Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 71/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


U 71/03

Urteil vom 17. Februar 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger; Gerichtsschreiber
Scartazzini

M.________, 1961, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher John Wyss,
Städtchen 33, 4663 Aarburg,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 3. März 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1961 geborene M.________ war ab 5. Oktober 1992 als Hilfsarbeiter für die
Firma G.________ AG tätig und mithin bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Berufs- und
Nichtberufsunfällen versichert. Am 22. Oktober 1992 erlitt er bei einem Sturz
von einem Baustellengerüst aus ca. 4 m Höhe eine Commotio cerebri, eine
Rissquetschwunde frontoparietal rechts sowie eine AC-Luxation Tossy I rechts.
Die SUVA übernahm die Heilbehandlung, insbesondere den Aufenthalt im Spital
X.________ bis 27. Oktober 1992, und erbrachte Taggeldleistungen für eine 100
%ige Arbeitsunfähigkeit vom 25. Oktober bis 21. Dezember 1992, wobei sie auf
dieses Datum den Fall abschloss. Nachdem die Versichererin eine am 27. April
1993 beantragte Übernahme von Narbenkorrekturen abgelehnt hatte und
M.________ am 27. Januar 1996 einen zweiten, nicht durch die SUVA
versicherten Unfall erlitten hatte, bei welchem er mit seinem Motorrad
gestürzt war, sprach ihm die Invalidenversicherung mit Verfügung vom 3.
September 1997 rückwirkend ab 1. November 1993 eine ganze Rente zu.

Mit Schreiben vom 29. Oktober 1997 liess der Versicherte die Wiederaufnahme
der Leistungsabklärung hinsichtlich des Unfalles vom 22. Oktober 1992
beantragen. Nach erfolgten Abklärungen und Einholung der IV-Akten teilte ihm
die Anstalt mit Verfügung vom 2. März 1998 mit, ein Kausalzusammenhang
zwischen der festgestellten mittelschweren Hirnfunktionsstörung und dem
Unfallereignis von 1992 sei nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
nachgewiesen, weshalb eine weitere Leistungspflicht der Unfallversicherung
nicht bestehe. Die dagegen erhobene Einsprache wies die SUVA mit
Einspracheentscheid vom 23. Dezember 1998 ab.

B.
Beschwerdeweise liess M.________ beantragen, Verfügung und
Einspracheentscheid seien aufzuheben und es seien ihm für die Folgen des
Unfalles vom 22. Oktober 1992 die gesetzlichen Versicherungsleistungen,
namentlich eine Rente und eine Integritätsentschädigung auszurichten. Nach
unter den Parteien vereinbarter Einholung eines von Dr. med. A.________,
Leitender Arzt der Psychiatrischen Dienste des Kantons Y.________, erstellten
psychiatrischen Gutachtens (vom 5. Dezember 2001), wies das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn die Beschwerde unter Gewährung der
unentgeltlichen Verbeiständung mit Entscheid vom 3. März 2003 ab.

C.
M.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und die Rechtsbegehren
stellen, in Aufhebung des kantonalen Entscheides seien ihm, eventuell nach
Einholung eines neuropsychologischen Ergänzungsgutachtens, die gesetzlichen
Leistungen (Rente und Integritätsentschädigung) auszurichten. Ferner ersucht
er um unentgeltliche Rechtspflege auch im letztinstanzlichen Verfahren.
Die SUVA und das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn  schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für
Sozialversicherung, Abteilung Kranken- und Unfallversicherung (seit 1. Januar
2004 im Bundesamt für Gesundheit)  auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Die Vorinstanz hat die gesetzliche Bestimmung und die Grundsätze über die
Gewährung von Versicherungsleistungen bei Unfällen (Art. 6 Abs. 1 UVG), zu
dem für die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten
natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem
eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) im Allgemeinen (BGE 119 V
337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen) und bei Verschlimmerung
eines krankhaften Vorzustandes durch einen Rückfall im Besonderen (BGE 118 V
296 f. Erw. 2c mit Hinweisen) zutreffend dargelegt. Richtig wiedergegeben ist
ferner die Rechtsprechung zum Erfordernis des adäquaten Kausalzusammenhangs
(BGE 125 V 461 f. Erw. 5a, 123 V 103 Erw. 3d, 139 Erw. 3c, 122 V 416 Erw. 2a,
121 V 49 Erw. 3a; RKUV 1997 Nr. U 272 S. 172 Erw. 3a), namentlich bei
psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 138 ff. Erw. 6f.; vgl. auch BGE 123 V 99
Erw. 2a, 120 V 355 f. Erw. 5b/aa), sowie zu dem im Sozialversicherungsrecht
allgemein üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 119 V
338 Erw. 1, 118 V 289 f. Erw. 1b, je mit Hinweisen; siehe auch BGE 121 V 47
Erw. 2a, 208 Erw. 6b) und zum Beweiswert sowie zur Beweiswürdigung ärztlicher
Berichte und Gutachten (BGE 122 V 160 Erw. 1c; RKUV 1991 Nr. U 133 S. 312 f.
Erw. 1b; vgl. auch BGE 125 V 352 ff. Erw. 3a und b). Darauf wird verwiesen.

1.2 Zu ergänzen ist, dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene
Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG)
vom 6. Oktober 2000 im vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids
(hier: 23. Dezember 1998) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1,
121 V 366 Erw. 1b).

2.
Die SUVA erbrachte die gesetzlichen Leistungen aus dem Unfall vom 22. Oktober
1992 bis zum 21. Dezember 1992 und schloss danach den Versicherungsfall ab.
Streitig und zu prüfen ist die vorinstanzliche Bestätigung der von der
Beschwerdegegnerin verfügten Leistungseinstellung.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat gestützt auf die in den Akten liegenden
medizinischen Berichte, insbesondere das am 5. Dezember 2001 von Dr. med.
A.________ erstellte psychiatrische Gutachten erwogen, der Beschwerdeführer
leide unbestrittenermassen an einer mittelschweren Hirnfunktionsstörung
sowie, nach einstündiger körperlicher Anstrengung, unter Kopfschmerzen,
ständigen Konzentrationsstörungen, diffusem Schwindel und Stottern. Das
Vorliegen eines natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen der
Hirnfunktionsstörung und dem fraglichen Sturz wurde als gegeben betrachtet.
Dabei führte die Vorinstanz aus, die SUVA sei davon ausgegangen, es wären mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit keine leistungsbegründenden somatischen
Unfallrestfolgen mehr zu verzeichnen, namentlich sei keine organische
Hirnschädigung und kein adäquater Kausalzusammenhang zwischen der psychischen
Erkrankung und dem Unfallereignis anzunehmen, während sich der
Beschwerdeführer auf den Standpunkt gestellt habe, das Unfallereignis habe zu
einer Schädigung des Gehirns geführt und zwischen den psychischen
Beeinträchtigungen und dem Unfall bestehe nebst dem natürlichen auch ein
adäquater Kausalzusammenhang.

In seinem psychiatrischen Gutachten vom 5. Dezember 2001 hielt Dr. med.
A.________ fest, zu Beginn der 90er Jahre hätten sich früher schon bestehende
psychische Auffälligkeiten akzentuiert. In diesen Zeitraum falle das besagte
Unfallereignis, bei welchem eine traumatische Hirnschädigung denkbar sei. Es
sei jedoch kaum möglich, definitiv zu entscheiden, welche Wertigkeit das
Schädelhirn-Trauma im gesamten Krankheitsverlauf bzw. in Bezug auf die jetzt
bestehende psychische Behinderung habe. Denkbar seien eine zufällige
zeitliche Koinzidenz der Dekompensation einer vorbestehenden psychischen
Erkrankung mit dem Unfallereignis, das selbst zu keiner relevanten
Hirnschädigung geführt habe, oder eine abnorme, überschiessende Reaktion auf
das Unfallereignis mit paranoider Ausgestaltung, dies vor dem Hintergrund der
vorbestehenden psychischen Störung, oder schliesslich eine neue,
traumabedingte hirnorganische Komponente, welche im klinischen Bild mit einer
vorbestehenden Störung eine Art Amalgam bilde. Zu dieser psychiatrischen
Beurteilung äusserte sich die SUVA-Ärztin Dr. med. B.________, Fachärztin für
Psychiatrie und Psychotherapie, in ihrer psychiatrischen Beurteilung vom 2.
April 2002. Dabei kam sie zum Schluss, die drittgenannte Variante würde
bedeuten, dass es sich um ein psychoorganisches Syndrom nach
Schädelhirn-Trauma auf dem Hintergrund des Verdachts einer Erkrankung aus dem
schizophrenen Formenkreis handle. Konkrete Hinweise auf das psychoorganische
Syndrom im Sinne eines objektiven Nachweises einer Hirnschädigung lägen aber
nicht vor. So blieben die Alternativen einer zufälligen zeitlichen Koinzidenz
der Dekompensation und einer abnormen überschiessenden Reaktion auf das
Unfallereignis. Da ein organisches Substrat weder in einem neurologischen
Gutachten des Spitals Z.________ vom 12. Oktober 1995 noch anlässlich eines
am 22. Dezember 1999 durchgeführten MRI des Neurocraniums festgestellt wurde,
musste die Hirnfunktionsstörung des Beschwerdeführers zweifellos im Rahmen
seiner psychischen Erkrankung gesehen werden.

Auf Grund dieser medizinischen Aktenlage ist die Vorinstanz der Beurteilung
der SUVA-Ärztin gefolgt und davon ausgegangen, das erlittene
Schädelhirn-Trauma trete gegenüber der vorherrschenden psychischen Erkrankung
in den Hintergrund (BGE 123 V 99 Erw. 2a), sodass die entsprechende
Adäquanzprüfung nach den Kriterien gemäss BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa zu
erfolgen habe. Nachdem sie das fragliche Sturzereignis als mittelschweren
Unfall qualifiziert hat, stellte sie fest, dass keines der unfallbezogenen
Kriterien erfüllt war, was dazu führe, dass der adäquate Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfallereignis vom 22. Oktober 1992 und der psychisch bedingten
Arbeits- bzw. Erwerbsunfähigkeit zu verneinen war. Zufolge fehlender Adäquanz
müssten auch die Voraussetzungen für die Zusprechung einer
Integritätsentschädigung verneint werden.

3.2 Dem vorinstanzlichen Entscheid ist in allen Punkten beizupflichten. Wenn
demgegenüber der Beschwerdeführer geltend macht, im psychiatrischen Gutachten
sei die festgestellte Hirnfunktionsstörung entgegen der Beurteilung der
SUVA-Ärztin Dr. med. B.________, auf welche sich das kantonale Gericht zu
Unrecht gestützt habe, nur im Sinne eines Verdachts in ursächlichen
Zusammenhang mit einer psychischen Erkrankung gesetzt worden, weshalb die
hirnorganischen Unfallfolgen mit der vorbestehenden psychischen Auffälligkeit
verschmolzen seien und somit die dritte der von Dr. med. A.________ in
Betracht gezogenen Varianten zur Anwendung gelange, entbehrt dies jeder
aktenmässigen Grundlage. Denn einerseits hat auch Dr. med. A.________ in
seinem Gutachten hervorgehoben, dass ein 1999 durchgeführtes MRI des Schädels
keine Hinweise für eine traumatische Hirnschädigung erbracht hatte.
Andererseits hat er eine traumatische Hirnschädigung trotz fehlenden
Nachweises fokal-neurologischer Defizite oder einer strukturellen Läsion
lediglich für denkbar gehalten. Zudem wäre aus der Annahme, das
Schädelhirn-Trauma sei eine neue, traumabedingte hirnorganische Komponente,
welche im klinischen Bild mit einer vorbestehenden Störung eine Art Amalgam
bilde, noch nicht zwangsläufig zu schliessen, die gemäss BGE 117 V 366 Erw.
6a und 382 Erw. 4b festgelegten Kriterien seien entweder in gehäufter Weise
erfüllt oder eines der Kriterien sei in besonders ausgeprägter Form gegeben.
Was der Beschwerdeführer in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen die
Anwendung der massgeblichen Kriterien auf den vorliegenden Fall und deren
Gesamtwürdigung durch das kantonale Gericht vorbringt, vermag jedenfalls
nicht durchzudringen. Demzufolge kommt dem Unfall vom 22. Oktober 1992
rechtlich keine massgebende Bedeutung für die Entstehung der
Hirnfunktionsstörung bzw. für die psychisch bedingte Arbeits- und
Erwerbsunfähigkeit zu. Dabei ist auch von einem neuropsychologischen
Ergänzungsgutachten kein entscheidswesentlicher Aufschluss zu erwarten,
weshalb davon abzusehen ist.

4.
4.1 Das Begehren des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne
der Befreiung von den Gerichtskosten ist gegenstandslos, weil im Verfahren
über die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen keine
Verfahrenskosten auferlegt werden (Art. 134 OG).

4.2 Was das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung anbelangt,
kann diese gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die
Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu
bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw.
5b, je mit Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG
aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu
leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Fürsprecher John
Wyss, Aarburg, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 17. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: