die Befahrung des betreffenden Strassenabschnitts
angewiesen sei. Eine Verschärfung der Praxis in diesem Sinne wurde auch in
dem - insoweit missverständlich formulierten - Entscheid VPB 61.22 (E. 1d S.
198) nicht beabsichtigt, wie das UVEK in seiner Vernehmlassung bestätigt hat.

Das Kantonsgericht hat eine solche Praxisänderung befürwortet, d.h. es ging
davon aus, die Beschwerdeführer müssten darlegen, dass sie auf die Benützung
des betroffenen Strassenzuges angewiesen seien (angefochtener Entscheid E. 5b
S. 9f.; kritisch zur weiten bundesrätlichen Praxis auch Tobias Jaag,
Verkehrsberuhigung im Rechtsstaat, ZBl 87/1986 S. 289 ff., insbes. S. 302).

Es erscheint in der Tat fraglich, ob ein schützenswertes Interesse an der
Aufhebung einer Geschwindigkeitsbegrenzung besteht, wenn die Beschwerdeführer
die für den Durchgangsverkehr vorgesehene und in etwa gleich lange
Hauptstrasse benützen können, um ohne Geschwindigkeitsbegrenzung zwischen
ihren Ausgangs- und Zielorten hin- und herzufahren. Der praktische Nutzen
ihrer Beschwerde beschränkt sich in diesem Fall auf einen geringfügigen
Zeitgewinn (23 Sekunden nach Schätzung der Gemeinde).

Die Frage kann jedoch im vorliegenden Fall offen bleiben, weil das
Kantonsgericht die Legitimation der Beschwerdeführer auch nach der bisherigen
Praxis verneint hat.

3.
Die Beschwerdeführer haben zur Begründung ihrer Legitimation im
bundesgerichtlichen Verfahren neue Tatsachen über ihre Fahrgewohnheiten
vorgebracht. Diese können nach dem oben (E. 1.2) Gesagten nur berücksichtigt
werden, wenn sie die Vorinstanz von Amtes wegen hätte erheben müssen und
deren Nichterheben eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften
darstellt.

Grundsätzlich ist die besondere, beachtenswerte Beziehungsnähe zur
Streitsache vom Beschwerdeführer selbst darzulegen, da sich die
Begründungspflicht auch auf die Frage der Beschwerdebefugnis erstreckt (BGE
120 Ib 431 E. 1 S. 433 mit Hinweis; VPB 61.22 E. 1c S. 197). Dies gilt, wie
das Kantonsgericht dargelegt hat und die Beschwerdeführer nicht bestritten
haben, auch für das kantonale Beschwerdeverfahren (angefochtener Entscheid E.
5a S. 8). Das Gericht ist somit in der Regel nicht verpflichtet, die zur
Prüfung der Legitimation erforderlichen Tatsachen von Amtes wegen zu erheben.

Daran ändert auch der Umstand nichts, dass die Legitimation der
Beschwerdeführer vom Regierungsrat anerkannt worden war. Das Kantonsgericht
musste die Legitimation der Beschwerdeführer von Amtes wegen überprüfen (§ 16
Abs. 2 des Gesetzes über die Verfassungs- und Verwaltungsprozessordnung vom
16. Dezember 1993 [VPO]) und war dabei an die Rechtsauffassung des
Regierungsrats nicht gebunden. Die Gemeinde Binningen hatte sowohl vor
Regierungsrat als auch vor Kantonsgericht beantragt, auf die Beschwerde sei
mangels Legitimation der Beschwerdeführer nicht einzutreten. Die
Beschwerdeführer bzw. deren Rechtsvertreter wussten somit, dass ihre
Legitimation umstritten war. Sie hätten deshalb Anlass gehabt, in ihrer
Beschwerdeschrift oder spätestens in der Parteiverhandlung Ausführungen zu
Anlass und Häufigkeit ihrer Fahrten auf dem Strassenzug
Paradiesstrasse/Neubadrain zu machen.

4. Nach dem Gesagten ist die Legitimation der Beschwerdeführer
ausschliesslich anhand ihrer Angaben im kantonalen Verfahren zu beurteilen.

4.1 Der Beschwerdeführer 1 hatte zur Begründung seiner Legitimation
vorgebracht, er befahre den Strassenzug Paradiesstrasse/Neubadrain in
Binningen regelmässig, um von seinem Wohnort in Basel zu seiner Landparzelle
in Biel-Benken zu gelangen. Er machte jedoch keine Angaben über die
Häufigkeit und den genauen Zweck der Fahrten bzw. die Natur der Landparzelle.
Auf Frage des Gerichts an der Parteiverhandlung führte der Rechtsvertreter
der Beschwerdeführer aus, die Landparzelle werde "das Ländle" genannt und
diene dem Beschwerdeführer 1 und seiner Familie zur Erholung, wenn sie "ins
Grüne" wollten.

Das Kantonsgericht entnahm diesen Ausführungen, dass es sich nicht um einen
Schrebergarten handle, der regelmässig gepflegt werden müsse. Aufgrund der
spärlichen Angaben des Beschwerdeführers könne nicht beurteilt werden, ob
dieser lediglich in der wärmeren Jahreszeit zu seiner Landparzelle in
Biel-Benken fahre und ob er dies jedes Wochenende mache. Das Gericht gelangte
deshalb zum Schluss, der Beschwerdeführer habe nicht ausreichend dargetan,
dass er den mit der Verkehrsbeschränkung belegten Strassenzug regelmässig
befahre und dass die Fahrten über eine längere Zeitspanne und in
gleichmässigen, eher kurzen zeitlichen Abständen durchgeführt würden
(angefochtener Entscheid E. 5a/aa S. 8 f.).
Diese Erwägungen lassen keinen Rechtsfehler erkennen.

4.2 Der Beschwerdeführer 2 wohnt in Bottmingen. Er machte im kantonalen
Verfahren geltend, er benutze den Strassenzug Paradiesstrasse/Neubadrain in
Binningen regelmässig auf dem Weg zum "Einkaufs-Paradies" in Allschwil. Auch
er machte keine Angaben über die näheren Umstände und die Häufigkeit dieser
Fahrten, weshalb das Kantonsgericht zum Ergebnis kam, er habe seine
Beschwerdeberechtigung nicht genügend dargetan; der allgemeine Hinweis, er
gehe ins "Einkaufs-Paradies" in Allschwil einkaufen, genüge keineswegs
(angefochtener Entscheid E. 5a/ab S. 9).

Auch diese Ausführungen lassen keine Verletzung von Bundesrecht erkennen und
entsprechen der bisherigen Praxis des Bundesrats (vgl. oben, E. 2.2).

5.
Nach dem Gesagten ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abzuweisen. Bei
diesem Ausgang des Verfahrens tragen die Beschwerdeführer die Gerichtskosten
und haben keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 156 und 159 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtsgebühr von Fr. 3'000.-- wird den Beschwerdeführern auferlegt.

3.
Es werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Beschwerdeführern, der Einwohnergemeinde Binningen,
dem Regierungsrat und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung
Verfassungs- und Verwaltungsrecht, sowie dem Eidgenössischen Departement für
Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 6. Juli 2004

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Die Gerichtsschreiberin: