Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 261/2003
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U 261/03

Urteil vom 3. Dezember 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Attinger

A.________, 1975, Beschwerdeführerin, vertreten durch Advokat Markus Schmid,
Steinenschanze 6, 4051 Basel,

gegen

Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Rechtsdienst, Generaldirektion Schweiz,
8085 Zürich, Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 18. August 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1975 geborene A.________, gelernte Laboristin, war ab anfangs Oktober
1998 in einem Restaurant der Firma X.________ als Kassierin/Verkäuferin
angestellt und bei der "Zürich" Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend:
"Zürich") obligatorisch gegen Unfälle versichert. Am 22. November 1998 wurde
sie am Steuer ihres Personenwagens in eine Auffahrkollision mit drei
beteiligten Fahrzeugen verwickelt: Nachdem sie ihren Wagen als zweites
Fahrzeug hinter einem Fussgängerstreifen angehalten hatte, konnte der hinter
ihr fahrende Verkehrsteilnehmer seinen Personenwagen wegen Unaufmerksamkeit
nicht mehr voll abbremsen. Er fuhr auf den Wagen der Versicherten auf und
schob diesen in das Heck des davor stehenden Fahrzeugs. Wegen am folgenden
Tag auftretender Nackenschmerzen suchte A.________ ihren Hausarzt Dr.
S.________ auf, welcher ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS)
diagnostizierte und eine vollständige Arbeitsunfähigkeit bescheinigte. Vom 9.
bis 11. Dezember 1998 unternahm die Versicherte an ihrer bisherigen Stelle
einen - misslungenen - Arbeitsversuch. In der Folge ging sie keiner
Erwerbstätigkeit mehr nach. Die "Zürich" richtete Taggelder aus und übernahm
die Heilbehandlung, so auch die stationären Aufenthalte in der Rheuma- und
Rehabilitationsklinik Y.________ (vom 8. bis 29. April 1999) sowie in der
Klinik für Neurologische Rehabilitation Q.________ (vom 6. bis 27. November
2000). Mit Verfügung vom 10. Dezember 2001, bestätigt mit Einspracheentscheid
vom 10. Mai 2002, stellte die "Zürich" ihre Leistungen auf das
Verfügungsdatum hin ein, weil der adäquate Kausalzusammenhang zwischen dem
Unfallereignis und den noch vorhandenen gesundheitlichen Beschwerden verneint
werden müsse.

B.
Das Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt wies die gegen den
Einspracheentscheid erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 18. August 2003 ab.
Gleichzeitig sprach das kantonale Gericht dem Rechtsvertreter der
Versicherten zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung eine
Entschädigung von Fr. 2152.- aus der Staatskasse zu.

C.
A.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag auf
Weiterausrichtung der gesetzlichen Leistungen über den 10. Dezember 2001
hinaus. Überdies lässt sie auch für das letztinstanzliche Verfahren um
Bewilligung der unentgeltlichen Verbeiständung ersuchen.

Die "Zürich" schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Unter sämtlichen Verfahrensbeteiligten ist letztinstanzlich unbestritten,
dass der für die Leistungspflicht des Unfallversicherers zunächst
vorausgesetzte natürliche Kausalzusammenhang (BGE 129 V 181 Erw. 3.1, 406
Erw. 4.3.1, je mit Hinweisen) zwischen dem am 22. November 1998 erlittenen
Verkehrsunfall und den über den 10. Dezember 2001 hinaus anhaltenden
Beschwerden (neurasthenisches Syndrom [mit dysphorischer Verstimmung und
rascher Erschöpfung in Verbindung mit somatischen Beschwerden], anhaltende
somatoforme Schmerzstörung mit Beschwerden im Bereich der gesamten
Wirbelsäule [mit pseudoradikulärer Ausstrahlung in die unteren Extremitäten],
kribbelnden Missempfindungen und Schwellungen in beiden Händen,
wetterabhängigen Kniegelenksbeschwerden sowie Kopfschmerzen) mit Blick auf
das in erster Linie heranzuziehende Gutachten des Neurologen und Psychiaters
Dr. K.________, Chefarzt der Klinik für Neurologische Rehabilitation
Q.________, vom 15. Januar 2001 (einschliesslich des zugehörigen
neuropsychologischen Teilgutachtens) mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
zumindest im Sinne einer Teilkausalität gegeben ist. Von der in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragten ergänzenden medizinischen Abklärung
der Unfallkausalität kann unter diesen Umständen abgesehen werden.

1.2 Die Vorinstanz hat sodann im angefochtenen Entscheid die Rechtsprechung
zum für die Leistungspflicht des Unfallversicherers weiter vorausgesetzten
adäquaten Kausalzusammenhang zwischen einem Unfall mit Schleudertrauma der
HWS ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle und den hernach andauernden
Beschwerden mit Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit (BGE 117 V
359) zutreffend wiedergegeben. Das kantonale Gericht hat überdies richtig
dargelegt, dass die Beurteilung der Adäquanz in denjenigen Fällen, in welchen
die zum typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas der HWS gehörenden
Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben sind, im Vergleich zur vorliegenden
ausgeprägten psychischen Problematik aber ganz in den Hintergrund treten,
nach der für psychische Fehlentwicklungen nach Unfällen geltenden
Rechtsprechung (BGE 115 V 133) vorzunehmen ist (BGE 127 V 103 Erw. 5b/bb, 123
V 99 Erw. 2a mit Hinweisen; vgl. auch RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437). Gleiches
gilt, wenn die im Anschluss an den Unfall auftretenden psychischen Störungen
nicht zum typischen Beschwerdebild eines HWS-Traumas gehören.
Erforderlichenfalls ist vorgängig der Adäquanzbeurteilung zu prüfen, ob es
sich bei den im Anschluss an den Unfall geklagten psychischen
Beeinträchtigungen um blosse Symptome des erlittenen Traumas oder aber um
eine selbstständige (sekundäre) Gesundheitsschädigung handelt, wobei für die
Abgrenzung insbesondere Art und Pathogenese der Störung, das Vorliegen
konkreter unfallfremder Faktoren oder der Zeitablauf von Bedeutung sind (RKUV
2001 Nr. U 412 S. 80; Urteil F. vom 26. November 2001, U 409/00).

2.
2.1 Dr. K.________ gelangte in seinem einlässlichen neurologischen und
psychiatrischen Gutachten vom 15. Januar 2001 zum Schluss, dass auf Grund der
zwei Jahre nach dem Unfallereignis weiter anhaltenden Beschwerdesymptomatik,
des zusätzlichen Auftretens neuartiger Symptome sowie der
Beschwerdeprogredienz nicht von einem typischen Verlauf nach erlittener
"leichtgradiger HWS-Distorsion" ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle
ausgegangen werden könne. Der Gutachter verweist neben dem Vorzustand
bezüglich Nackenbeschwerden (beginnende Osteochondrose C5/6, initial
linksseitige Unkarthrose) und vorbestehenden Kopfschmerzen (die
Beschwerdeführerin wurde deswegen neun Tage vor dem Unfall neurologisch
abgeklärt, wobei das EEG einen Grenzbefund zu einer leichten unspezifischen
Allgemeinveränderung ergab) insbesondere auf das psychosoziale Umfeld und
"Bewältigungsstrategien im Umgang mit schwierigen Situationen": Nach der 1994
bestandenen Lehrabschlussprüfung konnte die Versicherte wegen einer Allergie
nie als Laboristin arbeiten und fand in beruflicher Hinsicht auch anderweitig
den Tritt nicht. Zufolge der Angaben gegenüber dem Psychologen M.________,
Rehabilitationszentrum Q.________, welcher das erwähnte neuropsychologische
Teilgutachten erstellte, übte die Beschwerdeführerin "nach einem einjährigen
psychischen Down (...) verschiedene Gelegenheitsjobs" aus. Die anschliessend
begonnene Lehre als Medizinlaborantin habe 1996 mit der Entlassung der
Versicherten geendet. Die Aufnahmeprüfung für eine ähnliche Schule habe die
Beschwerdeführerin nicht bestanden, eine weitere in Angriff genommene
Ausbildung in einer Abendschule von sich aus abgebrochen. Überdies ist den
Akten zu entnehmen, dass sich die Versicherte im Zeitpunkt des Unfalls bei
der Firma X.________ noch im Probearbeitsverhältnis befunden hat, welches in
der Folge vonseiten der Arbeitgeberin gekündigt wurde. Nach Auffassung des
neurologischen und psychiatrischen Experten Dr. K.________ ist die
geschilderte psychosoziale Problematik im Wesentlichen dafür verantwortlich,
dass die berufliche Wiedereingliederung bisher scheiterte und es zu einer
Chronifizierung der Beschwerdesymptomatik gekommen ist. Auch der Verfasser
des neuropsychologischen Teilgutachtens erblickt in den verschiedenen
psychosozialen Belastungsfaktoren "wie mangelnde monetäre Ressourcen und der
in den letzten Jahren missglückte Berufseinstieg (drohende
Perspektivlosigkeit)" Gründe für eine (drohende) Chronifizierung der
Schmerzen.

2.2 Im Hinblick auf diese medizinischen Beurteilungen ist davon auszugehen,
dass sich im Anschluss an das beim Unfall erlittene Schleudertrauma der HWS
eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) und ein
neurasthenisches Syndrom (ICD-10: F48.0) entwickelt haben (S. 24 des
Gesamtgutachtens vom 15. Januar 2001). Bei diesem Prozess wirkten gemäss den
Erkenntnissen des Neurologen und Psychiaters Dr. K.________ und des
Psychologen M.________ insbesondere unfallfremde psychosoziale Faktoren mit,
wobei das Unfallgeschehen selbst in den Hintergrund getreten zu sein scheint.
Die diagnostizierten psychischen Leiden der Beschwerdeführerin bilden
jedenfalls nicht Teil des typischen ("bunten") Beschwerdebildes nach
HWS-Traumen (vgl. hiezu BGE 117 V 360 Erw. 4b und 382 Erw. 4b) und stellen
daher nicht primäre Folgen des Unfalls dar. Vielmehr handelt es sich um
selbstständige sekundäre Gesundheitsschädigungen. Es ist somit nicht zu
beanstanden, wenn die Vorinstanz im Ergebnis zum Schluss gelangte, dass der
adäquate Kausalzusammenhang nach Massgabe der in BGE 115 V 138 Erw. 6 und 407
Erw. 5 entwickelten und seither ständig angewandten Rechtsprechung des
Eidgenössischen Versicherungsgerichts (vgl. BGE 129 V 183 Erw. 4.1) zu
beurteilen ist, d.h. mit der Differenzierung zwischen physischen und
psychischen Komponenten der unfallbezogenen Merkmale (BGE 117 V 367 Erw. 6a
in fine; SVR 2003 UV Nr. 12 S. 36 Erw. 3.2.3).

3.
3.1 Auf Grund des augenfälligen Geschehensablaufs und der erlittenen
Verletzungen ist der Autounfall vom 22. November 1998 - in Übereinstimmung
mit der Beschwerdeführerin und entgegen der Auffassung des kantonalen
Gerichts - dem Bereich der mittelschweren Unfälle und innerhalb dieses
Rahmens eher den leichteren Fällen zuzuordnen (vgl. RKUV 2003 Nr. U 489 S.
360 Erw. 4.2 am Anfang). In diesem Zusammenhang gilt es festzuhalten, dass
unfallanalytische Erkenntnisse und biomechanische Überlegungen allenfalls
gewichtige Anhaltspunkte zur mit Blick auf die Adäquanzprüfung relevanten
Schwere des Unfallereignisses zu liefern vermögen; sie bilden jedoch
rechtsprechungsgemäss für sich allein in keinem Fall eine hinreichende
Grundlage für die Kausalitätsbeurteilung (RKUV 2003 Nr. U 489 S. 359 mit
Hinweisen). Für die Bejahung der adäquaten Kausalität wäre daher
erforderlich, dass zumindest ein einzelnes unfallbezogenes Kriterium in
besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist oder dass die praxisgemäss zu
berücksichtigenden Merkmale in gehäufter oder auffallender Weise gegeben sind
(BGE 117 V 367 Erw. 6b, 384 Erw. 4c, 115 V 140 Erw. 6c/bb, 409 Erw. 5c/bb).

3.2 Der Unfall ereignete sich bei objektiver Betrachtung weder unter
besonders dramatischen Begleitumständen, noch war er durch eine besondere
Eindrücklichkeit gekennzeichnet. Ferner kann weder von einer schweren noch
von einer im Hinblick auf die in Frage stehende Adäquanzbeurteilung besonders
gearteten Verletzung gesprochen werden. Für eine ärztliche Fehlbehandlung,
welche die Unfallfolgen erheblich verschlimmert hätte, fehlen jegliche
Hinweise. Des Weitern kann insofern nicht von einer ungewöhnlich langen Dauer
der ärztlichen Behandlung gesprochen werden, als diese etwa ein Jahr nach dem
Unfallereignis vom 22. November 1998 in immer stärkerem Masse durch die
psychogene Fehlverarbeitung bestimmt wurde und sich immer weniger gegen die
primären Unfallfolgen richtete. Dieser Wandel vom nach dem Unfallereignis
bestehenden vielschichtigen somatisch-psychischen Beschwerdebild nach
erlittenem HWS-Trauma zur davon klar abzugrenzenden sekundären
Gesundheitsschädigung psychogener Natur (neurasthenisches Syndrom, anhaltende
somatoforme Schmerzstörung) vollzog sich nach der Aktenlage noch im Jahre
1999. Als Ausdruck der von Dr. K.________ als (für ein Schleudertrauma der
HWS) "nicht charakteristisch" beurteilten Beschwerdeprogredienz erhob nämlich
der damals behandelnde Rheumatologe Dr. H.________ anlässlich der
Kontrolluntersuchung vom 29. September 1999 den Befund einer "massiven
Verschlimmerung des Cervicalsyndroms" (ärztliches "Folgezeugnis" vom 3.
Dezember 1999). Dieselben Überlegungen gelten auch im Hinblick auf die Dauer
der physisch bedingten Arbeitsunfähigkeit. Aus rein somatischer Sicht hätte
die Beschwerdeführerin wohl rund ein Jahr nach dem Unfall wieder zu einer
vollständigen Leistungsfähigkeit am angestammten oder einem anderweitigen
Arbeitsplatz zurückgefunden. Unter diesem Blickwinkel sind auch die
unfallbezogenen Kriterien des schwierigen Heilungsverlaufs oder erheblicher
Komplikationen und der körperlichen Dauerschmerzen zu verneinen. Die
praxisgemäss vorzunehmende Gesamtwürdigung führt nach dem Gesagten
klarerweise zur Verneinung des adäquaten Kausalzusammenhangs. Die -
vorinstanzlich bestätigte - Leistungseinstellung seitens der "Zürich"
erfolgte demnach zu Recht.

4.
Dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung kann entsprochen
werden, da die hiefür nach Gesetz (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG)
und Rechtsprechung (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen)
erforderlichen Voraussetzungen erfüllt sind. Es wird indessen ausdrücklich
auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der
Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande
ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Advokat Markus
Schmid, Basel, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt
und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 3. Dezember 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: