Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 165/2003
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U 165/03

Urteil vom 30. Dezember 2003

I. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichter Borella, Meyer, Ursprung und Kernen;
Gerichtsschreiber Jancar

N.________, 1965, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Thomas
Ineichen, Schwanenplatz 4, 6004 Luzern,

gegen

Basler Versicherungs-Gesellschaft, Aeschengraben 21, 4051 Basel,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin Claudia Brun,
Frankenstrasse 12, 6002 Luzern

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 10. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1965 geborene N.________ arbeitete seit 1. Februar 1997 als
Logotherapeutin für die Stiftung X.________ und war bei der Basler
Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend Basler) unfallversichert. In der
Unfall-Meldung vom 24. August 2000 gab die Arbeitgeberin an, während eines
Fallschirmsprungs der Versicherten vom 9. August 2000 habe sich ihr Schirm
beim Abbremsen des freien Falls sehr abrupt geöffnet, was bei ihr einen
stechenden Schmerz in der Hals- und Nackenpartie ausgelöst habe. Am 29.
August 2000 führte die Versicherte aus, ihr Fallschirm habe sich wider
Erwarten schnell geöffnet, wodurch der freie Fall sehr heftig abgebremst und
ihr Körper sehr abrupt von der Bauchlage in die nahezu aufrechte Position
geschleudert worden sei. Dr. med. B.________, Arzt für allgemeine Medizin
FMH, legte im Zeugnis vom 7. September 2000 dar, in den folgenden Tagen nach
dem Vorfall hätten sich chronische rechtsbetonte Nackenschmerzen,
insbesondere nachts und beim Blick nach oben, entwickelt. Es liege eine nur
leichtgradige Einschränkung der Beweglichkeit bei Rotation seitwärts vor.
Ansonsten sei die Halswirbelsäule (HWS) frei beweglich. Es bestünden
druckdolente Schmerzpunkte der suprascapularen Muskulatur rechts und am
Ansatz des Mastoides rechts. Der Röntgenbefund habe eine Streckhaltung der
unteren HWS ohne Hinweis auf eine Fraktur ergeben. Die Versicherte legte
Berichte von A.________ und B.________, Fallschirmexperten FSV, Center
Y.________, vom 22. September 2000 sowie von C.________, Fallschirm- und
Unfallexperte FSV, vom 30. Januar 2001 auf. Die Basler holte einen Bericht
von D.________, Fallschirmsportverband, vom 6. Dezember 2000 ein. Mit
Verfügung vom 12. Januar 2001 hielt die Basler fest, der Vorfall vom 9.
August 2000 sei kein Unfall, da kein ungewöhnlicher äusserer Faktor
vorgelegen habe. Die dagegen erhobene Einsprache lehnte sie mit Entscheid vom
10. Januar 2002 ab.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern mit Entscheid vom 10. Juni 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Versicherte, in Aufhebung des
kantonalen Entscheides seien ihr für den Unfall vom 9. August 2000 die
gesetzlichen Leistungen zuzusprechen; die Sache sei an die Basler zur
Berechnung der gesetzlichen Leistungen zurückzuweisen; eventuell sei die
Sache an das kantonale Gericht zurückzuweisen.

Das kantonale Gericht und die Basler schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung
auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmung über den Unfallbegriff (Art. 9 Abs.
1 UVV) sowie die Rechtsprechung zum Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit des
äusseren Faktors (BGE 122 V 233 Erw. 1, 121 V 38 Erw. 1a, RKUV 2000 Nr. U 368
S. 99 Erw. 2b, SVR 1999 UV Nr. 9 S. 28 Erw. 3, je mit Hinweisen) und zur
Zulässigkeit einer antizipierten Beweiswürdigung unter dem Gesichtspunkt des
rechtlichen Gehörs (BGE 124 V 94 Erw. 4b, 122 V 162 Erw. 1d, je mit
Hinweisen; SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b) zutreffend dargelegt.
Beizupflichten ist im Weiteren den Erwägungen der Vorinstanz, dass das am 1.
Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht anwendbar ist (BGE
129 V 4 Erw. 1.2). Darauf wird verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass die Versicherungsleistungen, soweit das Gesetz nichts
anderes bestimmt, bei Berufsunfällen, Nichtberufsunfällen und
Berufskrankheiten gewährt werden (Art. 6 Abs. 1 UVG).

2.
2.1 Nach Lehre und Rechtsprechung kann das Merkmal des ungewöhnlichen äusseren
Faktors in einer unkoordinierten Bewegung (RKUV 2000 Nr. U 368 S. 100 Erw. 2d
mit Hinweisen; Maurer, Schweizerisches Unfallversicherungsrecht, 2. Aufl., S.
176 f.) bestehen. Bei Körperbewegungen gilt dabei der Grundsatz, dass das
Erfordernis der äusseren Einwirkung lediglich dann erfüllt ist, wenn ein in
der Aussenwelt begründeter Umstand den natürlichen Ablauf einer
Körperbewegung gleichsam "programmwidrig" beeinflusst hat. Bei einer solchen
unkoordinierten Bewegung ist der ungewöhnliche äussere Faktor zu bejahen;
denn der äussere Faktor - Veränderung zwischen Körper und Aussenwelt - ist
wegen der erwähnten Programmwidrigkeit zugleich ein ungewöhnlicher Faktor
(RKUV 1996 Nr. U 253 S. 204 Erw. 4c, 1994 Nr. U 180 S. 38 Erw. 2 mit
Hinweisen; Urteil Z. vom 7. Oktober 2003 Erw. 2.2, U 322/02; vgl. auch Adrian
von Kaenel, Unfall am Arbeitsplatz, in: Peter Münch/Thomas Geiser [Hrsg.],
Handbücher für die Anwaltspraxis, Band V, Schaden - Haftung - Versicherung,
Basel 1999, S. 584 f.).
2.2 Ohne besonderes Vorkommnis ist bei einer Sportverletzung das Merkmal der
Ungewöhnlichkeit und damit ein Unfall zu verneinen (Urteil Z. vom 7. Oktober
2003 Erw. 4.3, U 322/02). Dies bestätigt ein Blick auf andere von der
Rechtsprechung beurteilte Sportverletzungen:
2.2.1Im Urteil M. vom 14. September 1992, U 43/92, (teilweise publiziert in
RKUV 1992 Nr. U 156 S. 258 ff.) ging es um eine Versicherte, die unmittelbar
nach einem Hechtsprung im Bereich des Knöchels Schmerzen verspürte. Das
Eidgenössische Versicherungsgericht führte dabei aus, die erlittene
Verletzung deute darauf hin, dass die betreffende Übung nicht in korrekter
Weise abgeschlossen worden sei; auch habe die Versicherte plausibel
dargelegt, dass sie tatsächlich schlecht gelandet sei. Wesentlich für die
Annahme einer Programmwidrigkeit war für das Gericht in jenem Urteil, dass
die Versicherte eine geübte Turnerin war, sodass eine derart schlechte
Landung als ungewöhnlich erschien (kritisch dazu Ueli Kieser, ATSG-Kommentar,
Zürich 2003, Rz 17 zu Art. 4 ATSG mit weiteren Hinweisen; Alfred Bühler, Der
Unfallbegriff, in: Alfred Koller [Hrsg.], Haftpflicht- und
Versicherungstagung 1995, St. Gallen 1995, S. 244 f. mit Hinweisen).

2.2.2 Bejaht wurde das Vorliegen eines Unfalls bei einem Fussballer, dessen
Knie verdreht wurde, als ihm ein Gegenspieler in die Beine grätschte. Durch
diesen Angriff - einen in der Aussenwelt begründeten Umstand - sei der
Bewegungsablauf des Verletzten  "programmwidrig" gestört worden. Es sei von
einer unvorhersehbaren, unkoordinierten Bewegung auszugehen und insofern das
Vorliegen eines ungewöhnlichen äusseren Faktors zu bejahen. Nicht
entscheidend  sei, ob eine Massregelung des beteiligten Gegenspielers erfolgt
sei (RKUV 1993 Nr. U 165 S. 58).

2.2.3 Das Merkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors wurde ferner bei einem
Skifahrer bejaht, der im buckligen Gelände auf einer vereisten Stelle
ausglitt, danach - ohne zu stürzen - unkontrolliert einen Buckel anfuhr,
abgehoben wurde und bei verdrehter Oberkörperhaltung auf den Boden aufschlug
(RKUV 1999 Nr. U 345 S. 420 ff.) Als Programmwidrigkeit wurde in jenem Urteil
das Ausgleiten auf der vereisten Stelle, das sich daraus ergebende
unkontrollierte Anfahren eines Buckels und das harte Aufschlagen gesehen
(RKUV 1999 Nr. U 345 S. 424 f. Erw. 4).

2.2.4 Bei einer Lehrerin, die in einer Turnstunde eine Rolle vorwärts
ausführte und in der Folge behandlungsbedürftige Beschwerden im Nackenbereich
verspürte, verneinten alle Instanzen das Vorliegen eines Unfalles im
Rechtssinne; letztinstanzlich wurde zudem eine unfallähnliche
Körperschädigung verneint (Urteil D. vom 28. Juni 2002, U 98/01).

2.2.5 Ein auf einem Ausbildungs-Kunstflug beim Wechsel der Fluglage
erlittenes Beschleunigungstrauma durch plötzliche Druckveränderung erfüllt
den Unfallbegriff mangels Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors nicht (Urteil
F. vom 28. Juni 2002 Erw. 2b, U 370/01).

2.2.6 Im Urteil F. vom 10. Januar 2003, U 385/01, war der Fall eines
Versicherten zu beurteilen, welcher beim Jiu-Jitsu Training eine
Halswirbeldistorsion erlitten hatte. Der Versicherte gab an, er sei beim
Bodenkampf unter seinen Trainingspartner geraten und habe versucht, diesen
nach oben zu drücken, um sich von ihm zu lösen. Durch diese Bewegung sei
grosser Druck auf sein Genick entstanden, sodass der Kopf nach vorne
eingeknickt sei, was zur Stauchung und Quetschung der Halswirbelsäule geführt
habe. Die Vorinstanz und das Eidgenössische Versicherungsgericht kamen zum
Schluss, das vom Versicherten ausgeübte Drücken nach oben stelle keine
unkoordinierte Bewegung dar, weil der äussere Bewegungsablauf nicht durch
etwas Programmwidriges gestört worden sei, woraus eine unphysiologische
Beanspruchung einzelner Körperteile hätte resultieren können.

2.2.7 Verneint wurde das Merkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors im Sinne
einer den normalen üblichen Bewegungsablauf störenden Programmwidrigkeit
("unkoordinierte Bewegung") bei einer Versicherten, die - nach ihren Aussagen
der ersten Stunde - ohne besondere Vorkommnisse einen Rückwärtspurzelbaum
ausgeführt und sich dabei im Nacken-/Schulterbereich verletzt hatte (Urteil
Z. vom 7. Oktober 2003 Erw. 4.2 und 4.4, U 322/02).

3.
Es steht fest, dass der Körper der Beschwerdeführerin bei der
Fallschirmöffnung abrupt von der Bauchlage in eine aufrechte Position
abgedreht worden ist. Dieser Bewegungsablauf ergibt sich bei jeder
Fallschirmöffnung. Diese erfolgt aber nicht immer gleich intensiv. Sie hängt
von verschiedenen Faktoren (Körperposition, Packung des Fallschirms,
Witterungsverhältnisse) ab und kann einmal eher sanft oder auch heftig
ausfallen. Von der Art der Fallschirmöffnung hängen die Kräfte ab, die auf
den Körper wirken.

Der geschilderte Bewegungsablauf bei der Öffnung des Schirms ist dem
Fallschirmspringen inhärent und im Grundsatz immer gleich. Für einen
Fallschirmspringer ist es daher ein natürlicher Bewegungsablauf. Auch wenn er
besonders intensiv verläuft, wird er nicht programmwidrig. Zwar können
allenfalls höhere oder auch massive Kräfte auf den Körper einwirken, wenn
sich der Fallschirm, wie von der Versicherten geltend gemacht wird, gleichsam
"explosionsartig" öffnet und eine grössere als die gewohnte Bremswirkung
erzeugt. Der Bewegungsablauf wird dadurch indessen nicht verändert, sondern
bloss intensiviert. Darin liegt keine Ungewöhnlichkeit. Das Ereignis vom 9.
August 2000 stellt daher keinen Unfall im Rechtssinne dar. Die gegenteiligen
Einschätzungen der Fallschirmexperten A.________/B.________ (Bericht vom 22.
September 2000) und C:________ (Bericht vom 30. Januar 2001) vermögen an
diesem Ergebnis nichts zu ändern.

4.
Eine Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin wegen einer der in Art. 9 Abs. 2
UVV abschliessend aufgezählten unfallähnlichen Körperschädigungen (BGE 116 V
140 Erw. 4a, 147 Erw. 2b, je mit Hinweisen) fällt unbestrittenermassen ausser
Betracht.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Eine Parteientschädigung wird
nicht zugesprochen, weil die obsiegende Beschwerdegegnerin als
Unfallversicherer eine öffentlich-rechtliche Aufgabe im Sinne von Art. 159
Abs. 2 OG wahrnimmt und die Voraussetzungen für eine ausnahmsweise
Zusprechung einer Entschädigung nicht gegeben sind (BGE 128 V 133 Erw. 5b,
123 V 309 Erw. 10; SVR 2000 KV Nr. 39 S. 122 Erw. 3).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 30. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: