Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 117/2003
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U 117/03

Urteil vom 19. Dezember 2003
II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiber Scartazzini

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdeführerin,

gegen

G.________, 1957, Beschwerdegegner, vertreten durch Rechtsanwalt Urs
Schaffhauser, Kapellplatz 1, 6004 Luzern

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 1. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1957 geborene G.________ war seit 1995 als Hilfsglaser bei der Firma
B.________ AG beschäftigt und bei der Schweizerischen
Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen und
Berufskrankheiten versichert. Am 27. Januar 2000 wurde er auf dem Velo von
einem Auto erfasst und über die Motorhaube gegen die Windschutzscheibe
geworfen. Im Spital Y.________, in welches der Versicherte nach dem Unfall
eingeliefert wurde und bis am 1. Februar 2000 hospitalisiert war, wurden eine
commotio cerebri, eine HWS-Distorsion, eine LWS-Kontusion sowie eine
Schulter-Kontusion rechts diagnostiziert. Die SUVA erbrachte daraufhin die
gesetzlichen Leistungen.

Mit Verfügung vom 6. August 2001 stellte die SUVA ihre
Versicherungsleistungen mit Wirkung ab 20. August 2001 ein mit der
Begründung, es lägen keine behandlungsbedürftigen, somatischen Unfallfolgen
mehr vor, während die noch geklagten Beschwerden und die psychogenen
Störungen nicht in einem adäquaten Kausalzusammenhang mit dem erlittenen
Ereignis vom 27. Januar 2000 stünden. Die dagegen gerichtete Einsprache wies
sie mit Entscheid vom 10. Januar 2002 ab.

B.
Beschwerdeweise liess G.________ beantragen, die SUVA sei zu verpflichten,
ihm weiterhin Leistungen zu erbringen. Eventualiter sei ein Invaliditätsgrad
von 100 % festzusetzen, subeventuell sei die Sache zur Festsetzung einer
Rente bzw. zur Vornahme weiterer Abklärungen an die Anstalt zurückzuweisen.

Mit Entscheid vom 1. April 2003 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern in Aufhebung des Einspracheentscheides die Beschwerde unter Gewährung
der unentgeltlichen Verbeiständung gut und wies die Sache an die SUVA zurück,
damit diese im Sinne der Erwägungen verfahre.

C.
Die SUVA führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde und beantragt, in Aufhebung des
kantonalen Entscheides sei der Einspracheentscheid vom 10. Januar 2002 zu
bestätigen.

G. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen
und erneut beantragen, eventuell sei die Beschwerde-führerin anzuweisen, ihm
eine Rente auf der Grundlage einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % zuzusprechen.
Ferner ersucht er um unentgeltliche Verbeiständung im letztinstanzlichen
Verfahren. Das Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat die massgebende Bestimmung und die Grundsätze über die
Gewährung von Versicherungsleistungen bei Unfällen (Art. 6 Abs. 1 UVG) zu dem
für die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten natürlichen
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem eingetretenen Schaden
(Krankheit, Invalidität, Tod; BGE 119 V 337 Erw. 1, 118 V 289 Erw. 1b, je mit
Hinweisen) sowie über das Erfordernis des adäquaten Kausalzusammenhangs (BGE
125 V 461 f. Erw. 5a, 123 V 103 Erw. 3d, 139 Erw. 3c, 122 V 416 Erw. 2a, 121
V 49 Erw. 3a; RKUV 1997 Nr. U 272 S. 172 Erw. 3a), namentlich bei psychischen
Unfallfolgen (BGE 115 V 138 ff. Erw. 6f.; vgl. auch BGE 120 V 355 f. Erw.
5b/aa), zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen. Richtig ist ebenfalls,
dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) nach den von der
Rechtsprechung entwickelten intertemporalrechtlichen Regeln (BGE 127 V 467
Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b) in materiellrechtlicher Hinsicht auf den
vorliegenden Sachverhalt nicht anwendbar ist.

2.
2.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die im Verfügungszeitpunkt vom 6. August
2001 bestehenden Rückenbeschwerden und psychischen Beeinträchtigungen des
Beschwerdegegners auf den am 27. Januar 2000 erlittenen Unfall zurückzuführen
sind. Den Arztberichten lässt sich entnehmen, dass der Versicherte beim
Unfall eine commotio cerebri, eine HWS-Distorsion, eine LWS-Kontusion sowie
eine Schulter-Kontusion rechts, welche sich später als Armplexusläsion
erwies, erlitten hat und sich in der Folge ein cervicocephales Schmerzsyndrom
sowie eine schwere Depression entwickelten.

2.2 Entgegen der Auffassung der SUVA ging die Vorinstanz zu Recht vom
typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas oder eines äquivalenten
Unfallmechanismus bzw. eines Schädel-Hirntraumas aus. Bereits im
Kantonsspital Luzern wurde eine HWS-Distorsion diagnostiziert. Es wurde
festgestellt, dass der Patient den Kopf an der Windschutzscheibe angeschlagen
habe und anschliessend kurz bewusstlos gewesen sei. Nach dem Bericht des
einweisenden Arztes wurde der Verunfallte bereits am Unfallort mit einer
Halskrause versorgt. Der Hausarzt diagnostizierte am 9. März 2000
zerviko-cephale Beschwerden, aber auch posttraumatische Belastungsstörungen
und nächtliche Angstträume. Der SUVA-Arzt diagnostizierte anlässlich der
kreisärztlichen Untersuchung vom 17. April 2000 ebenfalls eine HWS-Distorsion
mit Kopfschmerzen, Nackenbeschwer-den, Steifigkeitsgefühl und Ausstrahlung
von Schmerzen in den rechten Arm. Auch während des Aufenthalts in der
Rehaklinik X.________ wurden typische Symptome eines Schleudertraumas wie
Affektlabilität, depressive Stimmung sowie Schlafstörungen diagnostiziert.
Der natürliche Kausalzusammenhang zwischen Unfall und Unfallfolgen ist daher
zu Recht bejaht worden.

3.
3.1 Die SUVA vertritt die Auffassung, im vorliegenden Fall sei der adäquate
Kausalzusammenhang nicht nach den Kriterien von BGE 117 V 359
(Schleudertrauma) zu prüfen, sondern nach denjenigen von BGE 115 V 133
(psychische Leiden).

3.2 In Fällen, in welchen die zum typischen Beschwerdebild eines
Schleudertraumas oder einer schleudertraumaähnlichen Verletzung gehörenden
Beeinträchtigungen zwar teilweise gegeben sind, im Vergleich zur ausgeprägten
psychischen Problematik aber ganz in den Hintergrund treten, ist die
Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs unter dem Gesichtspunkt einer
psychischen Fehlentwicklung nach Unfall vorzunehmen (BGE 123 V 98). Es ist
ein naher zeitlicher Zusammenhang zwischen Unfall und überwiegend psychischer
Problematik vorausgesetzt, wobei die Beurteilung nicht auf Grund einer
Momentaufnahme vorzunehmen ist. Nicht zulässig ist, längere Zeit nach einem
Unfall, wenn die zum typischen Beschwerdebild eines Schleudertraumas
gehörenden physischen Beschwerden weitgehend abgeklungen sind, die psychische
Problematik aber fortbesteht, diese fortan nach der Rechtsprechung zu den
psychischen Unfallfolgen zu beurteilen. Vielmehr ist in einem solchen Fall zu
prüfen, ob im Verlaufe der ganzen Entwicklung vom Unfall bis zum
Beurteilungszeitpunkt die physischen Beschwerden gesamthaft nur eine sehr
untergeordnete Rolle gespielt haben und damit ganz in den Hintergrund
getreten sind. Nur wenn dies zutrifft, ist die Adäquanz nach der
Rechtsprechung zu den psychischen Unfallfolgen zu beurteilen (RKUV 2002 Nr. U
465 S. 438 f. Erw. 3a und b).

3.3 Nach dem Gesagten ist zu prüfen, ob die physischen Unfallfolgen zwischen
dem Unfall vom 27. Januar 2000 und dem Verfügungszeitpunkt vom 6. August 2001
ganz in den Hintergrund getreten sind. Diese Frage ist mit der Vorinstanz zu
verneinen. Auf Grund der umfangreichen medizinischen Akten steht fest, dass
somatische Residuen noch bis gegen Ende des Jahres 2000 festgestellt werden
mussten. Vor diesem Zeitpunkt standen die psychischen Beschwerden beim
Versicherten nicht im Vordergrund, auch wenn sie in geringem Ausmass
vorhanden waren. Noch im Oktober 2000 stellten die Ärzte der Rehaklinik
X.________ eine Verbesserung und Stabilisierung der psychischen Verfassung
des Versicherten fest. Dass somatische Restfolgen bis zu jenem Zeitpunkt
bestanden, ist auch durch die regelmässige Verordnung von Physiotherapie
belegt. Erst ab dem Jahre 2001, mithin elf Monate nach dem Unfall, waren die
psychischen Folgen eindeutig dominant.

Daraus folgt, dass die Vorinstanz die Beurteilung der Kausalität nach der
Schleudertrauma-Praxis richtig vorgenommen hat. Es kann auf die zutreffenden
Ausführungen im vorinstanzlichen Urteil (S. 10 und 11) verwiesen werden.

4.
Im Hinblick auf die Beurteilung des adäquaten Kausalzusammenhangs anhand der
in BGE 117 V 359 ff. entwickelten Rechtsprechung wurde der Unfall vom 27.
Januar 2000 im vorliegenden Fall zutreffend dem Bereich der mittelschweren
Unfälle zugeordnet. Ebenfalls zu Recht befand die Vorinstanz, es seien die
vier Kriterien des schwierigen Heilungsverlaufs, der Dauerschmerzen, einer
ungewöhnlich langen Dauer der ärztlichen Behandlung sowie dasjenige des
Grades und der Dauer der Arbeitsunfähigkeit erfüllt. Demzufolge ist auch die
Schlussfolgerung rechtens, auf Grund einer Gesamtwürdigung komme dem
erlittenen Unfall für die Entstehung des Gesundheitsschadens und der damit
verbundenen Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit eine massgebende Bedeutung zu,
weshalb die Adäquanz des Kausalzusammenhangs zu bejahen sei.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Das Gesuch um unentgelt-liche
Rechtspflege ist gegenstandslos, weil dem obsiegenden Versi-cherten dem
Prozessausgang entsprechend eine Parteientschädigung zuzusprechen ist (Art.
159 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die SUVA hat dem Versicherten für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 19. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: