Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 51/2003
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U 51/03

Urteil vom 29. Oktober 2003

I. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Meyer, Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiber Widmer

K.________, 1934, Italien, Beschwerdeführer,
vertreten durch Fürsprecherin Daniela Mathys, Schwarztorstrasse 7, 3007 Bern,

gegen

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Rechtsdienst ZDPA, Laupenstrasse
27, 3001 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 22. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
K. ________, geb. 1934, arbeitete als Dozent an der Ingenieurschule
X.________ und war damit bei der Berner Allgemeinen
Versicherungs-Gesellschaft (nunmehr Allianz Suisse
Versicherungs-Gesellschaft; im Folgenden: Allianz) obligatorisch gegen
Unfälle versichert. Auf den 1. November 1995 liess er sich vorzeitig
pensionieren. Am 9. November 1995 erlitt er bei einer Auffahrkollision ein
Schleudertrauma der Halswirbelsäule. Die Allianz übernahm die Heilbehandlung,
da der Unfall sich in der Nachdeckungsfrist ereignet hatte. Mit Verfügung vom
23. April 1999 lehnte die Versicherungs-Gesellschaft das Gesuch von
K.________ um Ausrichtung von Taggeldleistungen ab, weil im Zusammenhang mit
dem Unfall vom 9. November 1995 kein Verdienstausfall entstanden sei. Auf
Einsprache hin hielt die Allianz mit Entscheid vom 7. Juli 1999 an ihrem
Standpunkt fest.

B.
K.________ liess Beschwerde führen mit dem Antrag, die Allianz sei zu
verpflichten, ihm rückwirkend ab 12. November 1995 Taggelder zu bezahlen. Mit
Entscheid vom 22. Januar 2003 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
die Beschwerde ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt K.________ das vorinstanzlich
gestellte Rechtsbegehren erneuern.
Während die Allianz auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Unfallversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier:
7. Juli 1999) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar.

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob der Beschwerdeführer, der auf den 1. November
1995 vorzeitig pensioniert wurde, für die Folgen des während der 30-tägigen
Nachdeckungsfrist nach Art. 3 Abs. 2 UVG am 9. November 1995 erlittenen
Unfalls Taggelder nach UVG beanspruchen kann. Während die Vorinstanz dies mit
der Begründung, dass der Versicherte als vorzeitig Pensionierter keinen
Erwerbsausfall erlitten habe, verneint hat, wird in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Wesentlichen unter Hinweis auf den Wortlaut
von Art. 16 UVG sowie die gesetzlichen Grundlagen für die Bemessung der
Taggelder geltend gemacht, der Taggeldanspruch setze keine Verdiensteinbusse
voraus.

3.
3.1 Gemäss Art. 16 Abs. 1 UVG hat der Versicherte, der infolge des Unfalls
voll oder teilweise arbeitsunfähig ist, Anspruch auf ein Taggeld. Der
Anspruch auf Taggeld entsteht am dritten Tag nach dem Unfalltag. Er erlischt
mit der Wiedererlangung der vollen Arbeitsfähigkeit, mit dem Beginn einer
Rente oder mit dem Tod des Versicherten (Art. 16 Abs. 2 UVG). Als
arbeitsunfähig im Sinne von Art. 16 Abs. 1 UVG gilt eine Person, die infolge
des Gesundheitsschadens ihre bisherige Tätigkeit nicht mehr, nur noch
beschränkt oder nur unter der Gefahr, ihren Gesundheitszustand zu
verschlimmern, ausüben kann (BGE 129 V 53 Erw. 1.1.1, 114 V 283 Erw. 1c; RKUV
1987 Nr. U 27 S. 394 Erw. 2b). Diese Definition gilt in allen Zweigen der
Sozialversicherung (Peter Omlin, Die Invalidität in der obligatorischen
Unfallversicherung, Diss. Freiburg, 2. Aufl. 1999, S. 67; Jean-Maurice
Frésard, L'assurance-accidents obligatoire, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Rz 69).

3.2 In BGE 114 V 285 Erw. 3b hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
hinsichtlich des versicherten Krankengeldes, welches das gesetzliche (Art.
12bis Abs. 1 KUVG in der bis Ende 1995 gültig gewesenen Fassung) oder
statutarische Minimum übersteigt, dargelegt, die Krankengeldversicherung
bezwecke in der Regel, dem Versicherten ganz oder teilweise Ersatz für den
Erwerbsausfall zu bieten, der infolge krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit
im zuletzt ausgeübten Beruf entsteht. Weiter stellte es fest, dass das KUVG
keinen Hinweis enthalte, wonach bei erwerbstätigen Versicherten ein
bestimmter krankheitsbedingter Erwerbsausfall Anspruchsvoraussetzung sei.
Dennoch könne kein Zweifel daran bestehen, dass die nach Art. 12bis Abs. 1
KUVG anspruchsbegründende vollständige Arbeitsunfähigkeit erwerbstätiger
Versicherter gleich bedeutend sei mit vollständigem krankheitsbedingtem
Erwerbsausfall im bisher ausgeübten Beruf. Hälftige Arbeitsunfähigkeit
wiederum, die (reglementarisch) Anspruch auf ein entsprechend reduziertes
Krankengeld gibt, sei auf der Schadenseite in der Regel mit einer
Verdiensteinbusse von 50 % gleichzusetzen (BGE 114 V 285 f. Erw. 3c).

3.3 Diese an den Schaden anknüpfende Rechtsprechung ist analog auch im Rahmen
von Art. 16 UVG anwendbar, da der Begriff der Arbeitsunfähigkeit, die einen
Taggeldanspruch begründet, in allen Sozialversicherungszweigen identisch ist
(Erw. 3.1 hievor). Demnach setzt der Taggeldanspruch eine durch das
versicherte Ereignis (Krankheit, Unfall) verursachte Einschränkung der
Arbeitsfähigkeit mit entsprechender Verdiensteinbusse voraus. Bereits in der
Botschaft zum Bundesgesetz über die Unfallversicherung vom 18. August 1976
(BBl 1976 III 167) ging der Bundesrat denn auch davon aus, dass mit den
Taggeldern eine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit und ein entsprechender
Erwerbsausfall entschädigt wird. Ebenso wird in der Literatur einhellig die
Auffassung vertreten, dass mit dem Taggeld die aus der Arbeitsunfähigkeit
resultierende Erwerbseinbusse kompensiert werden soll (Alfred Maurer,
Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, S. 321; Jean-Maurice Frésard,
a.a.O.). Laut Jürg Maeschi (Kommentar zum Militärversicherungsgesetz, N 8 zu
Art. 28) stellt das Vorliegen eines wirtschaftlichen Schadens bei
Erwerbstätigen eine selbstverständliche Anspruchsvoraussetzung für den
Taggeldanspruch dar, auch wenn Art. 28 MVG (wie im Übrigen auch Art. 16 UVG)
nicht ausdrücklich voraussetzt, dass der Versicherte eine Verdiensteinbusse
erleidet. Versicherte, die zwar (medizinisch-theoretisch) in der
Arbeitsfähigkeit beeinträchtigt sind, jedoch keine Verdiensteinbusse
erleiden, sind nicht anspruchsberechtigt.

3.4 Auf Grund dieser, der ratio legis und dem Willen des historischen
Gesetzgebers entsprechenden sowie der Regelung in der Kranken- und der
Militärversicherung Rechnung tragenden Auslegung von Art. 16 Abs. 1 UVG (zur
Auslegung des Gesetzes siehe BGE 129 II 118 Erw. 3.1, 129 V 103 Erw. 3.2, je
mit Hinweisen) ist der Anspruch des Beschwerdeführers auf Taggelder mit dem
kantonalen Gericht zu verneinen, da er sich auf den 1. November 1995
vorzeitig pensionieren liess und wegen der Folgen der Auffahrkollision vom 9.
November 1995 unbestrittenermassen keine Verdiensteinbusse erlitt.

3.5 Der Wortlaut von Art. 16 Abs. 1 UVG steht diesem Ergebnis nicht entgegen,
da diese Bestimmung keineswegs ungeachtet einer Erwerbseinbusse einen
Anspruch auf Taggeld einräumt, sondern - wie analoge Bestimmungen in anderen
Sozialversicherungszweigen (Art. 72 Abs. 2 Satz 1 KVG; Art. 28 Abs. 1 MVG) -
lediglich ein Anspruchserfordernis (Verdienstausfall), das im Lichte der
vorstehenden Erwägungen als selbstverständlich und begriffsinhärent gilt,
nicht ausdrücklich erwähnt.

3.6 Die weiteren in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebrachten
Einwendungen sind, soweit erheblich, ebenfalls nicht geeignet, zu einem
abweichenden Resultat zu führen. Soweit sich der Versicherte darauf beruft,
dass das Taggeld in der Unfallversicherung nach der abstrakten Methode
(Maurer, a.a.O., S. 321), d.h. nach Massgabe des vor dem Unfall erzielten
(Art. 17 Abs. 1 UVG und Art. 22 Abs. 3 UVV), und nicht auf der Grundlage des
entgangenen Verdienstes berechnet wird, verkennt er, dass es sich dabei um
eine Bemessungsregel handelt. Diese gelangt erst zur Anwendung, wenn die
Anspruchsvoraussetzungen für das Taggeld im Sinne von Art. 16 Abs. 1 UVG
erfüllt sind. Ob sodann bei der Abredeversicherung nach Art. 3 Abs. 3 UVG ein
Anspruch auf Taggeld unabhängig vom Vorliegen eines Erwerbsausfalls besteht,
ist hier nicht zu prüfen, da der Beschwerdeführer jedenfalls keine solche
Versicherung abgeschlossen hat.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 29. Oktober 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: