Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 332/2003
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U 332/03

Urteil vom 3. Januar 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Attinger

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Hohlstrasse 552, 8048 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

K.________, 1971, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Konrad
Bünzli, Bahnhofstrasse 15, 5600 Lenzburg

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 29. Oktober 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1971 geborene K.________ war ab Anfang Dezember 1996 als
Haushälterin/Betreuerin mit einem Teilzeitpensum bei der
Alterswohngemeinschaft der Familie C.________ angestellt und bei der Berner
Allgemeinen Versicherungs-Gesellschaft (nunmehr Allianz Suisse
Versicherungs-Gesellschaft; nachfolgend: Allianz Suisse) obligatorisch gegen
Unfälle versichert. Am 24. Januar 2001 erlitt sie am Arbeitsort einen Unfall:
Ihrer Schilderung vom 28. Juni 2001 zufolge half sie einem Heimbewohner vom
Rollstuhl aufs WC, indem sie ihn von hinten stützte. Als der Heimbewohner aus
dem Stand einknickte, versuchte sie ihn aufzufangen, worauf sie das
Gleichgewicht verlor und mit dem Gesäss auf dem Plattenboden aufschlug. Der
rund 80 kg schwere Heimbewohner kam - ebenfalls rückwärts stürzend - auf die
Versicherte zu liegen. Wegen Rückenschmerzen und Parästhesien suchte
K.________ am 26. Januar 2001 ihren Hausarzt, den Internisten Dr. A.________
auf, der ein lumboradikuläres Schmerzsyndrom ohne neurologische Ausfälle
diagnostizierte. Gleichentags trat die Versicherte in die Medizinische
Abteilung des Spitals X.________ ein, wo sie bis zum 3. Februar 2001
hospitalisiert war. Bei einer am 27. Januar 2001 auf der Abteilung für
Neuroradiologie des Spitals Y.________ durchgeführten Computertomographie der
Lendenwirbelsäule wurde als Befund eine Diskusprotrusion im Segment L4/5
sowie eine linksseitige paramediane Diskushernie im Segment L5/S1 erhoben.
Die Allianz Suisse richtete Taggelder aus und übernahm die Heilbehandlung, so
auch den weiteren stationären Aufenthalt in der Rheumaklinik des Spitals
Y.________ vom 3. bis 24. April 2001. Mit Verfügung vom 25. Januar 2002
stellte sie ihre Leistungen auf den 5. Mai 2001 hin ein, weil "zufolge
Erreichens des status quo sine (zu diesem Zeitpunkt) die
Leistungsvoraussetzung der natürlichen Kausalität" entfallen sei. K.________
liess gegen die Leistungseinstellung Einsprache erheben, in welcher sie u.a.
auf einen "vorläufigen Austrittsbericht" der Orthopädischen Klinik des
Spitals Y.________ vom 21. Februar 2002 verwies. In dieser Klinik unterzog
sich die Versicherte am 2. Mai 2002 einer ventralen interkorporellen
Spondylodese L5/S1 mit Beckenspan und einer dorsalen Spondylodese USS L5/S1
mit Dekortikation (Austrittsbericht vom 13. Mai 2002). Mit
Einspracheentscheid vom 22. August 2002 wies die Allianz Suisse die
Einsprache ab.

B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die hiegegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 29. Oktober 2003 teilweise gut und wies "die
Streitsache zur ergänzenden Abklärung des rechtserheblichen Sachverhalts im
Sinne der Erwägungen und zum neuen Entscheid" an die Allianz Suisse zurück.

C.
Die Allianz Suisse führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag auf
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids.

K. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen;
überdies lässt sie um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege im Sinne
der unentgeltlichen Verbeiständung ersuchen. Das Bundesamt für
Sozialversicherung, Abteilung Unfallversicherung (seit 1. Januar 2004 im
Bundesamt für Gesundheit), verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat im angefochtenen Entscheid die Rechtsprechung zum
für die Leistungspflicht des Unfallversicherers erforderlichen natürlichen
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden
(Krankheit, Invalidität; BGE 129 V 181 Erw. 3.1, 406 Erw. 4.3.1, 119 V 337
Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen) richtig wiedergegeben. Darauf
kann verwiesen werden.
Zutreffend sind auch die vorinstanzlichen Ausführungen, wonach es einer
medizinischen Erfahrungstatsache im Bereich des Unfallversicherungsrechts
entspricht, dass praktisch alle Diskushernien bei Vorliegen degenerativer
Bandscheibenveränderungen entstehen und ein Unfallereignis nur ausnahmsweise,
unter besondern Voraussetzungen, als eigentliche Ursache in Betracht fällt.
Als weitgehend unfallbedingt kann eine Diskushernie betrachtet werden, wenn
das Unfallereignis von besonderer Schwere und geeignet war, eine Schädigung
der Bandscheibe herbeizuführen, und die Symptome der Diskushernie
(vertebrales oder radikuläres Syndrom) unverzüglich und mit sofortiger
Arbeitsunfähigkeit aufgetreten sind. In solchen Fällen hat die
Unfallversicherung praxisgemäss auch für Rezidive und allfällige Operationen
aufzukommen. Wird die Diskushernie durch den Unfall lediglich ausgelöst,
nicht aber verursacht, übernimmt die Unfallversicherung den durch das
Unfallereignis ausgelösten Beschwerdeschub, spätere Rezidive dagegen nur,
wenn eindeutige Brückensymptome gegeben sind (RKUV 2000 Nr. U 378 S. 190, Nr.
U 379 S. 192; Urteil H. vom 18. August 2000, U 4/00; vgl. auch Debrunner,
Orthopädie, orthopädische Chirurgie, 4. Aufl. Bern 2002, S. 880 unten;
Debrunner/Ramseier, Die Begutachtung von Rückenschäden, Bern 1990, S. 54 ff.,
insbesondere S. 56; Baur/Nigst, Versicherungsmedizin, 2. Aufl. Bern 1985, S.
162 ff.; Mollowitz, Der Unfallmann, 11. Aufl. Berlin 1993, S. 164 ff.).

2.
Der Vorinstanz ist insofern beizupflichten, als das Unfallereignis vom 24.
Januar 2001 auf keinen Fall geeignet war, eine Schädigung der Bandscheiben im
Lumbalbereich herbeizuführen. Dies gilt selbst dann, wenn man auf den in der
vorinstanzlichen Beschwerde geschilderten Unfallhergang abstellte. Denn eine
gesunde Bandscheibe ist derart widerstandsfähig, dass unter Gewalteinwirkung
eher die Wirbelknochen brechen, als dass die Bandscheibe verletzt würde
(Mollowitz, a.a.O., S. 165). Hingegen stellt sich die Frage, ob der durch den
streitigen Unfall (bloss) ausgelöste Beschwerdeschub über den 5. Mai 2001
hinaus weiterhin andauerte. Unter Berücksichtigung des Umstandes, dass ein
solcher Schub im günstigsten Fall nach Stunden oder Tagen, manchmal aber erst
nach Wochen oder Monaten spontan abklingen kann (Bauer/Nigst, a.a.O., S.
163), ist vorab anhand (fach)ärztlicher Unterlagen zu klären, auf welches
Leiden die nach dem Unfallereignis aufgetretenen Rückenbeschwerden
zurückzuführen waren und ab welchem Zeitpunkt ein Abklingen des
diesbezüglichen Beschwerdeschubs anzunehmen ist. Wie das kantonale Gericht
zutreffend festgestellt hat, lässt sich dies auf Grund der vorliegenden
medizinischen Akten nicht mit rechtsgenüglicher Zuverlässigkeit beantworten.
Schon die Frage, ob die Beschwerdegegnerin unmittelbar nach dem Unfall vom
24. Januar 2001 im Bereich L5/S1 an einer Protrusion (Bandscheibenvorwölbung)
oder bereits an einem eigentlichen Bandscheibenprolaps (Diskushernie) litt,
entzieht sich nach der gegenwärtigen Aktenlage einer abschliessenden
Beurteilung.
Während die am 27. Januar 2001 auf der Abteilung für Neuroradiologie des
Spitals Y.________ durchgeführte Computertomographie neben einer
Diskusprotrusion im Segment L4/5 eine linksseitige paramediane Diskushernie
im Segment L5/S1 zeigte, wurde der letztgenannte Befund weder im vom
Internisten Dr. A.________ verfassten Bericht des Spitals X.________ vom 12.
Februar 2001 noch im vom selben Mediziner ausgestellten Arztzeugnis vom 2.
März 2001 erwähnt. Auch die wiederum von der Abteilung für Neuroradiologie
des Spitals Y.________ durchgeführte Magnetresonanztomographie vom 5. April
2001 ergab auf den zwei Ebenen L4/5 und L5/S1 lediglich Diskusprotrusionen
(vgl. auch die medizinischen Stellungnahmen der Rheumaklinik des Spitals
Y.________ vom 25. April 2001 sowie des behandelnden Arztes Dr. A.________
vom 19. August und 9. September 2001). Demgegenüber erbrachte die am 20.
Februar 2002 in der Orthopädischen Klinik des Spitals Y.________ vorgenommene
invasive Untersuchung mittels Diskographie von L3 bis S1 laut den Angaben der
Klinikärzte im Austrittsbericht vom 22. Februar 2002 sowie im "vorläufigen
Austrittsbericht" vom 21. Februar 2002 den Befund einer Diskusdegeneration
L4/5 und L5/S1 mit medianer Protrusion sowie "den Nachweis einer
(posttraumatischen) Anulusruptur L5/S1 als Schmerzursache". Angesichts dieses
nach Erlass der Verfügung vom 25. Januar 2002 erhobenen neuen (bzw. mit der
früheren computertomographischen Befunderhebung im Einklang stehenden)
Untersuchungsergebnisses hätte der Unfallversicherer im Einspracheentscheid
vom 22. August 2002 nicht weiter auf das Aktengutachten des Chirurgen Dr.
G.________ vom 3. Januar 2002 abstellen dürfen, wonach mit Blick auf die
medianen Diskusprotrusionen auf Höhe L4/5 und L5/S1 spätestens nach dem
Austritt aus der Rheumaklinik des Spitals Y.________ vom 24. April 2001
wieder der status quo sine erreicht gewesen sei. Vielmehr hätte die Allianz
Suisse unter Einbezug auch der neuen medizinischen Entwicklung (die
Versicherte unterzog sich am 2. Mai 2002 der bereits erwähnten Spondylodese)
fachärztlich abklären müssen, an welcher Bandscheibenschädigung die
Beschwerdegegnerin bis zum Einspracheentscheid jeweils tatsächlich litt und
inwieweit die lumbalen Rückenschmerzen im massgebenden Zeitraum auf das
Unfallereignis vom 24. Januar 2001 zurückzuführen waren bzw. noch dem damals
ausgelösten Beschwerdeschub zugerechnet werden können. Die Vorinstanz hat
demnach die Sache zu Recht zur ergänzenden Abklärung der natürlichen
Kausalität durch "einen neutralen Rückenorthopäden" und zu anschliessender
neuer Verfügung über den Leistungsanspruch an die Verwaltung zurückgewiesen.

3.
Ausgangsgemäss steht der anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnerin eine
Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159 Abs. 1 OG). Damit
ist ihr Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft hat der Beschwerdegegnerin für
das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
Luzern, 3. Januar 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: