Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 116/2003
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U 116/03

Urteil vom 6. Oktober 2003
II. Kammer

Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Scartazzini

Visana Versicherungen AG, Thunstrasse 162, 3074 Muri BE, c/o Visana Services
AG, Weltpoststrasse 19, 3000 Bern 15, Beschwerdeführerin,

gegen

U.________, 1957, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecher Peter
Kaufmann, Münzgraben 2, 3011 Bern,

Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg, Givisiez

(Entscheid vom 24. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1957 geborene U.________ arbeitete seit 1992 zu 50 % als Schwesternhilfe
für die Stiftung X.________ und war bei der Krankenkasse KKB gegen Berufs-
und Nichtberufsunfälle versichert. Am 15. September 1994 erlitt sie einen
Unfall. Beim Vorbeigehen an einer Telefonzelle wurde sie von der von innen
aufgestossenen Türe am Kopf getroffen. Sie erlitt dabei Verletzungen am
Gesicht. Ferner wurde durch den behandelnden Arzt Dr. med. N.________ ein
Tinnitus festgestellt. Die Behandlung wurde am 19. Dezember 1994
abgeschlossen.

Am 1. April 1997 wurde der Visana Versicherungen AG (nachfolgend: Visana) als
Rechtsnachfolgerin der Krankenkasse KKB eine erneute Unfallmeldung
zugestellt. Anhand weiterer medizinischer Abklärungen wurden der Tinnitus,
ein Schmerzsyndrom sowie eine depressive Dekompensation festgestellt.

Mit Verfügung vom 29. Mai 2001 lehnte die Visana ihre Leistungspflicht ab.
Zur Begründung führte sie aus, es bestehe zwischen dem Unfall und den
geklagten Beschwerden, insbesondere dem Tinnitus, kein natürlicher und
adäquater Kausalzusammenhang. Dagegen erhoben U.________ und ihr
Krankenversicherer, die SWICA Gesundheitsorganisation (nachfolgend: SWICA),
Einsprache, welche mit Entscheid vom 12. November 2001 abgewiesen wurde.

B.
Die hiegegen sowohl von U.________ als auch von der SWICA erhobenen
Beschwerden hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg mit Entscheid
vom 24. April 2003 insofern gut, als es die Sache an die Visana zurückwies,
damit diese für die Folgen des Unfalles vom 15. September 1994 die
gesetzlichen Leistungen bestimme und darüber verfüge.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt die Visana beantragen, in Aufhebung
des vorinstanzlichen Entscheides sei die verfügte Leistungsablehnung zu
bestätigen.

U. ________ und die SWICA schliessen auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, wobei die Versicherte zudem beantragt, es sei
ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Das Bundesamt für
Sozialversicherung hat sich nicht vernehmen lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Die Vorinstanz hat die gesetzliche Bestimmung und die Grundsätze über die
Gewährung von Versicherungsleistungen bei Unfällen (Art. 6 Abs. 1 UVG), zu
dem für die Leistungspflicht des Unfallversicherers vorausgesetzten
natürlichen Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem
eingetretenen Schaden (Krankheit, Invalidität, Tod) (BGE 119 V 337 Erw. 1,
118 V 289 Erw. 1b, je mit Hinweisen) sowie über das Erfordernis des adäquaten
Kausalzusammenhangs (BGE 125 V 461 f. Erw. 5a, 123 V 103 Erw. 3d, 139 Erw.
3c, 122 V 416 Erw. 2a, 121 V 49 Erw. 3a; RKUV 1997 Nr. U 272 S. 172 Erw. 3a),
namentlich bei psychischen Unfallfolgen (BGE 115 V 138 ff. Erw. 6f.; vgl.
auch BGE 120 V 355 f. Erw. 5b/aa) zutreffend dargelegt. Darauf wird
verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft
getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im
Unfallversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung
des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw.
1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines
Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen
Einspracheentscheids (hier: 12. November 2001) eingetretenen Sachverhalt
abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31.
Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Die Visana bestreitet das Vorliegen eines natürlichen Kausalzusammenhanges
zwischen dem Unfall und den Leiden der Beschwerdegegnerin nicht mehr.
Streitig und zu prüfen ist einzig noch der adäquate Kausalzusammenhang
zwischen dem Unfallereignis vom 15. September 1994 und den heutigen Leiden
der Versicherten, insbesondere des dekompensierten Tinnitus.

2.1 Ein Tinnitus kann bis auf seltene Ausnahmen nicht objektivierbar erfasst
werden. Dies hindert die Medizin indessen nicht, diesen nach von der
Rechtsprechung anerkannten Kriterien zu bestimmen, wobei eine optimale
Beurteilung durch wiederholtes Befragen sowie ausführliche Untersuchungen mit
den anerkannten und üblichen audiologischen Methoden zum Ziel führt (Urteil
B. vom 8. Februar 2001, Erw. 5b, U 40/00). Beim Tinnitus handelt es sich um
ein körperliches Leiden, dessen eigentliche Ursache in einem kleineren oder
grösseren Innenohrschaden zu suchen ist (Urteil D. vom 27. März 2003, Erw.
6.1, U 71/02). Bei organischen Unfallfolgen deckt sich die adäquate, d.h.
rechtserhebliche Kausalität weitgehend mit der natürlichen Kausalität; die
Adäquanz hat hier gegenüber dem natürlichen Kausalzusammenhang praktisch
keine selbstständige Bedeutung (BGE 118 V 291 Erw. 3a, 117 V 365 Erw. 5d/bb
mit Hinweisen). Demnach ist im vorliegenden Fall auch der adäquate
Kausalzusammenhang zwischen dem Unfallereignis und dem diagnostizierten
schweren Tinnitus zu bejahen.

2.2 Von der organischen Schädigung des Tinnitus ist die mangelhafte
psychische Verarbeitung der Gesundheitsstörung zu unterscheiden. Die
Versicherte leidet an einer Dekompensation (psychische Fehlverarbeitung) bei
Tinnitus. Mit dem Begriff der Dekompensation wird umschrieben, dass für das
betroffene Individuum mit dem Auftreten des Tinnitus oder mit Verstärkung
eines vorbestehenden Tinnitus die Vulnerabilitätsgrenze überschritten wurde,
welche jenen Toleranzbereich begrenzt, in welchem körperliche, psychische
oder soziale Störungen ohne Dekompensation verkraftet werden können (Urteil
D. vom 27. März 2003, Erw. 6.1, U 71/02). Im vorliegenden Fall steht nach
Auffassung aller sich damit befassten Ärzte auch die Dekompensation mit dem
geklagten Tinnitus in einem natürlichen Kausalzusammenhang.

Gemäss der Rechtsprechung muss zwischen einem durch Unfall verursachten
Tinnitus und der psychischen Dekompensation ferner ein adäquater
Kausalzusammenhang gegeben sein. Bei einer solchen  psychischen
Fehlverarbeitung ist der adäquate Kausalzusammenhang nach der normalen
Adäquanzformel, d.h. nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen
Lebenserfahrung (BGE 123 V 103 Erw. 3d, 139 Erw. 3c, 122 V 416 Erw. 2a, je
mit Hinweisen) zu beurteilen (Urteil D. vom 27. März 2003, Erw. 6.2, U
71/02). Der Tinnitus kann in drei Schweregrade eingeteilt werden, nämlich in
den leichten, den schweren und den sehr schweren Tinnitus (unveröffentlichtes
Urteil Z. vom 25. September 1996, Erw. 7c, U 14/96). Bei einem sehr schweren
Tinnitus gehört die psychische Fehlverarbeitung eines Tinnitus gleichsam zu
dessen Charakteristik. Die Adäquanz kann diesfalls ohne weiteres bejaht
werden, wenn die somatischen Beschwerden (Tinnitus) nach dem gewöhnlichen
Lauf der Dinge und nach der allgemeinen Lebenserfahrung, wozu in erster Linie
die wissenschaftlichen Erkenntnisse gehören, einen Erfolg von der Art des
eingetretenen zu bewirken vermag (Urteile D. vom 27. März 2003, Erw. 6.2, U
71/02 und B. vom 8. Februar 2001, Erw. 8c, U 40/00 sowie unveröffentlichtes
Urteil Z. vom 25. September 1996, Erw. 7c, U 14/96).

Nicht massgebend bei der psychischen Fehlverarbeitung eines durch Unfall
verursachten Tinnitus ist die Adäquanzformel nach der Rechtsprechung zu einer
psychischen Fehlentwicklung nach Unfall gemäss BGE 115 V 138 Erw. 6 (Urteil
D. vom 27. März 2003, Erw. 6.2, U 71/02). Zu Unrecht beruft sich die Visana
bezüglich dieser Adäquanzprüfung daher auf das vorstehend in Erw. 2.1
zitierte Urteil B. vom 8. Februar 2001, U 40/00, welchem Fall ein bereits
vorbestehender Tinnitus zu Grunde lag. Entgegen ihrer Ausführungen in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist für die Beurteilung des adäquaten
Kausalzusammenhanges zwischen dem Tinnitus und der Dekompensation ohne
Vorzustand somit nicht nach dieser Rechtsprechung vorzugehen.

2.3 Als direkte Folge und gleichsam als zum Verlauf des sehr schweren
Tinnitus gehörende Charakteristik muss das Vorliegen einer psychischen
Dekompensation des Tinnitus nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und nach der
allgemeinen Lebenserfahrung als Unfallfolge betrachtet werden.

Gemäss einer Beurteilung von Prof. Dr. med. K.________ vom 18. Februar 2001
muss im Fall der Versicherten von einem schweren Tinnitus gesprochen werden,
bei welchem die Bedingungen für einen sehr schweren Tinnitus nur knapp nicht
erfüllt sind. Die Feststellung, dass die Dekompensation bei einem sehr
schweren Tinnitus nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge und der allgemeinen
Lebenserfahrung gleichsam zu dessen Charakteristik gehört, schliesst nicht
aus, dass bei einem lediglich schweren Tinnitus, bei welchem die Bedingungen
für einen sehr schweren Tinnitus nur knapp nicht erfüllt sind, der adäquate
Kausalzusammenhang nach der normalen Adäquanzformel ebenfalls gegeben sein
kann. Auf Grund der erfahrungsgemässen Eignung eines schweren Tinnitus,
psychische Beschwerden in der Art der aufgetretenen auszulösen, sowie des
direkten Zusammenhangs zwischen Tinnitus und Dekompensation, ist mit der
Vorinstanz mithin auch bezüglich dieser Unfallfolgen der adäquate
Kausalzusammenhang zwischen dem schweren Tinnitus der Versicherten und der
psychischen Dekompensation zu bejahen.

3.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG) Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege ist gegenstandslos, weil der obsiegenden Versicherten dem
Prozessausgang entsprechend eine Parteientschädigung zuzusprechen ist (Art.
159 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Visana hat der Versicherten für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 1'000.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der SWICA Krankenversicherung AG,
Winterthur, dem Verwaltungsgericht des Kantons Freiburg und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 6. Oktober 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Vorsitzende der II. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: