Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 77/2003
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U 77/03

Urteil vom 2. September 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Lustenberger und Kernen; Gerichtsschreiberin
Hofer

Allianz Suisse Versicherungen, Badenerstrasse 694, 8048 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

L.________, 1972, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 12. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1972 geborene L.________ war seit August 1989 als Verkäuferin bei der
Firma C.________ angestellt, als sie am 3. April 1998 auf nasser Strasse
ausglitt und auf den Rücken fiel. Dabei zog sie sich eine Fraktur des 12.
Brustwirbelkörpers zu, welche im Spital X.________ konservativ mittels
Stützkorsett und Physiotherapie behandelt wurde. Die Allianz Suisse
Versicherungen (vormals Elvia Versicherungen, nachstehend Allianz), bei der
L.________ obligatorisch gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen
versichert war, kam für die Heilbehandlung auf und richtete Taggelder aus.
Ende September 1998 konnte der Fall abgeschlossen werden, nachdem die
Versicherte ab 3. August 1998 ihre bisherige Tätigkeit wieder vollumfänglich
aufgenommen hatte.
Am 19. März 2001 begab sich L.________ wegen starker Rückenschmerzen in die
Behandlung des Dr. med. M.________ (Zeugnis vom 30. März 2001). Im Spital
X.________ wurden gemäss Bericht vom 16. August 2001 die Diagnosen
lumbospondylogenes Schmerzsyndrom beidseits (Status nach BWK 12-Fraktur,
kleine medio-linksseitige Diskushernie L5/S1), Osteopenie/Osteoporose,
Hyperprolaktinämie, Adipositas permagna und OSG-Arthrose gestellt. Durch die
Arbeitgeberin liess die Versicherte am 12. November 2001 einen Rückfall
melden. Die Allianz zog die Berichte des Dr. med. M.________ vom 21. November
und 5. Dezember 2001 und des Spitals X.________ vom 16. Januar 2002 bei und
holte eine Stellungnahme ihres beratenden Arztes Dr. med. G.________ vom 13.
März 2002 ein. Mit Verfügung vom 24. April 2002 verneinte sie ihre
Leistungspflicht. Die Versicherte und deren Krankenkasse erhoben Einsprache,
wobei letztere die Einsprache wieder zurückzog. Mit Einspracheentscheid vom
26. August 2002 hielt die Allianz an ihrer Verfügung fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 12. Februar 2003 gut, hob den Einspracheentscheid
auf und wies die Sache an die Allianz zurück zum weiteren Vorgehen im Sinne
der Erwägungen.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Allianz Aufhebung des
kantonalen Entscheides.

L. ________ und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Wie die Vorinstanz richtig dargelegt hat, kommt das am 1. Januar 2003 in
Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht zur Anwendung,
weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend
sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes
Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil das Sozialversicherungsgericht
bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des
Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier 26. August 2002)
eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b).

2.
2.1 Der Sozialversicherungsprozess ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht.
Danach hat das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige
Abklärung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz
gilt indessen nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den
Mitwirkungspflichten der Parteien (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a,
je mit Hinweisen).

Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne einer
Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Im Sozialversicherungsprozess
tragen mithin die Parteien in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im
Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt,
die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese
Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist,
im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen
Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat,
der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweisen).

2.2 Der Unfallversicherer als verfügende Instanz und - im Beschwerdefall -
das Gericht dürfen eine Tatsache nur dann als bewiesen annehmen, wenn sie von
ihrem Bestehen überzeugt sind (Kummer, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4.
Aufl., Bern 1984, S. 136). Im Sozialversicherungsrecht hat das Gericht seinen
Entscheid, sofern das Gesetz nicht etwas Abweichendes vorsieht, nach dem
Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu fällen. Die blosse
Möglichkeit eines bestimmten Sachverhalts genügt den Beweisanforderungen
nicht. Der Richter und die Richterin haben vielmehr jener
Sachverhaltsdarstellung zu folgen, die sie von allen möglichen
Geschehensabläufen als die wahrscheinlichste würdigen (BGE 126 V 360 Erw. 5b,
125 V 195 Erw. 2, je mit Hinweisen).

2.3 Die Vorinstanz hat den Begriff des Rückfalls und der Spätfolge, für
welche gemäss Art. 11 UVV die Versicherungsleistungen ebenfalls - für Bezüger
von Invalidenrenten jedoch nur unter den Voraussetzungen von Art. 21 UVG -
auszurichten sind, zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen
des kantonalen Gerichts, wonach die entsprechende Leistungspflicht des
Unfallversicherers den Bestand eines natürlichen und adäquaten
Kausalzusammenhanges zwischen den erneut geltend gemachten Beschwerden und
der seinerzeit beim versicherten Unfall erlittenen Gesundheitsschädigung
voraussetzt (BGE 118 V 296 f. Erw. 2c mit Hinweisen; RKUV 1994 Nr. U 206 S.
327 Erw. 2). In formellrechtlicher Hinsicht hat die Vorinstanz sodann zu
Recht festgehalten, dass der Unfallversicherer mit Bezug auf einen streitigen
Rückfall oder eine Spätfolge nicht auf der Anerkennung des natürlichen
Kausalzusammenhanges beim Grundfall oder bei früheren Rückfällen behaftet
werden darf (RKUV 1994 Nr. U 206 S. 328 Erw. 3b). Da der Versicherte aus dem
Vorliegen eines natürlichen Kausalzusammenhanges Rechte ableitet, hat
vielmehr er und nicht der Unfallversicherer das diesbezügliche Beweisrisiko
zu tragen. Je grösser der zeitliche Abstand zwischen dem Unfall und dem
Auftreten der gesundheitlichen Beeinträchtigung ist, desto strengere
Anforderungen sind an den Wahrscheinlichkeitsbeweis des natürlichen
Kausalzusammenhanges zu stellen (RKUV 1997 Nr. U 275 S. 191 Erw. 1c am Ende).
Im Falle der Beweislosigkeit fällt der Entscheid nach den unter Erw. 2.1
hievor dargelegten Grundsätzen zu Lasten der versicherten Person aus, die aus
dem unbewiesen gebliebenen natürlichen Kausalzusammenhang als
anspruchsbegründender Tatsache Rechte ableiten wollte (RKUV 1994 Nr. U 206 S.
328 Erw. 3b).

2.4 Richtig sind sodann die Ausführungen der Vorinstanz zum Beweiswert von
Arztberichten und zu den Grundsätzen der Beweiswürdigung (BGE 125 V 352 Erw.
3a). Darauf wird verwiesen. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes
ist demnach entscheidend, ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend
ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden
berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in
der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen
Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet
sowie nachvollziehbar sind. Ausschlaggebend für den Beweiswert ist somit
weder die Herkunft eines Beweismittels noch die Bezeichnung der eingereichten
oder in Auftrag gegebenen Stellungnahme als Bericht oder Gutachten.

3.
3.1 Nach Auffassung der Beschwerdeführerin ist der natürliche
Kausalzusammenhang zwischen den erneut geltend gemachten Rückenbeschwerden
und dem Unfall vom 3. April 1998 gestützt auf die bestehende Aktenlage klar
zu verneinen, weshalb sich die Einholung eines medizinischen Gutachtens als
unnötig erweist. Der Untersuchungsgrundsatz verpflichte sie nur in den
Grundfällen, für die Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts besorgt zu
sein, während es bei Rückfällen primär an der versicherten Person liege,
ihren Anspruch rechtsgenüglich zu beweisen. Da die Versicherte den Beweis für
den natürlichen Kausalzusammenhang nicht mit dem Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit habe erbringen können, müsse sie die Folgen der
Beweislosigkeit tragen.

3.2 Dem kann indessen nicht beigepflichtet werden. Die erheblich voneinander
abweichenden ärztlichen Stellungnahmen, wie sie im angefochtenen Entscheid
wiedergegeben werden, gestatten keine zuverlässige Beurteilung der streitigen
Frage, ob die im November 2001 geltend gemachten Rückenschmerzen auf den
seinerzeitigen Unfall zurückzuführen sind. Dr. med. M.________ beantwortete
die Frage im Arztzeugnis vom 21. November 2001, ob ausschliesslich
Unfallfolgen vorlägen, mit ja, nachdem er in den ärztlichen Zeugnissen vom
30. März, 9. April und 23. April 2001 noch angegeben hatte, die Behandlung
erfolge wegen Krankheit. Im Beiblatt zum Arztzeugnis vom 5. Dezember 2001
beantwortete der behandelnde Arzt die Frage, ob die aktuellen Beschwerden
noch im Kausalzusammenhang zum Unfallereignis stünden, erneut mit ja
(Wirbelfraktur); die Begründung fehlt jedoch. Es habe immer eine
Arbeitsunfähigkeit bestanden. Die Frage, ob unfallfremde Faktoren vorhanden
seien, beantwortete er dahingehend, dass anlässlich des Unfalles zufällig
eine ausgeprägte Osteoporose festgestellt worden sei. Weshalb den ersten drei
Zeugnissen grössere Beweiskraft zukommen soll, als den späteren Angaben - wie
die Beschwerdeführerin meint -, leuchtet nicht ein. Vielmehr vermögen die
vagen und auf den ersten Blick widersprüchlichen Angaben mangels schlüssig
nachvollziehbarer Begründung den beweismässigen Anforderungen zum Vornherein
nicht zu genügen (vgl. Erwägung 2.4). Gestützt darauf können Unfallfolgen mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit weder bejaht noch verneint werden.

Die Ärzte des Spitals X.________ äussern im Bericht vom 16. Januar 2002 die
Auffassung, die Frage der Unfallkausalität müsse Gegenstand eines
fachärztlichen Gutachtens bilden. Damit bringen sie die Komplexität der
Rückenproblematik der Beschwerdegegnerin zum Ausdruck. Immerhin wurden die
Befunde einer Diskushernie L5/S2, einer Osteopenie/Osteoporose, einer
Adipositas permagna und einer durchgemachten Brustwirbelfraktur BWK 12
erhoben. Angesichts der schwierig einzustufenden Beschwerdesituation war es
ihnen im Rahmen einer kurzen Stellungnahme nicht möglich, sich zur
Unfallkausalität der aktuellen Beschwerden zu äussern. Allein daraus, dass
sie im Bericht vom 16. August 2001 eine Fortführung der Physiotherapie in
einer Osteoporosegruppe vorschlugen und neu die Diagnose einer Diskushernie
stellten, lässt sich jedenfalls nicht schliessen, es seien nur unfallfremde
Ursachen gegeben.

Zur Frage des Vorliegens oder Nichtvorliegens eines natürlichen
Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfall vom 3. April 1998 und den
Rückenbeschwerden hat am 13. März 2002 zudem der Vertrauensarzt der Allianz,
Dr. med. G.________, im Rahmen eines ihm unterbreiteten Fragenkatalogs
Stellung genommen. Unter Bemerkungen verwies er auf die Abklärungen im Spital
X.________ vom 16. Januar 2002 und die dort neu gestellte Diagnose eines
lumbospondylogenen Syndroms bei Diskushernie L5/S1 mit der vorbestandenen
Nebendiagnose einer Osteoporose. Zur Frage der Kausalität kreuzte er die
Rubrik "möglich" an, ohne dies zu begründen  und ohne im Übrigen die weiteren
Fragen zu beantworten. Damit fehlt es auch mit Bezug auf diesen Bericht an
einer nachprüf- und nachvollziehbaren Stellungnahme.

Eine abschliessende Beurteilung des medizinischen Sachverhalts ist aus den
dargelegten Gründen nicht möglich, ohne dass dies als (sich zulasten der
Versicherten auswirkende) Beweislosigkeit betrachtet werden kann, da mit
Blick auf die bisherigen ärztlichen Stellungnahmen - und namentlich den
Hinweis der Ärzte des Spitals X.________ auf die Durchführung einer
medizinischen Begutachtung - nicht ausgeschlossen ist, dass weitere
Untersuchungen eine Klärung herbeizuführen vermöchten (BGE 121 V 208 Erw. 6a,
117 V 264 Erw. 3b). Zwar obliegt es dem Leistungsansprecher, das Vorliegen
eines natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem neuen Beschwerdebild und
dem Unfall nachzuweisen (RKUV 1994 Nr. U 206 S. 328 Erw. 3b). Den Parteien
obliegt jedoch in dem vom Untersuchungsgrundsatz beherrschten
Sozialversicherungsprozess keine subjektive Beweisführungslast im Sinne von
Art. 8 ZGB. Eine Beweislast besteht nur insofern, als im Falle der
Beweislosigkeit der Entscheid zuungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem
unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese Beweisregel
greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist, im Rahmen
des Untersuchungsgrundsatzes aufgrund einer Beweiswürdigung einen Sachverhalt
zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat, der
Wirklichkeit zu entsprechen (RKUV 1996 Nr. U 247 S. 172 Erw. 2a). Nicht nur
im Grundfall, sondern auch bei Geltendmachung eines Rückfalls oder von
Spätfolgen hat die versicherte Person Anspruch darauf, dass der relevante
medizinische Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen Unfall und den
gesundheitlichen Folgen fachärztlich abgeklärt und nachvollziehbar begründet
wird. Verzichten Unfallversicherer und Gericht darauf, verletzen sie
einerseits die ihnen durch den Untersuchungsgrundsatz auferlegte Pflicht zur
vollständigen Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts und anderseits den
Grundsatz der freien Beweiswürdigung. Dass die Vorinstanz die Sache zur
Durchführung weiterer medizinischer Untersuchungen an die Beschwerdeführerin
zurückgewiesen hat, ist somit nicht zu beanstanden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 2. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin:

i.V.