Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 91/2003
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U 91/03

Urteil vom 19. November 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Jancar

T.________, 1947  Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Alex Beeler,
Frankenstrasse 3, 6003 Luzern,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 17. März 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1947 geborene T.________ arbeitete seit 29. September 1997 als Maurer bei
der Firma D.________ AG, und war damit bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) unfallversichert. Am 17. Oktober 1997
morgens erlitt er einen Unfall, als ihm eine Schneidbrenneranlage beim
Aufladen auf einen Lieferwagen auf die rechte Hals- und Kopfseite fiel. Nach
einer ca. 10minütigen Pause setzte er seine Arbeit trotz Schmerzen im Nacken
und im rechten Ellbogen bis am Abend fort. Seit 18. Oktober 1997 arbeitete er
wegen der aufgetretenen Beschwerden nicht mehr und begab sich am 20. Oktober
1997 zu Dr. med. B.________, Allgemeine Medizin FMH, in Behandlung. Dieser
diagnostizierte eine Distorsion im Bereich der Halswirbelsäule (HWS), eine
Schädelprellung mit Exkoriationen sowie eine Kontusion des rechten Ellbogens.
Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen (Heilbehandlung und Taggeld).
Frau Dr. med. W.________, physikalische Medizin FMH speziell
Rheumaerkrankungen, diagnostizierte am 20. Dezember 1997 einen Status nach
schwerer HWS-Distorsion mit direkter Gewalteinwirkung auf rotierte HWS am 17.
Oktober 1997 mit unklarem Drehschwindel, spondylogener Symptomatik, DD:
radikuläre Reizung möglich, sowie Kontusion der rechtsseitigen
Halsmuskulatur. Am 17. Januar 1998 wies sie auf eine allfällige psychische
Überlagerung hin. Am 29. Januar 1998 wurde der Versicherte otoneurologisch
bei Dr. med. H.________, abgeklärt. Vom 19. August bis 16. September 1998 war
er in der Klinik X.________ hospitalisiert. Seit 13. April 1999 war er beim
Psychiater Dr. med. V.________ in Behandlung. Vom 17. August bis 9. September
1999 hielt er sich in der Klinik C.________ auf. Am 28. Juni 2000 fand eine
neuropsychologische Untersuchung in der Klinik X.________ statt. Am 12. Juli
2000 wurde der Versicherte wegen chronischen Kopfschmerzen, Schwindel,
Gleichgewichtsstörungen, Verschwommensehen und Photophobie notfallmässig im
Spital Y.________ behandelt. Nach Beizug weiterer Arztberichte stellte die
SUVA ihre Leistungen mit Verfügung vom 17. Oktober 2000 per 31. Oktober 2000
ein. Zur Begründung wurde ausgeführt, es bestünden keine
behandlungsbedürftigen Unfallfolgen mehr. Die jetzt noch geklagten
Beschwerden seien organisch als Unfallfolgen nicht mehr erklärbar. Eine
allfällig noch bestehende Arbeitsunfähigkeit und Behandlungsbedürftigkeit
seien psychisch bedingt und stünden mit dem Unfall nicht in einem adäquaten
Kausalzusammenhang. Dagegen erhob der Versicherte Einsprache. Vom 14.
Dezember 2000 bis 5. Januar 2001 war er in der Psychiatrischen Klinik des
Spitals Y.________ hospitalisiert. Mit Entscheid vom 22. Februar 2001 wies
die SUVA die Einsprache ab.

B.
Hiegegen erhob der Versicherte am 14. Mai 2001 beim Verwaltungsgericht des
Kantons Luzern Beschwerde. Am 19. Juli 2001 erstattete das Spital Y.________
zu Handen der IV-Stelle Luzern eine psychiatrische Expertise. Die IV-Stelle
Luzern sprach dem Versicherten ab 1. Oktober 1998 bei einem Invaliditätsgrad
von 100 % eine ganze Invalidenrente zu. Das kantonale Gericht wies die
Beschwerde nach Beizug der IV-Akten mit Entscheid vom 17. März 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt der Versicherte, in Aufhebung des
kantonalen Entscheides seien ihm die gesetzlichen Leistungen nach UVG aus dem
Unfall vom 17. Oktober 1997 zu entrichten; die SUVA habe die Heilkosten und
ein Taggeld rückwirkend per 1. November 2000 zu übernehmen; sie habe ihn bei
einer Invalidität von 100 % zu berenten und ihm eine Integritätsentschädigung
bei einer Integritätseinbusse von mindestens 50 % auszurichten.

Das kantonale Gericht und die SUVA schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung
auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Grundsätze zu dem für die Leistungspflicht des
Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen
dem Unfall und dem eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod; BGE
123 V 45 Erw. 2b, 119 V 337 Erw. 1, 117 V 360 Erw. 4, je mit Hinweisen), zur
vorausgesetzten Adäquanz des Kausalzusammenhangs im Allgemeinen (BGE 127 V
102 Erw. 5b/aa, 125 V 461 Erw. 5a, je mit Hinweisen) sowie bei psychischen
Unfallfolgen (BGE 115 V 133 ff.), Folgen eines Unfalls mit Schleudertrauma
der Halswirbelsäule (HWS; BGE 117 V 359 ff.) bzw. einer diesem äquivalenten
Verletzung (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67  Erw. 2) oder mit Schädel-Hirntrauma
(BGE 117 V 369 ff.) ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle im
Besonderen zutreffend dargelegt. Gleiches gilt hinsichtlich der
Rechtsprechung zu den Fällen, in welchen die zum typischen Beschwerdebild
eines Schleudertraumas der HWS (bzw. einer äquivalenten Verletzung) oder
eines Schädel-Hirntraumas gehörenden Beeinträchtigungen zwar teilweise
gegeben sind, im Vergleich zur psychischen Problematik aber ganz in den
Hintergrund treten (BGE 127 V 103 Erw. 5b/bb, 123 V 99 Erw. 2a).
Beizupflichten ist im Weiteren den Erwägungen der Vorinstanz, dass das am 1.
Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom                       6. Oktober 2000 im
vorliegenden Fall nicht anwendbar ist (BGE 129 V 4 Erw. 1.2). Darauf wird
verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass die Adäquanz des Kausalzusammenhangs nur dann im Sinne
von BGE 123 V 99 Erw. 2a unter dem Gesichtspunkt einer psychischen
Fehlentwicklung nach Unfall zu beurteilen ist, wenn die psychische
Problematik bereits unmittelbar nach dem Unfall eindeutige Dominanz aufweist.
Wird die Rechtsprechung gemäss BGE 123 V 99 Erw. 2a in einem späteren
Zeitpunkt angewendet, ist zu prüfen, ob im Verlaufe der ganzen Entwicklung
vom Unfall bis zum Beurteilungszeitpunkt die physischen Beschwerden
gesamthaft nur eine sehr untergeordnete Rolle gespielt haben und damit ganz
in den Hintergrund getreten sind. Nur wenn dies zutrifft, ist die Adäquanz
nach der Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 133) zu
beurteilen (RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437 ff.).

Hinsichtlich des Beweiswerts eines Arztberichts ist entscheidend, ob er für
die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht,
auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten
(Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen
Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtet und ob die
Schlussfolgerungen des Experten begründet und nachvollziehbar sind (BGE 125 V
352       Erw. 3a; AHI 2001 S. 113 Erw. 3a).

2.
Streitig ist, ob die SUVA die Versicherungsleistungen zu Recht auf Ende
Oktober 2000 eingestellt hat.

2.1 Der Beschwerdeführer macht geltend, er habe sich beim Unfall vom 17.
Oktober 1997 ein mildes Schädel-Hirntrauma zugezogen.

Die Vorinstanz hat zutreffend erwogen, dass aufgrund der Wiederaufnahme der
Arbeit ca. zehn Minuten nach dem Unfall und der relativ geringen objektiven
Befunde anlässlich der Erstbehandlung durch     Dr. med. B.________ am 20.
Oktober 1997 (HWS-Distorsion mit allseits leicht eingeschränkter
HWS-Beweglichkeit, Schädelprellung mit abheilenden Exkoriationen an rechter
Stirne und linker Augenbraue, Kopfschmerzen, Kontusion des rechten Ellbogens,
Druckempfindlichkeit der oberen Brustwirbelsäule und des rechten Ellbogens)
nicht von einem schweren Unfall die Rede sein kann. Dies wird bekräftigt
durch das Röntgenbild vom 20. Oktober 1997 und das MRI vom 10. Dezember 1997,
die lediglich degenerative Veränderungen der HWS mit Streckhaltung bzw.
zusätzlich eine Muskelschwellung im Bereich des Musculus splenius capitis
rechts und Musculus trapezius rechts ohne abgrenzbare Hämatome sowie eine
leichte Kyphosierung im Segment C3/C4 ergaben. Das MRI des Schädels vom 13.
Januar 1998 zeigte einen unauffälligen Befund ohne Nachweis eines Hämatoms
oder einer sonstigen Pathologie. Weder in den Berichten der behandelnden
Ärztin Frau Dr. med. W.________ vom 20. Dezember 1997 sowie 17. und 31.
Januar 1998 noch im Rahmen der otoneurologischen Abklärung bei Dr. med.
H.________ (Berichte vom 29. Januar und 8. Juli 1998) noch im Bericht des
Kreisarzt-Stellvertreters Dr. med. Z.________, FMH für Chirurgie, vom 21.
Juli 1998 wurde auf die Möglichkeit einer traumatischen Hirnverletzung
hingewiesen. Wenn erstmals in den neuropsychologischen Berichten der Frau
Prof. Dr. med. J.________, Oberärztin Neurorehabilitation, Klinik X.________,
vom 11. September und 14. Dezember 1998 die Vermutung für eine milde
traumatische Hirnverletzung geäussert wurde, kann darauf unter den gegebenen
Umständen nicht abgestellt werden. Dies beruhte insbesondere auf einer
falschen Anamnese, nämlich der Annahme einer Bewusstlosigkeit bzw. Amnesie
des Versicherten von zehn bis fünfzehn Minuten. Denn sowohl der
erstbehandelnde Dr. med. B.________ als auch die beim Unfall anwesenden
Polier und L.________, Geschäftsführer der Arbeitgeberin, verneinten eine
Bewusstlosigkeit. Die beiden Letzteren gaben im Bericht vom 2. März 1998 an,
der Versicherte sei sicher nicht bewusstlos, sondern einen Moment geschockt
und etwas bleich gewesen. Er habe sich ca. zehn Minuten im Büro ausgeruht,
danach gesagt, dass es ihm gut ginge, und hernach den ganzen Tag
uneingeschränkt gearbeitet. Selbst wenn aber ein mildes Schädel-Hirntrauma
stattgefunden hätte, könnte der Beschwerdeführer daraus nichts zu seinen
Gunsten ableiten, da, wie aus den nachfolgenden Erwägungen hervorgeht, die
psychische Problematik eindeutig im Vordergrund steht. In diesem Zusammenhang
ist denn auch darauf hinzuweisen, dass Frau Prof. Dr. med. J.________ am 11.
September 1998 ebenfalls auf die im Vordergrund stehende psychoreaktive
Problematik hinwies und ausführte, diese bilde wahrscheinlich den Hauptgrund
für die Schwierigkeiten des Versicherten.

2.2 Bereits im Bericht vom 17. Januar 1998 führte Frau Dr. med. W.________
aus, angesichts der Tatsache, dass das MRI des Schädels normal sei, müsse man
annehmen, dass es sich bei den beschriebenen Beschwerden (Gehstörungen,
Fastsynkopen, Augendruck mit Augentränen, zunehmendes Kopfweh) um eine
vegetative Symptomatik mit allfälliger psychischer Überlagerung handle.
Gemäss Bericht des Dr. med. Z.________ vom 21. Juli 1998 lag eine schwerste,
psychisch massiv überlagerte Chronifizierung der initialen Nackensymptomatik
vor. Im psychosomatischen Konsilium der Klinik X.________ vom 28. August 1998
wurde eine depressive Episode (ICD-10 F32.11) mit schlechter Prognose
festgestellt. Der Psychiater Dr. med. V.________, bei dem der Versicherte
seit 13. April 1999 in Behandlung war, diagnostizierte am 26. Oktober 1999
eine reaktive Depression bei erheblicher sozialer Problematik (ICD-10 F31.2),
eine Somatisierungsstörung/somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.0/F45.4)
und eine Neurasthenie (ICD-10 F48.0). Das Spital Y.________ stellte
schliesslich im psychiatrischen Gutachten vom 19. Juli 2001 die Diagnose
eines mittelgradigen bis schweren depressiven Zustandes (ICD-10 F32.2) bei
einer anhaltenden somatoformen Schmerzstörung (ICD-10 F45.4), denen ein
erheblicher Krankheitswert zukomme. Nach dem Unfall vom 17. Oktober 1997 mit
HWS-Distorsionstrauma hätten somatische Befunde vorgelegen, welche die
anfänglichen Beschwerden hinreichend erklärt hätten. Danach hätten sich die
Beschwerden (in erster Linie Kopf-, Nacken- und Schulterschmerzen, Schwindel,
Reizbarkeit, Konzentrationsstörungen) trotz Physiotherapie und
Hospitalisation chronifiziert und teilweise verschlechtert. Weiter habe sich
ein depressives Zustandsbild entwickelt, welches das heutige Leiden dominiere
und sich mit den somatischen Symptomen zum Teil überlagere und vermische.
Diese depressive Entwicklung sei eine Fehlanpassung an die erlittenen
Verletzungen.

Hieraus ergibt sich, dass die physischen Beschwerden, die nicht auf eine
somatisch nachweisbare Ursache zurückgeführt werden können, im Vergleich zur
ausgeprägten psychischen Problematik bis zum Beurteilungszeitpunkt ganz in
den Hintergrund getreten sind, weshalb die Adäquanzbeurteilung gemäss der für
psychische Fehlentwicklungen nach Unfall geltenden Rechtsprechung (BGE 115 V
133 ff.) zu erfolgen hat.

3.
Die Vorinstanz hat den Unfall vom 17. Oktober 1997 zutreffend als
mittelschweres, aber nicht im Grenzbereich zu den schweren Unfällen liegendes
Ereignis qualifiziert. Weiter hat sie aufgrund der medizinischen Unterlagen
mit einlässlicher und zutreffender Begründung, auf die verwiesen wird,
dargelegt, dass keines der zu berücksichtigenden unfallbezogenen Kriterien
(BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa) erfüllt ist, weshalb die adäquate Kausalität
zwischen dem Unfall und den geklagten psychischen Beschwerden zu verneinen
ist. Die SUVA hat ihre Leistungen demnach zu Recht per Ende Oktober 2000
eingestellt.

Hieran vermögen die Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nichts
zu ändern. Nicht gefolgt werden kann insbesondere dem Einwand des
Versicherten, die SUVA sei zumindest für den somatischen Teil seiner
Beschwerden leistungspflichtig. Denn stehen nach einem HWS-Distorsionstrauma
die physischen Beschwerden, wie vorliegend, ganz im Hintergrund (Erw. 2.2.
hievor), ist diesbezüglich eine separate Beurteilung der Kausalität bzw. der
Leistungspflicht nicht angängig.

4.
Nach dem Gesagten erübrigen sich weitere Abklärungen in medizinischer
Hinsicht, da hievon keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind (antizipierte
Beweiswürdigung; 124 V 94 Erw. 4b; SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 19. November 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: