Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 207/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


U 207/03

Urteil vom 16. September 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Traub

W.________, 1977, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Dr. Michel
Béguelin, Dufourstrasse 12, 2502 Biel,

gegen

La Suisse Versicherungen, Generaldirektion, Avenue de Rumine 13, 1001
Lausanne, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 15. Juli 2003)

Sachverhalt:

A.
W. ________ (geb. 1977) erlitt in den Jahren 1994 und 1996 Unfälle mit
Affektion der Halswirbelsäule. In der Folge wurde die gelernte
Offsetdruckerin durch die Invalidenversicherung zur Büroangestellten
umgeschult. Nach einem Auffahrunfall vom 16. Juli 2000 stellten die
behandelnden Ärzte ein Hyperextensionstrauma der Halswirbelsäule und eine
Distorsion des linken Schultergürtels fest. Der gesundheitliche Zustand wurde
unter anderm im Zentrum X.________, abgeklärt (Gutachten vom 29. Januar
2001). Mit durch Einspracheentscheid vom 31. Mai 2002 bestätigter Verfügung
vom 13. Februar 2001 stellte der obligatorische Unfallversicherer, die La
Suisse Versicherungen, die Leistungen rückwirkend ab dem 1. Januar 2001 ein.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wies die dagegen erhobene Beschwerde
ab (Entscheid vom 15. Juli 2003).

C.
W.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
die Sache sei, unter Aufhebung von strittiger Verfügung und angefochtenem
Entscheid, zur neuen Entscheidung an die Verwaltung zurückzuweisen; eventuell
seien ihr die gesetzlichen Leistungen zu erbringen. Zudem ersucht sie um
Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung.

Die La Suisse Versicherungen schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung,
Abteilung Unfall (seit dem 1. Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit),
verzichtet auf Vernehmlassung.

D.
Die Versicherte lässt ein interdisziplinäres Gutachten des Instituts
Y.________ vom 11. Februar 2004 einreichen. Der Unfallversicherer nimmt zum
nachträglich eingereichten Aktenstück im Rahmen der Anordnung eines zweiten
Schriftenwechsels Stellung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Strittig und zu prüfen ist, ob der gesundheitliche Zustand der
Beschwerdeführerin ganz oder teilweise in einem tatsächlichen und -
gegebenenfalls - auch rechtserheblichen Kausalzusammenhang mit dem
versicherten Unfallereignis vom 16. Juli 2000 steht.

1.2 Das kantonale Gericht hat die Grundsätze zum natürlichen
Kausalzusammenhang zwischen Unfall, anhaltendem Gesundheitsschaden und
dadurch bedingter Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit insbesondere bei
Schleudertraumen der Halswirbelsäule und bei "äquivalenten" Verletzungen
(Art. 6 Abs. 1 UVG; BGE 119 V 340 Erw. 2b/aa, 117 V 360 Erw. 4, 379 Erw. 3e;
RKUV 2003 Nr. U 489 S. 358 Erw. 3.2) sowie die Rechtsprechung zur
Adäquanzbeurteilung bei psychischen Fehlentwicklungen nach Unfall (BGE 129 V
181 Erw. 3.2 und 3.3, 117 V 361 Erw. 5; vgl. BGE 123 V 99 Erw. 2a) zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass Invalidenrenten und
Integritätsentschädigungen angemessen gekürzt werden, wenn die
Gesundheitsschädigung nur teilweise die Folge eines Unfalls ist.
Gesundheitsschädigungen vor dem Unfall, die zu keiner Verminderung der
Erwerbsfähigkeit geführt haben, werden dabei nicht berücksichtigt (Art. 36
Abs. 2 UVG).

2.
Verwaltung und Vorinstanz haben massgebend auf das Gutachten des Zentrums
X.________ vom 29. Januar 2001 abgestellt, dem eine neurologische,
rheumatologische und psychiatrische Abklärung zugrunde liegt. Danach besteht
zwischen der Schmerzerkrankung der Beschwerdeführerin (Tendomyogelose,
anhaltende somatoforme Schmerzstörung), zu welcher sich kein (weiteres)
psychisches Leiden hinzugeselle, und dem Unfall vom 16. Juli 2000 kein
natürlicher Kausalzusammenhang; ein solcher sei spätestens nach drei bis
sechs Monaten weggefallen.

2.1 Nach Lage der Akten ist erstellt, dass die psychiatrischen Diagnosen
keine rechtserheblichen Folgen des hier interessierenden Unfallereignisses
darstellen. Es kann diesbezüglich auf die einlässliche Beweiswürdigung im
vorinstanzlichen Entscheid verwiesen werden. Zu berücksichtigen ist
namentlich, dass das psychosomatische Schmerzsyndrom schon vor dem hier zu
beurteilenden Unfall bestand (vgl. das Gutachten des Dr. E.________,
Psychiatrie und Psychotherapie FMH,  vom 30. März 1999). Der erhebliche
Vorzustand bildet ein gewichtiges Indiz dafür, dass die rein psychogenen
Anteile der Schmerzproblematik (Rücken, Nacken, Kopf, linke Schulter und
Hüfte) nicht in einem natürlich kausalen Zusammenhang zum versicherten
Ereignis stehen. Selbst wenn diese Frage gegenteilig zu beantworten wäre,
fehlte es am adäquaten Kausalzusammenhang, wie das kantonale Gericht unter
Bezugnahme auf die einschlägigen Präjudizien (vgl. Erw. 1.2 hievor) zu Recht
festgehalten hat. Bei Einbezug des Gutachtens des Instituts Y.________ vom
11. Februar 2004 ergibt sich nichts anderes. Die dort festgestellten
psychiatrischen Störungen (unreife Persönlichkeitsstörung, anhaltende
somatoforme Schmerzstörung, leichte kognitive Störung), die sich nur in einer
leicht verminderten beruflichen Belastbarkeit auswirkten, werden, wie auch in
anderen psychiatrischen Berichten, weitgehend auf die Persönlichkeitsstruktur
der Versicherten als selbständiger Ursache zurückgeführt. Der versicherte
Unfall erscheint damit hinsichtlich der psychischen Beschwerden nicht als
massgebender Grund, sondern als Gelegenheitsursache, was soweit keine
Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin zu begründen vermag.

2.2 Hinsichtlich der körperlichen Befunde finden sich im Vergleich der
Gutachten des Zentrums X.________ einerseits und des Instituts Y.________
anderseits Diskrepanzen, ohne dass der einen oder andern Beurteilung im
Rahmen der Beweiswürdigung (BGE 125 V 352 Erw. 3a) der Vorzug gegeben werden
könnte. Während im ersteren ein andauernder ursächlicher Zusammenhang mit dem
Unfall vom 16. Juli 2000 verneint wird, schliessen die Ärzte der
letztgenannten Begutachtungsstelle für einen Teil des Schmerzsyndroms
ausdrücklich nicht aus, dass dieser auf objektivierbare organische
Schädigungen zurückzuführen sein könnte. Zwar besagt die Möglichkeit der
Objektivierbarkeit somatischer Schmerzursachen noch nichts über deren
Zuordnung zum versicherten Ereignis. Obgleich die Ursachenforschung in dem
von der Invalidenversicherung in Auftrag gegebenen Gutachten eine
untergeordnete Rolle spielt, ist darüber hinaus indes auch von
"objektivierbaren Unfallfolgen" im Bereich von Schulter und Hüfte die Rede
("[...] Aus allen Berichten geht hervor, dass tatsächlich objektivierbare
Befunde vorliegen, insbesondere sogar noch solche, die unfallkausal
zuzuordnen sind [Hüfte, Schulter, was eindeutig das Gutachten des Zentrums
X.________ widerlegt], [...]"; S. 29 Ziff. 6.1.6); auch an der
Halswirbelsäule fänden sich deutliche klinische Befunde (S. 28 unten Ziff.
6.1.2). Auch mit Blick auf den im Gutachten des Instituts Y.________
sorgfältig und unter Berücksichtigung der gesamten medizinischen Vorakten
erarbeiteten Diagnosenkatalog (S. 26 f.) sind Zweifel an der Vollständigkeit
der Feststellungen und Schlussfolgerungen des Zentrums X.________ nicht von
der Hand zu weisen. Es stellt sich notwendigerweise die Frage, ob die
Unfallkausalität aller im Gutachten des Instituts Y.________ aufgeführten
organischen Befunde (im Wesentlichen Zervikalsyndrom, Periarthritis
humeroscapularis, Periarthropathia coxae) immer noch ohne Weiteres mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit verneint werden darf. Dass dem nicht von
vornherein so ist, zeigen die abschliessenden Ausführungen im Gutachten des
Instituts Y.________ (S. 31 Ziff. 8):
"Mit diesem Gutachten ist selbstverständlich die Kausalität nicht
abschliessend beantwortet. Aufgrund der genannten Faktoren wäre dies eine
äusserst komplexe Fragestellung, die in einem separaten Gutachten mit
erneutem Auftrag erarbeitet werden müsste unter Gewichtung von nicht weniger
als drei Vorunfällen, der psychiatrischen Problematik, schon länger
diskutiert, allfälliger IV-fremder Gründe und allfälliger somatischer
Komorbiditäten. (...) Weitergehende Untersuchungen (Orthopädie, Neurologie,
noch detaillierter Neuropsychologie) würden also nichts an der für die IV
relevanten, globalen Arbeitsunfähigkeit ändern, könnten höchstens Aufschluss
versuchen zu geben über die detailliertere Kausalitätszuordnung."
2.3 Der entscheidmassgebende Sachverhalt ist demnach ergänzungsbedürftig. Die
Sache wird an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen, damit sie weitere
Abklärungen über den Bestand somatischer Beeinträchtigungen sowie -
gegebenenfalls - über deren kausale Zuordnung zum Unfall vom 16. Juli 2000
treffe.

3.
Dem Ausgang des letztinstanzlichen Verfahrens entsprechend steht der
Versicherten eine Parteientschädigung zu (Art. 135 in Verbindung mit Art. 159
Abs. 1 OG); damit erweist sich ihr Antrag auf Gewährung der unentgeltlichen
Verbeiständung als gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 15. Juli 2003 und der
Einspracheentscheid der La Suisse Versicherungen vom 31. Mai 2002 aufgehoben
werden und die Sache an den Unfallversicherer zurückgewiesen wird, damit
dieser, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die La Suisse Versicherungen hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor
dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
(BAG) zugestellt.

Luzern, 16. September 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer: Der Gerichtsschreiber: