Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 256/2003
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U 256/03

Urteil vom 9. Januar 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Schmutz

Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft, Hohlstrasse 552, 8048 Zürich,
Beschwerdeführerin,

gegen

1. E.________,
2. T.________,
3. C.________,
Beschwerdegegner, 2+3 vertreten durch ihre Mutter,
alle vertreten durch Rechtsanwalt Urs Rudolf, Ober-Emmenweid 46, 6021
Emmenbrücke

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 10. September 2003)

Sachverhalt:

A.
A. ________ war als Lehrer tätig und über seine Arbeitgeberin bei der Allianz
Suisse Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: Allianz) obligatorisch gegen
Unfall versichert. An einem Sonntag hielt er sich in den Räumen der Schule
auf. Nachdem er offenbar mehrmals vergeblich versucht hatte, seine Freundin
per Natel und SMS zu erreichen, schrieb er ihr einen Brief. Darauf vermerkte
er die Uhrzeit "23.00". Um 23.50 Uhr stürzte er durch ein geöffnetes Fenster
aus einem Schulzimmer in die Tiefe. Gemäss dem Bericht des Arztes Dr. med.
S.________ starb A.________ durch eine ausgedehnte Schädel-Hirn-Verletzung
mit Genickbruch, die unmittelbar zum Atemstillstand führte. A.________
hinterliess die von ihm geschiedene Ehefrau E.________ sowie die Kinder
(nachfolgend: Hinterlassene). Mit Verfügung vom 6. Mai 2002 lehnte die
Allianz den Anspruch auf Leistung einer Hinterlassenenrente ab, weil es sich
beim Tod von A.________ nicht um einen Unfall gehandelt habe, da der
Versicherte den Tod absichtlich herbeigeführt habe. Auf Grund der
Untersuchungsberichte müsse davon ausgegangen werden, dass der Versicherte im
Zeitpunkt der suizidalen Handlung nicht gänzlich urteilsunfähig gewesen sei.
Die dagegen erhobene Einsprache wies die Allianz mit Einspracheentscheid vom
26. Februar 2003 ab.

B.
Beschwerdeweise liessen die Hinterlassenen beantragen, die Allianz sei zu
verpflichten, ihnen eine Hinterlassenenrente auszurichten. Das
Verwaltungsgericht des Kantons Luzern befand den grundlegenden Sachverhalt
durch die Allianz nicht genügend abgeklärt. Es hiess die Beschwerde mit
Entscheid vom 10. September 2003 in dem Sinne gut, dass es den
Einspracheentscheid vom 26. Februar 2003 aufhob und die Sache an die Allianz
zurückwies, damit sie, nach erfolgten Abklärungen im Sinne der Erwägungen,
neu verfüge. Das kantonale Gericht erwog, es sei im Hinblick auf eine
rechtsgenügliche Sachverhaltsabklärung unerlässlich, eine psychiatrische
Begutachtung des Verstorbenen durchzuführen, welche über den Gemütszustand,
insbesondere die Urteilsfähigkeit des Versicherten - bezogen auf den
massgebenden Zeitpunkt - Auskunft geben solle. Auch seien die gesamten
Lebensumstände des Suizidenten mittels Befragung der Hinterlassenen und
Bekannten genau abzuklären und den Hinterlassenen die Möglichkeit zur
Stellungnahme einzuräumen.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Allianz, der kantonale
Entscheid sei aufzuheben und der Einspracheentscheid zu bestätigen.
Vorinstanz und Hinterlassene schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung
(seit 1. Januar 2004: Bundesamt für Gesundheit) auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der Unfallversicherung geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), sind im vorliegenden Fall
die neuen Bestimmungen nicht anwendbar.

2.
Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

3.
3.1 Gemäss Art. 37 Abs. 1 UVG besteht - mit Ausnahme der Bestattungskosten -
kein Anspruch auf Versicherungsleistungen, wenn der Versicherte den
Gesundheitsschaden oder den Tod absichtlich herbeigeführt hat. Wollte sich
der Versicherte nachweislich das Leben nehmen (oder sich selbst verstümmeln),
so findet Art. 37 Abs. 1 UVG keine Anwendung, wenn der Versicherte zur Zeit
der Tat ohne Verschulden gänzlich unfähig war, vernunftgemäss zu handeln
(Art. 48 UVV).

3.2 Zu ergänzen ist, dass bei Suizid zur Begründung der Leistungspflicht des
Unfallversicherers mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Geisteskrankheit
oder eine schwere Störung des Bewusstseins nachgewiesen sein müssen, also
psychopathologische Symptome wie Wahn, Sinnestäuschungen, depressiver Stupor
(plötzlicher Erregungszustand mit Selbsttötungstendenz), Raptus (plötzlicher
Erregungszustand als Symptom einer seelischen Störung) u.a.m. Dazu muss das
Motiv zum Suizid oder Suizidversuch aus der geisteskranken Symptomatik
stammen, mit anderen Worten muss die Tat "unsinnig" sein. Eine blosse
"Unverhältnismässigkeit" der Tat, indem der Suizident seine Lage in
depressiv-verzweifelter Stimmung einseitig und voreilig einschätzt, genügt
zur Annahme von Urteilsunfähigkeit nicht. Für deren Nachweis ist nicht bloss
die zu beurteilende Suizidhandlung von Bedeutung und somit nicht allein
entscheidend, ob diese als unvernünftig, uneinfühlbar oder abwegig erscheint.
Vielmehr ist auf Grund der gesamten Umstände, wozu das Verhalten und die
Lebenssituation des Versicherten vor dem Selbsttötungsereignis insgesamt
gehören, zu beurteilen, ob er in der Lage gewesen wäre, den Suizid oder
Suizidversuch vernunftmässig zu vermeiden oder nicht. Der Umstand, dass die
Suizidhandlung als solche sich nur durch einen krankhaften, die freie
Willensbetätigung ausschliessenden Zustand erklären lässt, stellt nur ein
Indiz für das Vorliegen von Urteilsunfähigkeit dar (RKUV 1996 Nr. U 267 S.
310 f. Erw. 2b).

3.3 Nach der Rechtsprechung muss der Leistungsansprecher, da er das Vorliegen
eines Unfalles zu beweisen hat, auch die Unfreiwilligkeit der Schädigung und
bei Suizid oder Suizidversuch die Urteilsunfähigkeit nach Art. 16 ZGB zur
Zeit der Tat nachweisen (SVZ 68 2000 S. 202; RKUV 1996 Nr. U 247 S. 171/172
Erw. 2a und b). Den Parteien obliegt jedoch in dem vom Untersuchungsgrundsatz
beherrschten Sozialversicherungsprozess keine subjektive Beweisführungslast
im Sinne von Art. 8 ZGB. Eine Beweislast besteht nur insofern, als im Falle
der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus
dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese
Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist,
im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen
Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat,
der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 264 Erw. 3b; SVZ 68 2000 S. 202).
Dass der Versicherte willentlich aus dem Leben geschieden ist, darf nur dann
als nachgewiesen gelten, wenn gewichtige Indizien jede andere den Umständen
angemessene Deutung ausschliessen. Deshalb ist in solchen Fällen zunächst von
der durch den Selbsterhaltungstrieb gegebenen Vermutung auszugehen, es liege
keine Selbsttötung vor, und sodann zu fragen, ob derart überzeugende Umstände
vorliegen, dass diese Vermutung widerlegt wird (RKUV 1996 Nr. U 247 S.
171/172 Erw. 2a und b).

3.4 Für die von einem psychiatrischen Sachverständigen im Zusammenhang mit
einem vollendeten Suizid zu beantwortenden Fragen nach der Art der
psychischen Erkrankung und der Besinnungsfähigkeit des Suizidenten im
Zeitpunkt der Tat erscheint grundsätzlich eine Befragung der nächsten
Angehörigen unerlässlich, und zwar auch dann, wenn der Unfallversicherer im
Verwaltungsverfahren bereits eingehende Befragungen von Angehörigen und
weiteren Auskunftspersonen durchgeführt hat. Denn den
Aussendienstmitarbeitern der Unfallversicherer fehlen jene
medizinisch-psychiatrischen Kenntnisse, die für eine umfassende Anamnese und
die Feststellung der medizinisch erheblichen Symptome, Beschwerden und
Verhaltensweisen eines Versicherten erforderlich sind (in RKUV 1996 Nr. U 267
S. 309 nicht publizierte Erw. 4b des Urteils B. vom 10. September 1996, U
165/94).

4.
Die Vorinstanz hat zu Recht befunden, dass die Beschwerdeführerin den
Sachverhalt nicht rechtsgenüglich abklärte; es wird hier auf die
entsprechenden Erwägungen verwiesen.

5.
5.1 Die Beschwerdeführerin holte während der Rechtsmittelfrist bei Dr. med.
B.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, eine
psychiatrische Stellungnahme ein. Sie legte den gestützt auf die Akten (auf
dem Stand des kantonalen Verfahrens) erstellten Bericht vom 26. September
2003 mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde ein. Der Arzt kam darin zum
Schluss, beim Verstorbenen hätten mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit im Zeitpunkt der Tat (vom Sachverständigen unpräzis auf
23.00 Uhr statt auf 23.50 Uhr festgelegt) keine Psychose oder schwere
Bewusstseinsstörung und keine psychopathologischen Symptome wie Wahn,
Sinnestäuschungen, depressiver Stupor oder Raptus vorgelegen. Die Tat des
Versicherten sei für niemanden erkenntlich gewesen, aber doch vom
Versicherten mit grosser Wahrscheinlichkeit eingeplant gewesen, wenn man den
Abschiedsbrief betrachte. Somit sei von einer Berechnung bezüglich des
Suizides auszugehen, was mit dem Begriff eines "Bilanzsuizides" umschrieben
werden könne.

5.2 Der Bericht vom 26. September 2003, der ohne Einbezug der
Beschwerdegegner veranlasst wurde, erfüllt die von der Rechtsprechung
aufgestellte Anforderung nicht, dass für die Beantwortung durch einen
psychiatrischen Sachverständigen der im Zusammenhang mit einem vollendeten
Suizid aufgeworfenen Fragen nach der Art der psychischen Erkrankung und der
Besinnungsfähigkeit des Suizidenten im Zeitpunkt der Tat grundsätzlich eine
Befragung der nächsten Angehörigen unerlässlich ist (vgl. Erw. 3.4 hievor).
Vorliegend fällt der Mangel umso mehr ins Gewicht, als der Unfallversicherer
im Verwaltungsverfahren selber nur ein einziges direktes Gespräch führte, und
zwar durch einen Mitarbeiter des Schadendienstes mit der geschiedenen
Ehefrau. Es wurden weder die Kinder des Verstorbenen, noch dessen Freundin,
noch dessen langjährige frühere Beziehung, noch seine langjährige Bekannte,
mit welcher er am Vorabend des Suizids ausging, direkt befragt. Der
Beschwerdeführerin und dem Sachverständigen waren lediglich die im
Polizeirapport festgehaltenen Angaben der Freundin bekannt. Von den anderen
erwähnten Personen liegen keine Angaben vor.

5.3 Dr. med. B.________ unterliess es zu erläutern, welche medizinischen
Erkenntnisse oder sachverhaltlichen Fakten beim Versicherten für das
Vorliegen des konstatierten "Bilanzsuizides" sprechen. Bei einer Würdigung
der gesamten bei den Akten liegenden Angaben finden sich weder in den
erhobenen Aussagen, noch bei den polizeilichen Ermittlungsergebnissen, noch
im letzten Schreiben des Verstorbenen Anhaltspunkte, die auf einen
Bilanzsuizid schliessen lassen. Bereits die Qualifikation des Schreibens als
"Abschiedsbrief" erscheint problematisch. Es geht daraus weder hervor, dass
der Versicherte von seiner Freundin Abschied nehmen oder die Beziehung
auflösen wollte, noch hat er darin einen drohenden oder sogar geplanten
Suizid direkt oder indirekt angesprochen. Zumindest ist dies ohne nähere
fachärztliche Erklärungen nicht ersichtlich. Wenn das Schreiben ohne Wissen
darum gelesen wird, dass sich der Verfasser möglicherweise kaum eine Stunde
nach der Niederschrift zum Fenster hinausstürzte, so ist nicht mehr in den
Text hinein zu interpretieren, als das, was der Sachverständige auf Seite 2
seiner Stellungnahme festgehalten hat: "Auf Grund des Briefes muss wohl davon
ausgegangen werden, dass der Verfasser um seine Liebesbeziehung fürchtete".
Wenn der Arzt es in diesem Zusammenhang als denkbar bezeichnete, dass der
Versicherte überreagiert habe, "wie dies bei verliebten Menschen nicht allzu
selten vorkomme", so ist nicht klar, ob er damit die Angst um den Verlust der
Beziehung meinte, oder aber den von ihm festgestellten Bilanzsuizid.

5.4 Der wirkliche Gehalt der Aussagen im Schreiben lässt sich ohne die im
Rahmen einer umfassenden Sachverhaltsabklärung stattfindende Befragung der
Adressatin und weiterer dem Verstorbenen nahe stehender Personen
(beispielsweise der geschiedenen Ehefrau, der langjährigen früheren
Beziehung, der langjährigen Bekannten und der Kinder) nicht ergründen. Die
Beschwerdeführerin wird nach dem Gesagten wie von der Vorinstanz erwogen eine
psychiatrische Begutachtung des Verstorbenen zu veranlassen haben, welche den
verfahrensmässigen Anforderungen (Art. 19 VwVG in Verbindung mit Art. 57 ff.
BZP; BGE 120 V 357) und den oben in Erwägung 3.4 genannten Erfordernissen
gerecht wird. Dabei werden die gesamten Lebensumstände des Suizidenten
mittels Befragung der Hinterbliebenen und Bekannten genau abzuklären sein.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Allianz Suisse Versicherungs-Gesellschaft hat den Beschwerdegegnern für
das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
(BAG) zugestellt.
Luzern, 9. Januar 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: