Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

I. Öffentlich-rechtliche Abteilung 1A.157/2004
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1A.157/2004 /ggs

Urteil vom 25. Februar 2005

I. Öffentlichrechtliche Abteilung

Bundesrichter Féraud, Präsident,
Bundesrichter Nay, Fonjallaz,
Gerichtsschreiber Störi.

X. ________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Advokat Dr. iur. Axel
Delvoigt,

gegen

Kanton Zürich,
vertreten durch die Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich,
Kantonale Opferhilfestelle,
Kaspar Escher-Haus, Postfach, 8090 Zurich,
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer, Postfach 441, 8401
Winterthur.

Opferhilfe,

Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen das Urteil des
Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich, II. Kammer, vom 24. Mai 2004.

Sachverhalt:

A.
X. ________ reichte am 21. Oktober 1997 bei der Opferhilfestelle der
Direktion der Justiz des Kantons Zürich ein Gesuch um finanzielle Leistungen
ein. Sie machte geltend, am 20. Juli 1996 überfallen und vergewaltigt worden
zu sein. Ihre Forderungen begründete sie auf dem vorgedruckten Formular wie
folgt (Handschrift von X.________ kursiv):
"5.Schaden/Kosten:
Ich mache folgende Leistungen für Schäden, die mir direkt durch das Delikt
entstanden sind, geltend:
Art  Betrag
Durch Kranken- resp. Unfallversicherung nicht
gedeckte Therapiekosten
Betrag noch offen
Kuraufenthalt Monte Vuala  Fr. 570.--"
"7.Genugtuung
Höhe der verlangten Genugtuung: Fr. 25'000.--
Welche Gründe sprechen für eine Genugtuung ?"
die besondere Brutalität, ich wurde mit einem Messer bedroht und im Gesicht
verletzt - die Narbe ist noch heute sichtbar
nach der Vergewaltigung litt ich an massiven Angstzuständen und ich leide
noch heute an Schlaflosigkeit, immer wiederkehrenden Bildern der Tat
seit der Tat habe ich immer wieder Phasen, in denen ich starke
Selbstmordgedanken habe"
Zu ihren Einkommens- und Vermögensverhältnissen gab sie an, als Studentin von
ihren Eltern mit Fr. 1'000.-- pro Monat unterstützt zu werden und Fr. 410.--
Mietzins zu bezahlen.
Am 23. Juli 2001 verfügte die Kantonale Opferhilfestelle:
"1. Das Gesuch um Vergütung weiterer Kosten wird im Umfange von Fr.
1'396.-- (Fr. 342.-- für den Kuraufenthalt im Monte Vuala und Fr. 1'053.60
für ungedeckte Therapiekosten) gutgeheissen; im Mehr- betrag wird das
Gesuch abgewiesen."
Mit Verfügung vom 4. Oktober 2001 sprach die Kantonale Opferhilfestelle
X.________ zudem eine Genugtuung von Fr. 10'000.-- zu.

Am 10. Oktober 2003 beantragte die nunmehr anwaltlich vertretene X.________
bei der Opferhilfestelle, ihr "Kostengutsprache für die anwaltliche
Begleitung bei der Durchsetzung ihrer Forderungen gegenüber der IV und der
Opferhilfestelle zu gewähren". Sie sei noch heute weitgehend erwerbsunfähig
und beziehe Sozialhilfe. Das genaue Ausmass der Erwerbsunfähigkeit, die
zumindest teilweise auf die Straftat zurückzuführen sei, sei Gegenstand der
Abklärungen der IV. Sobald die Verfügung der IV vorliege, würde der
verbleibende Schaden berechnet und bei der Opferhilfestelle geltend gemacht.

Mit Verfügung vom 7. November 2003 gewährte die Kantonale Opferhilfestelle
X.________ eine Kostengutsprache für ihre Rechtsvertretung gegenüber der
Eidgenössischen Invalidenversicherung und hiess ihr Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege und Verbeiständung im Opferhilfeverfahren gut. Ihr Gesuch um
Ausrichtung einer Entschädigung für Erwerbsausfall wies sie ab. Sie erwog,
innerhalb der zweijährigen Verwirkungsfrist von Art. 16 Abs. 3 OHG sei kein
entsprechendes Gesuch eingegangen: Aus der Eingabe vom 21. Oktober 1997 lasse
sich kein Antrag auf Erwerbsausfall ableiten, und während des gesamten, sich
über rund vier Jahre hinziehenden Opferhilfeverfahrens habe X.________ weder
ausdrücklich um die Auszahlung einer Erwerbsausfallentschädigung ersucht noch
wenigstens auf eine Arbeitsunfähigkeit hingewiesen; auch ihre
Psychotherapeutin habe in ihren Berichten vom 22. September 1998 und vom 21.
September 2001 mit keinem Wort erwähnt, X.________ sei (teilweise)
arbeitsunfähig.

Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wies die Beschwerde von
X.________ gegen diese Verfügung der Kantonalen Opferhilfestelle ab.

B.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 25. Juni 2004 beantragt X.________,
diesen Entscheid des Sozialversicherungsgerichts aufzuheben und ihr Gesuch
auf Ausrichtung einer noch zu beziffernden Entschädigung gestützt auf Art. 11
OHG gutzuheissen. Ausserdem ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege und
Verbeiständung.

C.
Die Opferhilfestelle beantragt in ihrer Vernehmlassung, die Beschwerde
abzuweisen. Das Bundesamt für Justiz verzichtet darauf, sich vernehmen zu
lassen. Das Sozialversicherungsgericht verzichtet auf Vernehmlassung.

In ihrer Replik hält X.________ an der Beschwerde fest. Die Opferhilfestelle
und das Sozialversicherungsgericht verzichten auf Vernehmlassung.

Das Bundesgericht zieht in Erwägung:

1.
Das Sozialversicherungsgericht hat als letzte kantonale Instanz (Art. 98 lit.
g OG) das auf das Opferhilfegesetz gestützte Gesuch der Beschwerdeführerin um
Erwerbsausfallentschädigung abgewiesen; dagegen ist die
Verwaltungsgerichtsbeschwerde zulässig (BGE 125 II 230 E. 1; 122 II 211 E.
1). Die Beschwerdeführerin, deren Entschädigungsbegehren im kantonalen
Verfahren abgewiesen wurde, ist nach Art. 103 lit. a OG befugt, eine solche
zu erheben. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen
Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.

2.
Das Sozialversicherungsgericht geht im angefochtenen Entscheid davon aus,
dass die Beschwerdeführerin erstmals am 10. Oktober 2003 und damit nach
Ablauf der zweijährigen Verwirkungsfrist von Art. 16 Abs. 3 OHG ein Gesuch um
Erwerbsausfallentschädigung stellte, weshalb diesem wegen Verspätung nicht
entsprochen werden könne (E. 2 des angefochtenen Entscheids).

Die Beschwerdeführerin macht geltend, an Entschädigungsgesuche im Sinne von
Art. 16 Abs. 3 OHG dürften keine hohen formellen Anforderungen gestellt
werden. Ihr am 21. Oktober 1997 und damit rechtzeitig eingereichtes
Entschädigungs- und Genugtuungsbegehren sei sinngemäss auch als Gesuch um
Erwerbsausfallentschädigung zu verstehen; zumindest wäre die kantonale
Opferhilfestelle auf Grund des im Opferhilfeverfahren nach Art. 16 Abs. 2 OHG
geltenden Untersuchungsgrundsatzes verpflichtet gewesen, von Amtes wegen
abzuklären, ob ein solcher Erwerbsausfallschaden eingetreten sei oder
einzutreten drohe. Auf jeden Fall habe sie mit der Einreichung ihres Gesuches
die Verwirkungsfrist von Art. 16 Abs. 3 OHG auch im Hinblick auf Schaden
durch zukünftigen Erwerbsausfall gewahrt.

3.
3.1 Nach Art. 16 Abs. 3 OHG muss das Opfer seine opferrechtlichen Ansprüche
binnen zweier Jahre nach der Tat stellen. Mit dieser kurzen Verwirkungsfrist
wollte der Gesetzgeber die Opfer dazu anhalten, sich rasch zu entscheiden, ob
sie entsprechende Ansprüche erheben wollen. Zudem soll damit sichergestellt
werden, dass der Entscheid der Opferhilfebehörde möglichst bald erfolgen
kann, in einem Zeitpunkt, in dem die genauen Umstände der Straftat noch
eruierbar sind. Ferner ist auch dem berechtigten Interesse des
entschädigungspflichtigen Kantons Rechnung zu tragen, allfällige
Regressforderungen gegenüber dem Täter rechtzeitig, vor Ablauf der
Verjährung, anzubringen (BGE 126 II 348 E. 2c/aa mit Hinweisen).

3.2 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sind vorsorgliche,
unbezifferte Entschädigungs- und Genugtuungsbegehren zur Fristwahrung
zulässig, soweit der Schaden oder allfällige Leistungspflichten Dritter
innert der zweijährigen Verwirkungsfrist nicht feststehen. Allerdings kann
und muss vom Opfer verlangt werden, dass es - soweit zumutbar - diejenigen
Angaben macht, die der Behörde erlauben, den Sachverhalt und die
Anspruchsberechtigung näher abzuklären. Zwar hat die Behörde den Sachverhalt
von Amtes wegen festzustellen (Art. 16 Abs. 2 OHG); dies schliesst jedoch
eine Mitwirkungspflicht der Gesuchstellerin nicht aus: Insbesondere muss das
Opfer den anspruchsbegründenden Sachverhalt mit hinreichender Bestimmtheit
darlegen und der Behörde diejenigen Angaben liefern, die ihr erlauben,
weitere Erkundigungen einzuziehen (BGE 126 II 97 E. 2e und f, mit Hinweisen).
Ob das Opfer seiner Mitwirkungspflicht genügt hat und ob sein fristwahrendes
vorsorgliches Gesuch genügend substanziiert ist, ist im Einzelfall, unter
Berücksichtigung von Sinn und Zweck der Verwirkungsfrist sowie dem
verfassungsrechtlichen Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 5 Abs. 3 BV) zu
prüfen.

4.
4.1 Die Beschwerdeführerin wurde am 20. Juli 1996 Opfer einer Vergewaltigung.
Die physischen (Schnitt im Gesicht) und vor allem auch die hier zur
Diskussion stehenden psychischen Tatfolgen (Traumata, massive Angstzustände,
Selbstmordgedanken) traten bereits unmittelbar nach dem Übergriff auf. Anders
als im in BGE 126 II 348 zu beurteilenden Fall, in welchem erst nach Ablauf
der Verwirkungsfrist festgestellt wurde, dass das Vergewaltigungsopfer mit
dem HI-Virus angesteckt wurde und an AIDS erkrankte, steht damit ausser
Frage, dass die Verwirkungsfrist nach dem klaren Gesetzeswortlaut durch die
Straftat am 20. Juli 1996 in Gang gesetzt wurde.

4.2 Die Beschwerdeführerin wurde bereits am Tag nach dem Überfall von einer
Mitarbeiterin der Sunestube der Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber beraten und
in der psychiatrischen Klinik Schlössli ärztlich betreut. Die Beratung wurde
anschliessend von der Beratungsstelle für Frauen (Nottelefon) übernommen. Ab
November 1996 begab sie sich in eine psychotherapeutische Behandlung in der
psychoanalytischen Praxis von Dr. A.________ und B.________. Damit ist davon
auszugehen, dass sie am 21. Oktober 1997, als sie ihr Entschädigungs- und
Genugtuungsbegehren stellte, sowohl über ihre opferrechtlichen Ansprüche als
auch über die durch Straftat verursachten psychischen Probleme und die
dadurch bewirkten und zu erwartenden Schäden ausreichend informiert war.
Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin war das von ihr ausgefüllte
Formular keineswegs irreführend; es enthält zwar in der Rubrik "5.
Schaden/Kosten" keinen ausdrücklichen Hinweis darauf, dass auch zukünftig zu
erwartende Kosten aufgeführt werden können. Es kann offen bleiben, ob das
Formular mit einem derartigen Hinweis ergänzt werden sollte. Der
Beschwerdeführerin war dies jedenfalls klar, hat sie doch die Kosten für ihre
laufende Therapie nicht beziffert ("Betrag noch offen") und damit zum
Ausdruck gebracht, dass sie die ihr verbleibenden Restkosten der Therapie
auch für die Zukunft geltend machen will.

4.3 Dem (im Sachverhalt ausschnittweise wiedergegebenen) Gesuch lässt sich
weder ausdrücklich noch sinngemäss entnehmen, dass die Beschwerdeführerin
Erwerbsausfallentschädigung beanspruchen möchte. Sie machte lediglich nicht
gedeckte Therapiekosten und einen Kuraufenthalt als Schaden geltend. Mit
keinem Wort legt sie dar oder deutet auch nur an, dass sie in ihrer
Fähigkeit, das Studium wie bisher fortzusetzen und damit auch in ihrer
zukünftigen Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sein könnte, was ausgereicht
hätte, um als fristwahrendes Begehren um eine Erwerbsausfallentschädigung
entgegengenommen zu werden. Auch wenn an ein die Frist von Art. 16 Abs. 3 OG
wahrendes Entschädigungsgesuch keine hohen formellen Anforderungen gestellt
werden dürfen, so muss vom Opfer doch verlangt werden, in seinem Gesuch - und
sei es auch auf laienhafte Weise - darzutun, was für Schädigungen es durch
die Straftat erlitten hat und was für Kosten ihm deswegen angefallen sind und
mutmasslich noch anfallen werden. Der im Opferhilfeverfahren geltende
Untersuchungsgrundsatz verpflichtet die Opferhilfestelle nur, den Sachverhalt
im Rahmen der vom Opfer gestellten Begehren von Amtes wegen abzuklären. Eine
Verpflichtung, nach weiteren Schäden zu suchen, die vom Opfer weder geltend
gemacht werden noch sich aus seiner Sachverhaltsdarstellung ergeben, trifft
sie nicht.

4.4 Die Opferhilfestelle hat im Übrigen die sachdienlichen
Sachverhaltsabklärungen durchaus vorgenommen und dazu unter anderem bei Dr.
A.________ und B.________ den Therapiebericht vom 10. August 1998 sowie bei
B.________ einen weiteren Bericht vom 22. September 2001 eingeholt. Keiner
der beiden Berichte bescheinigt der Beschwerdeführerin, dass sie in ihrer
Erwerbsfähigkeit eingeschränkt sei oder diese in Zukunft als Spätfolge der
Straftat ganz oder teilweise verlieren könnte.

4.5 Das Sozialversicherungsgericht hat somit keineswegs Bundesrecht verletzt,
indem es befand, das Entschädigungs- und Genugtuungsgesuch der
Beschwerdeführerin vom 21. Oktober 1997 enthalte kein Begehren um
Erwerbsausfallentschädigung und sei damit in dieser Hinsicht auf einen
derartigen Entschädigungsanspruch nicht fristwahrend im Sinn von Art. 16 Abs.
3 OHG. Es beurteilte somit das am 10. Oktober 2003 gestellte Begehren um
Erwerbsausfallentschädigung zu Recht als verspätet. Die Beschwerde ist
unbegründet.

5.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist demnach abzuweisen. Das Verfahren
betreffend Entschädigung und Genugtuung nach Opferhilfegesetz ist kostenlos
(Art. 16 OHG), was auch für das Beschwerdeverfahren vor Bundesgericht gilt
(BGE 122 II 211 E. 4b S. 219). Insoweit ist das Gesuch um unentgeltliche
Prozessführung gegenstandslos. Hingegen ist das Gesuch der Beschwerdeführerin
um unentgeltliche Verbeiständung gutzuheissen, da ihre Prozessarmut
ausgewiesen ist und die Beschwerde nicht aussichtslos war (Art. 152 OG).

Demnach erkennt das Bundesgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Kosten erhoben.

3.
Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wird gutgeheissen und Advokat Dr.
Axel Delvoigt als unentgeltlicher Rechtsvertreter eingesetzt und mit Fr.
1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.

4.
Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Direktion der Justiz und des
Innern sowie dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, II. Kammer,
und dem Bundesamt für Justiz schriftlich mitgeteilt.

Lausanne, 25. Februar 2005

Im Namen der I. öffentlichrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts

Der Präsident:  Der Gerichtsschreiber: