Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 32/2003
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U 32/03

Urteil vom 3. September 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Lustenberger; Gerichtsschreiberin
Schüpfer

Vaudoise Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft, Place de Milan, 1007
Lausanne, Beschwerdeführerin,

gegen

F.________, 1926, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Jean
Baptiste Huber, Untermüli 6, 6300 Zug

Verwaltungsgericht des Kantons Zug, Zug

(Entscheid vom 19. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
Die 1926 geborene F.________ arbeitete als Klavier- und Gesangslehrerin u.a.
an der Jugendmusikschule der Gemeinde G.________ und am Institut I.________.
Am 26. Februar 1997 glitt sie, bei den Vaudoise Allgemeine
Versicherungs-Gesellschaft (Waadt) obligatorisch gegen die Folgen von
Unfällen und Berufskrankheiten versichert, auf einer Treppe aus und stürzte.
Sie zog sich dabei u.a. am linken Ellbogen Olecranon-Frakturen mit
Dislokation zu. Die Waadt anerkannte ihre Leistungspflicht. Nachdem
F.________ von verschiedenen Ärzten behandelt und begutachtet worden war,
richtete ihr die Unfallversicherung eine Integritätsentschädigung von 17,5 %
aus. Im Weiteren teilte sie der Versicherten mit, dass die vorübergehenden
Leistungen (Taggeld und Heilbehandlung) per 30. September 2000 eingestellt
würden. Ein Anspruch auf eine Invalidenrente bestehe nicht (Verfügung vom 22.
September 2000). Daran hielt die Waadt mit Einspracheentscheid vom 9. März
2001 fest.

B.
Beschwerdeweise liess F.________ die Ausrichtung einer Invalidenrente von
mindestens 70 % beantragen. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug erkannte
auf einen Invaliditätsgrad von 57 % und sprach der Versicherten ab 1. Oktober
2000 eine Invalidenrente in diesem Umfang zu (Entscheid vom 19. Dezember
2002).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Waadt die Aufhebung des
kantonalen Entscheides.

F. ________ und das Verwaltungsgericht des Kantons Zug schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für
Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Invalidenrente der
obligatorischen Unfallversicherung.

Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff
der Invalidität gemäss Art. 18 Abs. 2 Satz 1 UVG (hier anwendbare, bis zum
31. Dezember 2002 [In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts, ATSG, am 1. Januar 2003] gültig gewesene
Bestimmung; BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b), die Voraussetzungen des
Rentenanspruchs (Art. 18 Abs. 1 [in der vorliegend anwendbaren, bis 30. Juni
2001 gültig gewesenen Fassung] UVG), dessen Entstehung (Art. 19 Abs. 1 UVG)
und die Invaliditätsbemessung nach der Einkommensvergleichsmethode (Art. 18
Abs. 2 Satz 2 UVG; BGE 114 V 313 Erw. 3a, 104 V 136 Erw. 2a und b),
insbesondere bei Versicherten im vorgerückten Alter (Art. 28 Abs. 4 UVV; zur
Gesetzmässigkeit dieser Bestimmung: BGE 122 V 426) sowie die hypothetische
Bestimmung des Invalideneinkommens (BGE 126 V 75 ff.) zutreffend dargelegt.
Darauf wird verwiesen.

2.
Einigkeit besteht, dass die Beschwerdegegnerin als Folge der beim Unfall vom
26. Februar 1997 zugezogenen intraartikulären Olecranon-Fraktur links, die zu
einer fortschreitenden Arthrose im Humeroulnar-Gelenk führte, in ihrem
angestammten Beruf als Klavier- und Gesangslehrerin nicht mehr arbeitsfähig
ist. Der die Versicherte begutachtende Dr. med. A.________, Orthopädie und
Handchirurgie FMH, hält in seinem Zusatzgutachten vom 12. Juni 2000 dafür,
die Versicherte könnte aus rein gesundheitlicher Sicht - das heisst unbesehen
ihres Alters von damals 74 Jahren - nach einer Umschulungs- und
Angewöhnungszeit in einer leichten Verweisungstätigkeit beispielsweise als
Beraterin in einem Musikaliengeschäft oder als Sing- und Musiklehrerin an
einer Schule wieder in einem Umfang von 50 % tätig sein. Diese medizinische
Stellungnahme wird nicht angezweifelt.

3.
3.1 Das kantonale Gericht hat erwogen, die Verwertung der Restarbeitsfähigkeit
scheitere bei der Beschwerdegegnerin im Wesentlichen an ihrem vorgerückten
Alter, weshalb Art. 28 Abs. 4 UVV anwendbar sei. Zu dem für die Ermittlung
des Invaliditätsgrades durchzuführenden Einkommensvergleich habe demnach eine
42-jährige Person mit den gleichen beruflichen und persönlichen
Qualifikationen wie die Versicherte zu dienen. Zur Bezifferung des
hypothetischen Valideneinkommens hat die Vorinstanz das Erwerbseinkommen, das
die Beschwerdegegnerin laut Steuererklärung im Jahr vor dem Unfall verdient
hatte, auf ein volles Pensum laut dem Lehrerbesoldungsgesetz des Kantons Zug
umgerechnet, und der Lohnentwicklung bis ins Jahr 2001 angepasst. Für die
Bestimmung des Invalideneinkommens stellte sie auf die Schweizerischen
Lohnstrukturerhebungen (LSE) 2000 ab. Unter Berücksichtigung eines zumutbaren
Pensums von 50 % und eines Abzuges von 10 % aufgrund der weiteren
Einschränkungen schätzte das kantonale Gericht die hypothetische
Einkommenseinbusse auf 57 %, womit die Beschwerdegegnerin einen
Rentenanspruch in diesem Umfang ab 1. Oktober 2000 habe.

3.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird insbesondere gerügt,
öffentliche Arbeitsverhältnisse laut Lehrerbesoldungsgesetz fänden ihr Ende
mit demjenigen des Schulhalbjahres, in welchem das 64. Altersjahr erreicht
würde. Für die im Zeitpunkt des Unfalls bereits über 70 Jahre alte
Beschwerdegegnerin sei es demnach nicht anwendbar. Zudem sei das
Valideneinkommen zu Unrecht auf ein volles Unterrichtspensum aufgerechnet
worden. Schliesslich könnte die Beschwerdegegnerin aufgrund ihrer
Sprachkenntnisse auch im Unterrichtswesen, namentlich als Lehrerin für
französisch und/oder italienisch tätig sein und würde damit keine
Erwerbseinbusse erleiden.

4.
4.1
4.1.1Für die Vornahme des Einkommensvergleichs ist grundsätzlich auf die
Gegebenheiten im Zeitpunkt des allfälligen Rentenbeginns abzustellen (BGE 128
V 174 Erw. 4a); vorliegend also auf diejenigen ab Oktober 2000. Damals war
die Beschwerdegegnerin 74 Jahre alt. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie
ihren seit Jahrzehnten ausgeübten Beruf als Klavier- und Gesangslehrerin
nicht wieder aufnehmen. Das wird von keiner Seite bestritten. Sie ist in der
Folge auch nicht mehr beruflich tätig geworden. Mit Verwaltung und Vorinstanz
ist daher davon auszugehen, dass Art. 28 Abs. 4 UVV zur Anwendung kommt,
weshalb der Invaliditätsgrad der Beschwerdegegnerin mit den Einkommen
(Validen- und Invalideneinkommen) zu bestimmen ist, welche eine Versicherte
im mittleren Alter von ca. 42 Jahren verdienen würde (BGE 114 V 315 Erw. 4a).
Damit stösst der Einwand ins Leere, eine über 70-jährige Frau würde der
Lehrerbesoldungsordnung nicht mehr unterstehen; für eine 42-jährige Person
trifft dies nicht zu. Der Argumentation der Waadt folgend könnte ein
Invalidenrentenanspruch nach Eintritt des AHV-Alters kaum mehr entstehen. Das
entspricht aber nicht der gesetzlichen Regelung. Ein entsprechender Vorschlag
zur Gesetzesänderung wurde offenbar in der Beratung über den ATSG
fallengelassen (vgl. zum Ganzen: Peter Omlin, Die Invalidität in der
obligatorischen Unfallversicherung mit besonderer Berücksichtigung der
älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, Diss. 1995 S. 242 f.). Mit dem
kantonalen Gericht ist für die Bestimmung des Valideneinkommens der
Beschwerdegegnerin von demjenigen einer Musiklehrerin mit derselben
Ausbildung im genannten Alter auszugehen. Es ist nichts dagegen einzuwenden,
sich dafür auf die kantonale Lehrerbesoldungsordnung zu stützen. Dabei kommt
gerade keine Reduktion der Arbeitszeit durch eine Altersentlastung zum
Tragen.

4.1.2 Im Rahmen des Unfallversicherungsrechts muss das Valideneinkommen
unabhängig davon bestimmt werden, ob die versicherte Person vor dem Unfall
eine Teilzeit- oder eine Vollzeiterwerbstätigkeit ausgeübt hat. Sowohl bei
der Festlegung des hypothetischen Valideneinkommens, als auch des
Invalidenlohnes ist, anders als in der Invalidenversicherung, von einer
vollzeitlich erwerbstätigen Person auszugehen (BGE 119 V 480 Erw. 2; vgl.
Alexandra Rumo-Jungo, Rechtsprechung zum Bundesgesetz über die
Unfallversicherung, 3. Aufl., 2003, S. 128). Auch in diesem Punkt kann der
Argumentation der Waadt nicht gefolgt werden. Das Valideneinkommen bemisst
sich demnach wie folgt: Bruttoeinkommen im letzten Jahr vor dem Unfall (1996)
Fr. 40'518.-, aufgerechnet auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns im Jahre 2000
(BGE 128 V 174) gemäss Tabelle T1.93 (Nominallohnindex 1996-2001 der
Veröffentlichung der Lohnentwicklung 2001 des Bundesamtes für Statistik) im
Unterrichtswesen (Fr. 40'518 : 102,4 x 104,9) entspricht Fr. 41'507.- bei
durchschnittlich 19,15 Wochenstunden. Bei einem vollen Pensum von 29 Stunden
Unterricht pro Woche ist das Valideneinkommen auf Fr. 62'857.- festzusetzen.

4.2 Mit der Vorinstanz ist für die Schätzung des Invalideneinkommens auf die
Begutachtung von Dr. med. A.________ abzustellen. Demnach könnte die
Beschwerdegegnerin an einer den linken Arm überhaupt nicht belastenden Stelle
noch zu 50 % tätig sein. Es kann auf die entsprechende Berechnung des
Invalideneinkommens mittels statistischer Durchschnittswerte durch das
kantonale Gericht verwiesen werden, wobei auch hier die Zahlen für das Jahr
des Rentenbeginns, somit 2000, massgebend sind (Fr. 4773.- monatlich für
Frauen mit Berufs- und Fachkenntnissen im Wirtschaftszweig Unterhaltung,
Kultur, Sport: 40 x 41,8 Wochenstunden x 12 Monate), was bei einer zumutbaren
Belastung von 50 % Fr. 29'922.- im Jahr ergibt. Die Vorinstanz hat in
sorgfältiger Prüfung der gemäss Rechtsprechung (BGE 126 V 75 ff.) relevanten
Kriterien unter dem Titel leidensbedingter Abzug von diesem Betrag eine
Reduktion von 10 % vorgenommen. Dies ist auch im Lichte der
Angemessenheitskontrolle sowie der fehlenden Bindung an die
Tatsachenfeststellung (Art. 132 lit. a, b OG) nicht zu beanstanden. Damit
beträgt das hypothetische Invalideneinkommen Fr. 26'930.- und der
Invaliditätsgrad 57 %. Das bereits vor dem kantonalen Gericht vorgebrachte
Argument der Beschwerdeführerin, aufgrund ihrer Kenntnisse könnte die
Versicherte auch als Französisch- oder Italienischlehrerin tätig sein und
damit ein rentenausschliessendes Erwerbseinkommen erzielen, ist im
angefochtenen Entscheid entkräftet worden, worauf verwiesen wird.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Die obsiegende, anwaltlich
vertretene Beschwerdegegnerin hat Anspruch auf eine Parteientschädigung zu
Lasten der Waadt (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Vaudoise Allgemeine Versicherungs-Gesellschaft hat der Beschwerdegegnerin
eine Parteientschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug,
Sozialversicherungsrechtliche Kammer, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 3. September 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: