Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 142/2003
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U 142/03

Urteil vom 12. Januar 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiber Flückiger

D.________, 1958, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno
Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 9. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1958 geborene D.________ war vom 12. Mai bis 15. Dezember 1998 als
Bauarbeiter bei der X.________ AG angestellt und auf Grund dieses
Arbeitsverhältnisses bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt
(SUVA) obligatorisch gegen die Folgen von Unfall und Berufskrankheit
versichert. Am 1. September 1998 wurde er während der Arbeit von einem
Personenwagen angefahren und zog sich Verletzungen zu. Die SUVA führte
Abklärungen medizinischer und erwerblicher Art durch. Anschliessend entschied
sie mit Verfügung vom 14. Dezember 1999 - in Bestätigung eines Schreibens vom
9. Juli 1999 -, sie werde noch Taggelder auf Grund einer Arbeitsunfähigkeit
von 100 % bis 18. Juli 1999 sowie 50 % für die Zeit vom 19. Juli bis 1.
August 1999 ausrichten und anschliessend ihre Leistungen einstellen. Es
bestehe kein Anspruch auf Invalidenrente oder Integritätsentschädigung.
Nachdem der Versicherte dagegen Einsprache erhoben hatte, zog die SUVA
weitere medizinische Berichte bei und holte Gutachten des Dr. med.
Z.________, Neurochirurgie FMH, vom 5. April 2001 sowie des Psychiatrischen
Zentrums Y.________ vom 28. Februar 2002 ein. Anschliessend hielt die Anstalt
mit Einspracheentscheid vom 30. April 2002 an ihrer Anspruchsbeurteilung
fest.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern ab (Entscheid vom 9. Mai 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt D.________ die Zusprechung von
Taggeldern auf Grund einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % ab 19. Juni 1999,
über den 1. August 1999 hinaus, einer Rente bei einem Invaliditätsgrad von 81
%, einer Integritätsentschädigung für eine Integritätseinbusse von mindestens
50 % sowie zusätzlicher Heil- und Pflegekosten beantragen. Ferner wird um
unentgeltliche Verbeiständung ersucht.
Die SUVA schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung (ab 1. Januar 2004 Bundesamt für Gesundheit)
verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den für die
Leistungspflicht des obligatorischen Unfallversicherers (Art. 6 Abs. 1 UVG)
vorausgesetzten natürlichen Kausalzusammenhang zwischen Unfall und
eingetretenem Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod; BGE 123 V 45 Erw. 2b, 119
V 337 Erw. 1, 117 V 360 Erw. 4, je mit Hinweisen) zutreffend dargelegt.
Gleiches gilt für die vorinstanzlichen Erwägungen zur ausserdem
erforderlichen Adäquanz des Kausalzusammenhangs (BGE 127 V 102 Erw. 5b/aa,
125 V 461 Erw. 5a, je mit Hinweisen), insbesondere bei psychischen
Unfallfolgen (BGE 115 V 138 ff. Erw. 6) sowie bei Unfällen mit einem
Schleudertrauma der Halswirbelsäule ohne organisch (hinreichend) nachweisbare
Funktionsfälle (BGE 117 V 366 ff. Erw. 6), einer diesem äquivalenten
Verletzung (RKUV 2000 Nr. U 395 S. 317 Erw. 3; SVR 1995 UV Nr. 23 S. 67 Erw.
2) oder einem Schädel-Hirntrauma, dessen Folgen sich mit jenen eines
Schleudertraumas vergleichen lassen (BGE 117 V 382 ff. Erw. 4). Darauf wird
verwiesen. Richtig ist auch, dass die materiellrechtlichen Bestimmungen des
am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 auf den
vorliegenden Fall nicht anwendbar sind (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).

2.
Streitig und zu prüfen sind die Leistungspflicht der SUVA für die Folgen des
Unfalls vom 1. September 1998 und in diesem Rahmen die Ansprüche auf
Taggelder ab 19. Juni 1999, auf Invalidenrente, auf Integritätsentschädigung
sowie auf Übernahme zusätzlicher Heil- und Pflegekosten.

3.
In medizinischer Hinsicht ging das kantonale Gericht davon aus, ab März 1999
habe keine körperliche Gesundheitsschädigung mehr bestanden, welche auf den
versicherten Unfall zurückzuführen sei. Dagegen leide der Versicherte als
Folge des Ereignisses vom 1. September 1998 weiterhin an psychischen
Beschwerden.

3.1 Umstritten ist zunächst, von welchem Unfallhergang für die medizinische
Beurteilung auszugehen ist. Den Akten ist zu entnehmen, dass sich der
Beschwerdeführer bei der Erneuerung des Strassenbelages im Bereich der
Belagseinbaumaschine fast in der Mitte der Strasse befand, wobei er frontal
zur Maschine stand. Plötzlich wurde er unerwartet von rechts durch einen
Personenwagen angefahren, wobei er einen heftigen Schlag gegen Hüfte und
Oberschenkel erlitt. Der Versicherte sagte am 22. März 1999 gegenüber dem
Sachbearbeiter der SUVA aus, es habe ihn irgendwie abgedreht und er sei
rücklings auf den Asphaltboden geprallt. Beim Sturz habe er sich den rechten
Ellenbogen angeschlagen, den Kopf jedoch glücklicherweise nicht. Dr. med.
I.________, Allgemeine Medizin FMH, der ihn noch am Unfalltag behandelte,
stellte Kontusionen von Becken und Ellenbogen rechts sowie Prellungen und
Schürfungen fest (Bericht vom 12. Dezember 1998). Der Polier N.________, der
auf der Baustelle anwesend war, erklärte als Zeuge im zivilrechtlichen
Direktschadensprozess, er habe nicht sehen können, wie der Versicherte durch
den Personenwagen angefahren worden sei, da er sich auf die Arbeit an der
Maschine konzentriert habe. Anschliessend habe er den Versicherten jedoch
"wegfliegen" sehen. Angesichts der gegen diese Darstellung sprechenden
Angaben des Beschwerdeführers vom 22. März 1999 und Befunde des
erstbehandelnden Arztes ist jedoch auch unter Einbezug der Aussage des
Poliers nicht mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b mit Hinweisen) dargetan, dass der
Personenwagen den Versicherten weggeschleudert hätte (zur Beweislast für das
Unfallereignis RKUV 2002 Nr. U 469 Erw. 3a S. 528 mit Hinweis). Unter diesen
Umständen konnte das kantonale Gericht zulässigerweise von einer persönlichen
Befragung N.________s absehen, hätte doch auch die zu erwartende Bestätigung
von dessen amtsgerichtlicher Aussage am Beweisergebnis nichts zu ändern
vermocht.

3.2 Das kantonale Gericht ging davon aus, nach März 1999 habe keine
körperliche Gesundheitsschädigung mehr bestanden, welche auf den versicherten
Unfall zurückzuführen sei. Es stützte sich dabei in erster Linie auf das
neurochirurgische Gutachten des Dr. med. Z.________ vom 5. April 2001,
welchem es volle Beweiskraft beimass. Dieser Beurteilung, welche die
Vorinstanz ausführlich begründet hat, ist zuzustimmen. Hinsichtlich der
Rückenbeschwerden entspricht die vom Gutachter vertretene Ansicht zur
Unfallkausalität von Diskushernien im Allgemeinen den von der Rechtsprechung
entwickelten Grundsätzen (RKUV 2000 Nr. U 379 S. 192 f. Erw. 2a mit
Hinweisen; Urteil Z. vom 9. Oktober 2003 [U 360/02] Erw. 4.2). Gestützt
darauf, ausgehend vom hinreichend nachgewiesenen Unfallhergang gemäss Erw.
3.1 hievor und in Berücksichtigung der anschliessenden, aktenmässig
dokumentierten Entwicklung des Beschwerdebildes gelangt Dr. med. Z.________
mit schlüssiger und nachvollziehbarer Begründung zum Resultat, das
Unfallereignis vom 1. September 1998 habe den Vorzustand vorübergehend
verschlimmert; die nach März 1999 geklagten Rückenschmerzen seien jedoch mit
überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht mehr auf den Unfall zurückzuführen.
Wie die Vorinstanz ebenfalls zu Recht erkannt hat, bestehen auch keine
hinreichenden Anhaltspunkte für unfallbedingte Kopf- und Nackenschmerzen mit
organischer Ursache, ist doch das Auftreten derartiger Beschwerden für die
ersten Monate nach dem Unfall nicht dokumentiert.

3.3 Nach dem Gesagten ist mit der Vorinstanz davon auszugehen, dass die über
März 1999 hinaus fortbestehenden Beschwerden psychischer Natur sind. Im
Gutachten des Psychiatrischen Zentrums Y.________, welches auf einem Studium
der Vorakten, Angaben des Versicherten und von Drittpersonen sowie eigenen
Untersuchungen der Gutachterinnen basiert, werden eine mittelgradige
depressive Episode ohne somatisches Syndrom bei ausgeprägter Tendenz zur
Somatisierung und dysphorischer Stimmungslage und bei Zustand nach Unfall am
Arbeitsplatz und seither bestehender psychosozialer Belastungssituation
diagnostiziert. Der natürliche Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis
vom 1. September 1998 und dem psychischen Beschwerdebild ist gestützt auf die
diesbezüglichen Ausführungen im Gutachten zu bejahen.

4.
Zu prüfen bleibt die Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen dem
Unfallereignis und den psychischen Beschwerden.

4.1 Bei der Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs von organisch nicht
(hinreichend) nachweisbaren Unfallfolgen ist zunächst zu prüfen, ob die
versicherte Person ein Schleudertrauma der Halswirbelsäule (HWS), eine diesem
äquivalente Verletzung oder ein Schädel-Hirntrauma erlitten hat.
Bejahendenfalls richtet sich die Adäquanzprüfung nach den in BGE 117 V 366
Erw. 6a und 382 Erw. 4b, andernfalls nach den in BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa
formulierten Grundsätzen (vgl. zum Ganzen BGE 127 V 102 Erw. 5b/bb mit
Hinweisen). Entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen
Auffassung bestehen keine genügenden Hinweise auf eine der genannten
Verletzungen. Laut der Aussage des Beschwerdeführers anlässlich der Befragung
durch die SUVA vom 22. März 1999 fand kein Kopfanprall statt. Dies stimmt
überein mit den Befunden, welche der erstbehandelnde Arzt Dr. med. I.________
feststellte. Ebenso wenig ist dokumentiert, dass das nach einem
Schleudertrauma der HWS nicht selten beobachtete und deshalb von der
Rechtsprechung als typisch bezeichnete "bunte" Beschwerdebild (BGE 119 V 338
Erw. 1, 117 V 360 Erw. 4b, 382 Erw. 4b) relativ bald nach dem Unfall
aufgetreten wäre. Zudem spricht der (hinreichend nachgewiesene) Verlauf des
Unfallereignisses gegen das Vorliegen einer der genannten Verletzungen. SUVA
und Vorinstanz haben daher die Adäquanz des Kausalzusammenhangs zwischen dem
Unfall und den während des vorliegend umstrittenen Zeitraums fortbestehenden
Beschwerden zu Recht nach der Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen
(BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa) geprüft (BGE 127 V 102 Erw. 5b/bb mit Hinweisen).

4.2 Im Rahmen der für die Belange der Adäquanzprüfung vorzunehmenden
Katalogisierung ist das Ereignis vom 1. September 1998 angesichts des
ausgewiesenen Unfallhergangs (Angefahrenwerden durch einen Personenwagen mit
anschliessendem Sturz) und der dabei erlittenen Verletzungen (Kontusionen von
Becken und Ellenbogen sowie Prellungen und Schürfungen) den mittelschweren
Unfällen - ausserhalb des Grenzbereichs zu den schweren Ereignissen (vgl. zur
diesbezüglichen Rechtsprechung die Übersicht in RKUV 1999 Nr. U 330 S. 122
ff. Erw. 4b/bb) - zuzuordnen. Die Adäquanz des Kausalzusammenhangs ist
demzufolge zu bejahen, falls ein einzelnes der in die Beurteilung
einzubeziehenden unfallbezogenen Kriterien (BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa) in
besonders ausgeprägter Weise erfüllt ist oder die zu berücksichtigenden
Kriterien insgesamt in gehäufter oder auffallender Weise gegeben sind (BGE
115 V 140 Erw. 6c/bb). Wie das kantonale Gericht mit überzeugender Begründung
dargelegt hat, kann allenfalls das Kriterium der erheblichen physisch
bedingten Arbeitsunfähigkeit als erfüllt gelten - allerdings nicht in
besonders ausgeprägter Weise -, während die übrigen Merkmale nicht gegeben
sind. Die fortbestehenden psychischen Beschwerden stehen daher nicht in einem
adäquaten Kausalzusammenhang zum Unfallereignis vom 1. September 1998. Damit
besteht keine Grundlage für die Zusprechung weiterer Versicherungsleistungen.

5.
Die unentgeltliche Verbeiständung kann gewährt werden (Art. 152 in Verbindung
mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde - wenn
auch im Sinne eines Grenzfalles - nicht als aussichtslos zu bezeichnen und
die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit
Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam
gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Dr.
Bruno Häfliger, Luzern, für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
(BAG) zugestellt.
Luzern, 12. Januar 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: