Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 331/2003
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U 331/03

Urteil vom 30. August 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Fessler

A.________, 1960, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwältin Karin
Hoffmann, Splügenstrasse 12, 8002 Zürich,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 22. Oktober 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1960 geborene, aus Albanien stammende und seit 1993 in der Schweiz
wohnhafte A.________ arbeitete ab Januar 1999 stundenweise als Aushilfe im
Altersheim X.________. Sie war - als Arbeitslose - bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Berufs-
und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert. Am 6. Juli 1999
wurde A.________ als Beifahrerin eines Personenwagens in einen Verkehrsunfall
verwickelt. Ein von rechts kommendes Auto überfuhr ein Stop-Signal und stiess
seitlich vorne rechts in das von ihrem Ehemann gelenkte Fahrzeug. Wegen
Schmerzen im Kopf- und Nackenbereich begab sich A.________ noch am selben Tag
in medizinische Behandlung. Der Hausarzt Dr. med. S.________ stellte die
Diagnose einer HWS-Distorsion und Kontusion des Kopfes rechts. Da die
Beschwerden persistierten, wurde sie neurologisch und rheumatologisch
abgeklärt. Unter anderem auf Vorschlag des Kreisarztes Dr. med. F.________
hielt sich A.________ vom 15. bis 25. Februar 2000 in der Medizinischen
Klinik des Spitals Y.________ auf. Ziel war die Etablierung einer peroralen
analgetischen Behandlung zur Reduktion der panvertebralen Rückenschmerzen
sowie der Kopfschmerzen. Im Weitern holte die SUVA eine biomechanische
Kurzbeurteilung des Unfalles vom 6. Juli 1999 ein und liess eine technische
Unfallanalyse erstellen. Schliesslich wurde A.________ am 26. März und 25.
April 2001 durch den ebenfalls albanisch sprechenden Dr. med. B.________,
Oberarzt Psychiatrische Dienste Z.________, untersucht.
Mit Verfügung vom 19. Dezember 2001 stellte die SUVA die
Versicherungsleistungen (Heilbehandlung, Taggeld) mit dem 1. Januar 2002 ein.
Ebenfalls verneinte sie die Voraussetzungen für weitere Geldleistungen
(Invalidenrente, Integritätsentschädigung). Hiegegen liess die Versicherte
Einsprache erheben.
Am 12. Juni und 2. Juli 2002 wurde A.________ durch den Psychiater und
Psychotherapeuten Dr. med. R.________ untersucht und begutachtet (Expertise
vom 5. August 2002).
Mit Verfügung vom 25. Oktober 2002 stellte die SUVA die
Versicherungsleistungen (Taggeld, Heilbehandlung) mit dem 1. November 2002
ein. Im Weitern stellte sie fest, die Voraussetzungen für weitere
Geldleistungen (Invalidenrente, Integritätsentschädigung) seien nicht
gegeben. Daran hielt der Unfallversicherer mit Einspracheentscheid vom 12.
Dezember 2002 fest.

B.
Die Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen mit Entscheid vom 22. Oktober 2003 ab.

C.
A. ________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den
Rechtsbegehren,
Gerichtsentscheid und Einspracheentscheid seien aufzuheben und es seien ihr
die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen; eventualiter sei die Sache an das
kantonale Gericht zur weiteren Abklärung zurückzuweisen.
Die SUVA beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung, Abteilung Kranken- und Unfallversicherung
(seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit) reicht keine Vernehmlassung
ein.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat zum streitigen Anspruch auf Leistungen nach UVG für
die Zeit ab 1. November 2002 erwogen, auf Grund der medizinischen Akten sei
das Bestehen eines natürlichen Kausalzusammenhangs zwischen dem Unfall vom 6.
Juli 1999 und den heute noch vorhandenen Kopf- und Nackenschmerzen nicht von
der Hand zu weisen. Die Frage der natürlichen Kausalität könne indessen offen
gelassen werden. Die Vorinstanz hat sodann geprüft, ob die geklagten
Beschwerden adäquat-kausale Unfallfolgen darstellten. Zu diesem Punkt hat sie
ausgeführt, der psychiatrische Gutachter Dr. med. R.________ habe eine
psychische Krankheit festgestellt, welche durch ein neurotisches
Reaktionsmuster entstanden sei und eine eigene Dynamik aufweise. Der Unfall
vom 6. Juli 1999 werde zwar in der Expertise vom 5. August 2002 als
auslösender Faktor bezeichnet. Im Verlauf der Zeit habe sich jedoch mit der
psychischen Fehlverarbeitung des Unfallereignisses ein eigenständiges
psychisches Beschwerdebild entwickelt, welches allenfalls noch bestehende und
mit der Zeit abklingende somatische Beschwerden immer mehr überlagert habe.
Die Feststellungen des Dr. med. R.________ liessen den Schluss zu, dass das
gegenwärtige psychische Zustandsbild zum allergrössten Teil wenn nicht
gänzlich auf eine psychogene Störung zurückzuführen sei. Dabei handle es sich
offensichtlich nicht mehr um die Symptome einer HWS-Distorsion, sondern um
eine eigenständige psychische Erkrankung, welche sich aus der neurotischen
Dekompensation und einer allfälligen Schmerzverarbeitungsstörung entwickelt
habe. Ob es sich bei den festgestellten psychischen Beschwerden um eine
psychogene Störung und damit um eine selbstständige sekundäre Krankheit bzw.
Gesundheitsschädigung handle, oder ob von Unfallfolgen bzw.
differentialdiagnostisch entsprechend dem Hinweis des Experten von einer
depressiven Episode gemäss ICD-10 F32 auszugehen sei, brauche nicht
abschliessend beantwortet zu werden. Eine psychische Problematik sei
vorherrschend. Die Adäquanzfrage sei somit nach der Rechtsprechung gemäss BGE
115 V 133 zu beurteilen. Dabei sei von einem Unfall aus dem mittleren Bereich
auszugehen. Von den massgebenden Kriterien sei keines wirklich erfüllt.
Inbesondere habe eine rein körperlich bedingte Arbeitsunfähigkeit höchstens
während verhältnismässig kurzer Dauer bestanden. Unter den gegebenen
Umständen habe die SUVA ihre Leistungspflicht im Zusammenhang mit den seit 1.
November 2002 noch andauernden Beschwerden zu Recht verneint. Der Nachweis,
dass die Kausalität der anfänglich vorhandenen somatischen Beschwerden
spätestens bis zu diesem Zeitpunkt dahingefallen sei und die psychischen
Störungen keine adäquat-kausale Unfallfolgen mehr darstellten, sei auf Grund
der medizinischen Akten erbracht. Die SUVA habe somit ihre Leistungen zu
Recht eingestellt und den Anspruch auf eine Invalidenrente oder eine
Integritätsentschädigung verneint.

2.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird bestritten, dass einzig und allein
psychische Beschwerden heute noch bestünden. Es stehe fest, dass sich die
Versicherte vom ersten Tage an mit den typischen Beschwerden eines
Halswirbelsäulen-Distorsionstraumas bzw. einer ähnlichen Verletzung in
ärztliche Behandlung begeben habe. Sie leide nach wie vor an körperlichen
Beschwerden. Es bestehe eine Wechselwirkung zwischen den physischen und
psychischen Beschwerden, in dem die Schmerzen jeweils Unruhe und Nervosität
auslösten oder umgekehrt Schmerzen ausgelöst würden, wenn sich die
Versicherte aufrege. Es sei daher nicht richtig, bei der Prüfung der Adäquanz
von einer vorherrschenden psychischen Problematik auszugehen und die
Grundsätze im Sinne von BGE 115 V 133 anzuwenden. Vielmehr sei auf eine
Differenzierung zwischen physischen und psychischen Komponenten zu verzichten
und im Sinne von BGE 117 V 359 vorzugehen. Es sei eine HWS-Distorsion
diagnostiziert und die dafür typischen Symptome von der Beschwerdeführerin
immer wieder geklagt worden. Im Weitern wird gerügt, der angefochtene
Entscheid setze sich nicht mit den Einwendungen in der Beschwerde gegen das
Gutachten des Dr. med. R.________ vom 5. August 2002 auseinander. Auf die
Expertise könne im Übrigen schon deshalb nicht abgestellt werden, weil die
Beschwerdeführerin nicht deutsch und der Gutachter nicht albanisch sprächen
und verstünden. Zwar hätten Ehemann und Sohn der Versicherten als Übersetzer
fungiert. Es sei indessen nicht von der Hand zu weisen, dass sie ihre eigenen
Interpretationen einfliessen lassen und allenfalls sogar Aussagen der Ehefrau
und Mutter nicht weitergegeben hätten, weil sie ihnen möglicherweise peinlich
oder unpassend und nicht wesentlich erschienen seien. Auch müsse angenommen
werden, dass die Beschwerdeführerin, bewusst oder unbewusst, gewisse Dinge
vor ihrem Mann und ihrem Sohn gar nicht so zum Ausdruck gebracht habe, wie
sie es bei einem albanisch sprechenden Arzt oder im Beisein eines neutralen
Übersetzers getan hätte. Immerhin habe auch Dr. med. R.________ festgestellt,
dass die Explorandin sich wenig bemüht habe, die an sie gerichteten Fragen
genau zu beantworten und die ihr gestellten Aufgaben gewissenhaft zu lösen.
Ob dieses Verhalten allenfalls nicht auch mit der Zusammenstellung der
anwesenden Personen zu tun gehabt habe, könne nicht gesagt werden.

3.
3.1 Die adäquate Kausalität dient der rechtlichen Eingrenzung der sich aus
dem
natürlichen Kausalzusammenhang ergebenden Haftung des Unfallversicherers (BGE
127 V 102 Erw. 5b/aa mit Hinweisen). Nach der Rechtsprechung ist bei der
Beurteilung der Adäquanz von organisch nicht (hinreichend) nachweisbaren
Unfallfolgeschäden wie folgt zu differenzieren: Es ist zunächst abzuklären,
ob die versicherte Person beim Unfall ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule
(HWS), eine dem Schleudertrauma äquivalente Verletzung oder ein
Schädel-Hirntrauma erlitten hat. Ist dies nicht der Fall, gelangt die
Rechtsprechung gemäss BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa zur Anwendung. Ergeben die
Abklärungen indessen, dass die versicherte Person eine der soeben erwähnten
Verletzungen erlitten hat, muss geprüft werden, ob die zum typischen
Beschwerdebild einer solchen Verletzung gehörenden Beeinträchtigungen zwar
teilweise vorliegen, im Vergleich zur psychischen Problematik aber ganz in
den Hintergrund treten. Trifft dies zu, sind für Adäquanzbeurteilung
ebenfalls die in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa für Unfälle mit psychischen
Folgeschäden aufgestellten Grundsätze massgebend (BGE 123 V 99 Erw. 2a; vgl.
zur differenzierten Anwendung dieser Rechtsprechung in zeitlicher Hinsicht
RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437); andernfalls kommen die in BGE 117 V 366 Erw. 6a
und 382 Erw. 4b festgelegten Kriterien zum Zuge (BGE 127 V 103 Erw. 5b/bb).
Die Anwendung der Rechtsprechung zum adäquaten Kausalzusammenhang bei
Schleudertraumen der HWS setzt voraus, dass die psychischen Beschwerden aus
dem Unfall hervorgehen und zusammen mit den organischen Beschwerden, die
ebenfalls auf das Unfallereignis zurückzuführen sind, ein komplexes
Gesamtbild ergeben (RKUV 2000 Nr. U 397 S. 328 Erw. 3b).

3.1.1  Bei einem Schleudertrauma der HWS handelt es sich aus medizinischer
Sicht um einen Beschleunigungsmechanismus an der Halswirbelsäule ohne
Kopfanprall mit der dazugehörigen Diagnose einer Distorsion der HWS resp. des
Nackens (RKUV 1995 Nr. U 221 S. 112). Typisch für diese Art von Verletzung
ist das gehäufte Auftreten von Beschwerden, wie diffuse Kopfschmerzen,
Schwindel, Konzentrations- und Gedächtnisstörungen, Übelkeit, rasche
Ermüdbarkeit, Visusstörungen, Reizbarkeit, Affektlabilität, Depression, sowie
Wesensveränderungen (BGE 119 V 338 Erw. 1, 117 V 360 Erw. 4b). Das Vorliegen
eines Schleudertraumas wie seine Folgen müssen durch zuverlässige ärztliche
Angaben gesichert sein. Trifft dies zu und ist die natürliche Kausalität -
auf Grund fachärztlicher Feststellungen in einem konkreten Fall -
unbestritten, kann der natürliche Kausalzusammenhang ebenso aus rechtlicher
Sicht als erstellt gelten (BGE 119 V 340 Erw. 2b/aa).
Distorsionen der Halswirbelsäule stellen eine dem Schleudertrauma der HWS
äquivalente Verletzungsform dar (SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw. 2; Urteil F.
vom 26. November 2001 [U 409/00] Erw. 3). Nach der Gerichtspraxis können auch
Verkehrsunfälle mit seitlich-frontalen Kollisionen einen
Beschleunigungsmechanismus an der HWS bewirken (nicht veröffentlichtes Urteil
C. vom 28. November 1994 [U 107/94] Erw. 2).

3.1.2  Zum typischen Beschwerdebild nach einem Schleudertrauma der HWS gehört
eine depressive Entwicklung (BGE 117 V 360 Erw. 4b). Sodann steht bei solchen
Verletzungen ohne nachweisbare organische Befunde mit zunehmender zeitlicher
Distanz zum Unfall immer häufiger die psychische Problematik im Vordergrund
(RKUV 2002 Nr. U 465 S. 439 Erw. 3a).
Sind die zum typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas der HWS oder
einer äquivalenten Verletzung gehörenden Beeinträchtigungen (teilweise)
gegeben, ist mit Bezug auf im Anschluss an den Unfall auftretende psychische
Störungen zu fragen, ob es sich hiebei um Symptome des erlittenen Traumas
oder aber um eine selbstständige (sekundäre) Gesundheitsschädigung handelt.
Dabei sind für die Abgrenzung insbesondere Art und Pathogenese der Störung,
das Vorliegen konkreter unfallfremder Faktoren oder der Zeitablauf von
Bedeutung (RKUV 2001 Nr. U 412 S. 80 Erw. 2b). Ein eigenständiger psychischer
Gesundheitsschaden ist gegeben, wenn ein vorbestandenes psychisches Leiden
durch den Unfall richtunggebend verschlimmert wurde. Diesfalls hat die
Adäquanzbeurteilung nach Massgabe der Rechtsprechung bei psychischen
Fehlentwicklungen nach Unfall gemäss BGE 115 V 133 zu erfolgen (RKUV 2000 Nr.
U 397 S. 327). Sind die im Anschluss an den Unfall geklagten psychischen
Beschwerden teils Symptome des erlittenen Traumas, teils Manifestation einer
selbstständigen (sekundären) Gesundheitsschädigung, hat unter Umständen eine
getrennte Adäquanzbeurteilung nach BGE 117 V 359 und BGE 115 V 133 zu
erfolgen (vgl. BGE 126 V 118 Erw. 3c im Verhältnis somatische/psychische
Befunde).

3.2  Nach der Rechtsprechung ist für den Beweiswert eines Arztberichtes
entscheidend, ob er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen
Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in
Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der
medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtet und
ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind (BGE 125 V 352 Erw. 3a
mit Hinweis).
Ob eine medizinische Begutachtung in der Muttersprache des Exploranden oder
der Explorandin oder unter Beizug eines Übersetzers im Einzelfall geboten
ist, hat grundsätzlich der Experte im Rahmen sorgfältiger Auftragserfüllung
zu entscheiden. Dazu gehört auch die Wahl des Dolmetschers sowie die Frage,
ob allenfalls bestimmte Teile der Abklärung aus sachlichen und persönlichen
Gründen in dessen Abwesenheit durchzuführen sind. Entscheidend dafür, ob und
in welcher Form bei medizinischen Abklärungen dem Gesichtspunkt der Sprache
resp. der sprachlichen Verständigung Rechnung getragen werden muss, ist
letztlich die Bedeutung der Massnahme im Hinblick auf die in Frage stehende
Leistung. Es geht um die Aussagekraft und damit die beweismässige
Verwertbarkeit des Gutachtens als Entscheidungsgrundlage für den
Unfallversicherer und gegebenenfalls das Sozialversicherungsgericht. Diese
Grundsätze gelten insbesondere bei psychiatrischen Abklärungen (vgl. Urteil
I. vom 30. Dezember 2003 [I 245/00] Erw. 4.2.1 für den Bereich der
Invalidenversicherung).

4.
4.1 Nach Dr. med. R.________ wird das psychische Zustandsbild am besten durch
eine posttraumatische Belastungsstörung im Sinne von ICD-10 F43.1
beschrieben. Dabei ist die Sichtweise einer unbewussten, neurotischen
Dekompensation des bereits vorbestandenen instabilen psychischen
Gleichgewichtes durch den Verkehrsunfall vom 6. Juli 1999 wesentlich.
Differentialdiagnostisch ist eine depressive Episode gemäss ICD-10 F32 in
Betracht zu ziehen. Der Experte verneint einen krankheitswertigen psychischen
Vorzustand. Mit grosser Wahrscheinlichkeit habe vor dem Unfall vom 6. Juli
1999 eine gewisse Beeinträchtigung der Intelligenz und eine weitgehend
migrationsbedingte erhebliche Passivität im sozialen Bereich bestanden. Laut
Dr. med. R.________ wäre es mit sehr grosser Wahrscheinlichkeit ohne den
Verkehrsunfall nicht zur Entwicklung des vorliegenden psychischen
Beschwerdebildes gekommen. Als unfallfremde Faktoren an dieser Entwicklung
mitbeteiligt seien unter anderem die wahrscheinlich kulturell-, sozial- und
persönlichkeitsbedingte Eigenart der Versicherten, die früheren Belastungen
weitgehend zu verdrängen. Die Explorandin gehe über aussergewöhnlich
schwierige Lebensumstände und -ereignisse wie die Abwesenheit des Vaters,
welcher während 30 Jahren in Deutschland gearbeitet habe, sowie den Tod des
erstgeborenen Kindes einige Wochen nach der Geburt hinweg. Sie äussere nicht
nur keine negativen Gefühle, sondern stelle ihre Kindheit und
Herkunftsfamilie als problemlos und gut dar. «Die Versicherte konnte
vorherige, belastende Lebensumstände und -ereignisse (...) noch verdrängen,
nicht aber in einer reiferen Weise verarbeiten. Nach dem Unfall brach diese
innerseelische Abwehr zusammen und alle negativen Erfahrungen und Gefühle
wurden auf das Unfallereignis projiziert, entsprechend einem unbewussten
Übertragungsmechanismus» (Gutachten vom 5. August 2002).

4.2  Entgegen den Vorbringen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist das
Gutachten vom 5. August 2002 nicht deshalb in Zweifel zu ziehen, weil bei der
Untersuchung der Ehemann und der Sohn der Versicherten als Übersetzer
fungierten. Vorab wird zu Recht nicht geltend gemacht, Angehörige könnten
prinzipiell nicht Dolmetscherdienste leisten. Es bestehen sodann keinerlei
Hinweise für eine fehlerhafte oder nicht umfassende Übersetzung durch Ehemann
und Sohn etwa im Sinne einer Verfälschung, Verharmlosung oder Überzeichnung
von sie betreffenden Aussagen der Versicherten. Es verhält sich insoweit
anders als im Urteil B. vom 30. Dezember 2003 (I 451/00).

4.3  Hingegen ist der Schluss der Vorinstanz aus dem Gutachten vom 5. August
2002 auf eine eigenständige, allenfalls noch bestehende und mit der Zeit
abklingende somatische Beschwerden immer mehr überlagernde psychische
Erkrankung nicht hinreichend gesichert.

4.3.1  Vorab weist der psychiatrische Experte selber darauf hin, dass die
klinisch-diagnostischen Kriterien für eine posttraumatische Belastungsstörung
im Sinne von ICD-10 F43.1 streng genommen nicht erfüllt sind. Der
Verkehrsunfall vom 6. Juli 1999 kann nicht als «Situation aussergewöhnlicher
Bedrohung oder katastrophenartigen Ausmasses» bezeichnet werden, «die bei
fast jedem eine tiefe Verzweiflung hervorrufen würde»
(Weltgesundheitsorganisation [WHO], Internationale Klassifikation psychischer
Störungen, ICD-10 Kapitel V [F], Klinisch-diagnostische Leitlinien, 4. Aufl.
[Hrsg. Dilling/Mombour/Schmidt]; vgl. auch Murer/Kind/Binder,
Integritätsentschädigung für psychogene Störungen nach Unfällen?, in: SZS
38/1994, S. 192 f.; ferner in RKUV 1999 Nr. U 335 S. 207 nicht publizierte
Erw. 2 des Urteils K. vom 2. November 1998 [U 287/97]). Die Diagnose einer
posttraumatischen Belastungsstörung beruht wesentlich auf der Annahme, der
Unfall vom 6. Juli 1999 bilde eine Projektionsfläche für bis anhin nicht
verarbeitete und verdrängte, belastende Gefühle im Zusammenhang mit
Lebensereignissen und -umständen. Weshalb gerade dieses Ereignis zu einer
Dekompensation des bereits zuvor instabilen psychischen Gleichgewichts
führte, ist nicht einsichtig. Dr. med. R.________ hält selber fest, dass die
früheren Verlusterlebnisse (Abwesenheit des Vaters, des Ehemannes, Tod des
erstgeborenen Kindes) verglichen mit dem Unfall vom 6. Juli 1999 von
wesentlich existenziellerer Natur gewesen seien. Weshalb also soll eine Frau,
die gegenüber aussergewöhnlich schwierigen Lebensumständen und -ereignissen
gleichsam indolent ist, die insbesondere den Tod des erstgeborenen Kindes
durch die religiöse Aussage, Gott habe das Kind halt zu sich geholt,
«beschönigt», wie der Gutachter ausführt, als Folge des Unfalles ihr
bewusstseinsfernes Verarbeitungsmuster der Verdrängung belastender Gefühle im
Zusammenhang mit solch schwierigen Lebensumständen richtunggebend verändern?
Es entspricht im Übrigen einer Erfahrungstatsache, dass viele albanische
Männer getrennt von ihren Familien im Ausland arbeiten und so für den
Unterhalt der Familie aufkommen. Dass die Beschwerdeführerin als eines von
fünf Kindern und später als Mutter von drei eigenen Kindern unter der
Abwesenheit ihres Vaters und später ihres Ehemannes mehr als andere Töchter
oder Frauen in derselben Situation gelitten hatte, es aber nicht zeigen
konnte und durfte, wird nirgends gesagt. Sie selber äusserte sich gegenüber
dem Experten in dem Sinne, sie habe sich von beiden Elternteilen geliebt
gefühlt und kaum darunter gelitten, dass der Vater jeweils während eines
wesentlichen Teils des Jahres in Deutschland gelebt habe. In der Familie habe
es auch keine Aggressivität gegeben. Ihre Kindheit und Jugend sei gut
gewesen. Anderseits wird an mehreren Stellen im Gutachten auf eine
Minderintelligenz im Sinne eingeschränkter kognitiver Fähigkeiten
hingewiesen. Allerdings handelt es sich dabei um fremdanamnestische
Äusserungen. Neuropsychologische Abklärungen wurden keine durchgeführt.

4.3.2  Im Weitern verneint Dr. med. R.________ einen krankheitswertigen
psychischen Vorzustand. Mit grosser Wahrscheinlichkeit habe vor dem Unfall
vom 6. Juli 1999 eine gewisse Beeinträchtigung der Intelligenz und eine
weitgehend migrationsbedingte erhebliche Passivität im sozialen Bereich
bestanden. Es fehlten Hinweise auf eine unabhängig vom Unfallereignis sich
entwickelnde psychische Störung. Sodann werde das psychische Krankheitsbild
bis heute stärker durch Ein- und Durchschlafstörungen, Reizbarkeit oder
Wutausbrüche, Konzentrationsschwierigkeiten, Hypervigilanz und erhöhte
Schreckhaftigkeit geprägt als durch häufige Aspekte depressiver
Zustandsbilder wie Gefühle von Insuffizienz, Versagensangst und
Todessehnsucht. Anderseits sind laut Gutachter die gemäss ICD-10 für ein
somatisches Syndrom bei Depression geforderten vier Symptome gegeben. Der
Experte spricht sogar ausdrücklich von einer unfallbedingten Entwicklung
eines agitierten depressiven Zustandsbildes mit ausgeprägter Beeinträchtigung
von Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit und Durchhaltevermögen, was die
Verrichtung einfacher Tätigkeiten im Haushalt zeitweilig unmöglich mache.
Auf Grund dieser Aussagen ist von einer depressiven Entwicklung auszugehen.
Unklar ist, ob es sich hiebei um eine eigenständige (sekundäre) psychische
Gesundheitsschädigung handelt oder ob die organisch nicht nachweisbaren
Beschwerden, insbesondere die Kopf- und Nackenschmerzen sowie die
Konzentrationsstörungen, und die psychischen Beeinträchtigungen ein komplexes
Gesamtbild ergeben. Dass die depressive Entwicklung (auch) Symptom des
Traumas ist, lässt sich nicht rechtsgenüglich ausschliessen. Diese Frage kann
schon deshalb nicht offen bleiben, weil Dr. med. R.________ ein
vorbestehendes krankheitswertiges psychisches Leiden klar ausschliesst. Unter
diesen Umständen könnte nur dann ohne weiteres auf eine dominierende
psychische Problematik im Sinne von BGE 123 V 99 Erw. 2a und RKUV 2002 Nr. U
465 S. 437 geschlossen werden, wenn der psychiatrischen Hauptdiagnose einer
posttraumatischen Belastungsstörung verglichen mit und in Abgrenzung zur
depressiven Entwicklung eigenständige Bedeutung zukäme. Das lässt sich auf
Grund der Aussagen des Gutachters (vgl. Erw. 4.1) indessen nicht sagen.

4.4  Der streitige Anspruch auf Leistungen der Unfallversicherung für die
Zeit
ab 1. November 2002 liesse sich ohne weitere Abklärungen einzig verneinen,
wenn der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfall vom 6. Juli 1999
und den geklagten Beschwerden zu verneinen wäre. Das kantonale Gericht hat
die Frage offen gelassen. Die SUVA hat sich zu diesem Punkt in der
vorinstanzlichen Vernehmlassung geäussert. Nach Auffassung des
Unfallversicherers können die Beschwerden keinen organischen Ursprung haben.
Es komme daher lediglich eine rein psychische Ursache in Frage. Gemäss Dr.
med. R.________ seien die diagnostizierten psychischen Gesundheitsstörungen
natürliche teilkausale Unfallfolgen.
Der Argumentation der SUVA kann schon deshalb nicht gefolgt werden, weil das
Fehlen nachweisbarer organischer Defekte ein Schleudertrauma der HWS im
unfallversicherungsrechtlichen Sinne nicht ohne weiteres ausschliesst. Ob
eine solche oder ähnliche Verletzung gegeben ist, kann aber nach dem in Erw.

4.3  Gesagten im Hinblick auf die Frage, ob der adäquate Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfall vom 6. Juli 1999 und den geklagten Beschwerden nach
Massgabe von BGE 117 V 359 oder BGE 115 V 133 zu prüfen ist, nicht offen
gelassen werden (vgl. Urteil H. vom 27. Juni 2000 [U 57/99] Erw. 3b).

4.5  Die SUVA wird in Beachtung der Ausführungen in Erw. 4.3 und 4.4 weitere
Abklärungen vorzunehmen haben. Dabei erscheint es angezeigt, eine erneute
psychiatrische Begutachtung durch einen der Muttersprache der versicherten
Person kundigen Experten oder unter Beizug eines Übersetzers durchführen zu
lassen (vgl. Erw. 3.2).

5.
Dem Prozesssausgang entsprechend hat die Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht und auch vor dem kantonalen
Versicherungsgericht Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 OG in
Verbindung mit Art. 135 OG sowie Art. 61 lit. g ATSG in Verbindung mit Art. 2
ATSG und Art. 1 Abs. 1 UVG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 22. Oktober
2003 und der Einspracheentscheid vom 12. Dezember 2002 aufgehoben und es wird
die Sache an die SUVA zurückgewiesen, damit sie nach Abklärungen im Sinne der
Erwägungen über den Anspruch auf Leistungen nach UVG aus dem Unfall vom 6.
Juli 1999 ab 1. November 2002 neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die SUVA hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozessen zu befinden.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
Luzern, 30. August 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: