Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen U 115/2003
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U 115/03

Urteil vom 16. September 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Fessler

B.________, 1980, Beschwerdeführer, vertreten
durch Rechtsanwalt Massimo Aliotta, Obergasse 20, 8400 Winterthur,

gegen

Schweizerische Unfallversicherungsanstalt, Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
Beschwerdegegnerin,

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 1. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1980 geborene B.________ war seit 12. August 1996 bei der Baufirma
X.________ AG als Hilfsarbeiter in Anstellung. In dieser Eigenschaft war er
bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die
gesundheitlichen und erwerblichen Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen
sowie Berufskrankheiten versichert. Am 5. September 2000 verletzte sich
B.________ bei der Arbeit am Kopf und an der Schulter links. Gemäss
Unfallmeldung UVG vom 28. September 2000 hatte sich beim Spitzen an einer
Betondecke ein grosses Stück Beton gelöst und war auf ihn herunter gefallen.
Die erstbehandelnden Ärzte der Chirurgischen Klinik des Spitals Y.________
stellten die Diagnose einer Commotio cerebri und die Nebendiagnosen einer
Schulterkontusion links sowie einer Rissquetschwunde links parietookzipital
(Bericht vom 12. September 2000). Die SUVA anerkannte ihre Leistungspflicht
und erbrachte die gesetzlichen Leistungen, u.a. Taggelder.

Mit Verfügung vom 28. Mai 2001 forderte die SUVA B.________ zur Einhaltung
einer ganztägigen Präsenzzeit (bei einer Leistungstaxierung der Hausärztin
Frau med. pract. R.________ von 50 %) im Betrieb ab 31. Mai 2001 auf. Mit
einer weiteren Verfügung vom 18. Oktober 2001 stellte die Anstalt die
Leistungen (Heilkosten, Taggeld) auf den 25. Oktober 2001 ein. Beide
Verwaltungsakte bestätigte die SUVA mit Einspracheentscheid vom 13. Juni
2002.

B.
B.________ liess hiegegen Beschwerde erheben und zur Hauptsache beantragen,
in Aufhebung des Einspracheentscheides vom 13. Juni 2002 seien ihm die ab 26.
Oktober 2001 gesetzlich geschuldeten Versicherungsleistungen zuzusprechen.
Nach Vernehmlassung der SUVA wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich mit Entscheid vom 1. April 2003 das Rechtsmittel ab.

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
der kantonale Gerichtsentscheid sei aufzuheben und es seien ihm die ab 26.
Oktober 2001 gesetzlich geschuldeten Versicherungsleistungen zuzusprechen;
eventualiter sei die Sache an die SUVA zwecks Einholung eines
polydisziplinären Gutachtens zurückzuweisen. Im Weitern wird um
unentgeltliche Rechtsverbeiständung ersucht.
Die SUVA beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während
das Bundesamt für Sozialversicherung keine Vernehmlassung einreicht.
Die SWICA Krankenversicherung AG und die La Suisse Versicherungen als
Mitbeteiligte haben auf eine Stellungnahme zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde
verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat für die Beurteilung des streitigen Anspruchs auf
Leistungen der Unfallversicherung im Zusammenhang mit dem Unfall vom 5.
September 2000 für die Zeit ab 26. Oktober 2001 auf die tatsächlichen
Verhältnisse sowie die Rechtslage im Zeitpunkt des Einspracheentscheides vom
13. Juni 2002 abgestellt. Das ist richtig (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366
Erw. 1b, 116 V 248 Erw. 1a). Insbesondere ist das am 1. Januar 2003 in Kraft
getretene Bundesgesetz vom 6. Oktober 2000 über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vorliegend nicht anwendbar.

2.
Die Vorinstanz hat zur umstrittenen Leistungspflicht des Unfallversicherers
über den 25. Oktober 2001 hinaus erwogen, die getätigten medizinischen
Abklärungen seien ausreichend, um die Unfallkausalität der geklagten
Beschwerden und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit beurteilen zu
können. Die verschiedenen Arztberichte ergäben ein übereinstimmendes,
zusammenhängendes Bild. «Die geklagten Kopfschmerzen wurden aus somatischer
Sicht auf eine Dekonditionierung und eine depressive Entwicklung
zurückgeführt. Die geklagten Schwindelbeschwerden wurden als nicht
objektivierbar und als psychisch überlagert beurteilt. Die psychiatrische
Abklärung schliesslich ergab, dass tatsächlich die Diagnose einer längeren
depressiven Reaktion mit Schmerzsyndrom zu stellen war.» Im Weitern könne
aufgrund der übereinstimmenden medizinischen Beurteilungen als überwiegend
wahrscheinlich erstellt gelten, dass Einschränkungen der Arbeitsfähigkeit von
mehr als 50 % ab Juni 2001 und von mehr als 0 % ab Oktober 2001 nicht
somatisch, sondern psychisch bedingt seien. Diese psychischen Unfallfolgen
stünden indessen nicht in einem adäquaten Kausalzusammenhang mit dem Vorfall
vom 5. September 2000. Keines der gemäss BGE 115 V 140 Erw. 6c/aa bei
Unfällen aus dem mittleren Bereich massgebenden Kriterien sei gegeben. Das
gelte insbesondere für «Grad und Dauer der physisch bedingten
Arbeitsunfähigkeit».

3.
In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird geltend gemacht, der
rechtserhebliche Sachverhalt in Bezug auf Unfallhergang sowie Art und Schwere
der erlittenen Verletzungen sei nicht richtig und vollständig festgestellt.
Das selbe gelte für die unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit. Im Weitern gehe es
nicht an, bei der Adäquanzbeurteilung lediglich Grad und Dauer der physisch
bedingten Arbeitsunfähigkeit zu berücksichtigen. Praktisch von Anbeginn weg
habe nicht nur eine somatisch, sondern auch eine psychisch bedingte
Arbeitsunfähigkeit bestanden. Sodann leide der Beschwerdeführer nach wie vor
an Kopfschmerzen. Dementsprechend seien auch Dauerschmerzen gegeben.

4.
Gemäss Unfallmeldung UVG vom 28. September 2000 war der Beschwerdeführer am
5. September 2000 mit dem Spitzen an einer Betondecke beschäftigt. Dabei
löste sich ein grosses Stück Beton und fiel ihm auf Kopf und Schulter. Von
dieser Darstellung des Unfallherganges ist auszugehen. Die erstbehandelnden
Ärzte der Chirurgischen Klinik des Spitals Y.________ diagnostizierten eine
Commotio cerebri sowie eine Schulterkontusion links und eine Rissquetschwunde
links parietookzipital. Während der Untersuchung und Wundversorgung klagte
der Beschwerdeführer über Drehschwindel (Bericht vom 12. September 2000).

Wegen persistierendem Kopfweh, Nausea, Schwindel sowie Konzentrations- und
Gedächtnisstörungen veranlasste die Hausärztin Frau pract. med. R.________
ein CT und ein EEG. Beide diagnostischen Massnahmen vom 19. Oktober und 27.
November 2000 ergaben normale Befunde. Insbesondere konnte keine
posttraumatische Hirnveränderung oder intracranielle Blutung nachgewiesen
werden. Im Bericht vom 8. Dezember 2000 sprach der Neurologe Dr. med.
T.________ von einem «stumpfen Schädel-Hirn-Trauma», welches der Versicherte
am 5. September 2000 erlitten habe.

Aufgrund der im Rahmen der konsiliarischen Untersuchung vom 11. Dezember 2000
erhobenen Befunde stellte Dr. med. T.________ die Diagnose einer
psychasthenischen Reaktion postcommotionell. Der Neurologe siedelte die
aktuellen Beschwerden hauptsächlich im vegetativen Bereich an. Es bestehe
eine relativ niedrige Blutdruck-Lage und schlechte Reserve-Kapazität infolge
Inaktivität, verstärkt durch eine leichte reaktiv depressive Entwicklung
(Bericht vom 13. Dezember 2000). Der SUVA-Kreisarzt Dr. med. I.________,
welcher den Versicherten am 22. März 2001 untersuchte, erachtete aufgrund der
depressiven Verstimmung und der noch bestehenden vegetativen Beschwerden mit
vermehrten Kopfschmerzen und Schwindel eine neuropsychologische Beurteilung
für erforderlich.

Ein weiteres EEG von Dr. med. T.________ ergab erneut Werte im Normbereich.
Klinisch fiel einzig ein diskretes Ungleichgewicht der vestibulären Funktion
zu Ungunsten von rechts auf (Bericht vom 21. Mai 2001). Die Abklärung durch
den ORL-Spezialisten Dr. med. S.________ ergab einen unauffälligen Befund.
Die Schwindelbeschwerden wurden «letztlich nach dem schweren Unfall als
psychisch überlagert» betrachtet (Bericht vom 6. Juli 2001).

Der Psychiater und Psychotherapeut Dr. med. L.________ stellte aufgrund der
Untersuchung vom 3. Oktober 2001 die Diagnose einer längeren depressiven
Reaktion F43.21 mit Schmerzsyndrom im Rahmen einer Anpassungsstörung nach
Arbeitsunfall. Als Gründe für die depressive Reaktion als Folge auf das
Ereignis vom 5. September 2000 nannte er die Konfrontation mit der Tatsache,
nicht mehr arbeiten zu können, sowie die Aufgabe der für das Selbstwertgefühl
wichtigen Boxkarriere (Bericht vom 16. Oktober 2001).

4.1 Aufgrund der bestehenden medizinischen Aktenlage kann nicht schlüssig
beurteilt werden, ob die auch nach dem 25. Oktober 2001 geklagten Beschwerden
(u.a. Kopfschmerzen, Schwindel, Konzentrationsstörungen, Depression)
natürlich kausale Folge des Unfalles vom 5. September 2000 sind. Dafür
spricht, dass der Beschwerdeführer eine Commotio cerebri erlitt. Darunter ist
medizinisch ein leichtes Schädelhirntrauma, eine traumatisch bedingte,
reversible Schädigung des Gehirns im Sinne einer Funktionsstörung ohne
morphologisch fassbares Substrat zu verstehen (Pschyrembel, Klinisches
Wörterbuch, 259. Aufl., S. 310). Dr. med. T.________ sprach im EEG-Bericht
vom 8. Dezember 2000 von einem «stumpfen Schädel-Hirn-Trauma». Unfallhergang
sowie Art und Ausmass der geklagten Beschwerden weisen auf eine solche
Verletzung hin. Anderseits ist die mit einer Commotio cerebri einhergehende
Schädigung des Gehirns grundsätzlich reversibel. Ob in diesem Zusammenhang
von Bedeutung ist, innerhalb welcher Zeitspanne nach dem Unfall (Latenzzeit)
bestimmte Beschwerden, insbesondere Kopfschmerzen, auftreten, ist nicht
bekannt, kann hier indessen offen bleiben (vgl. RKUV 2000 Nr. 359 S. 29 Erw.
5e und Nr. 391 S. 308 Erw. 2b [Schleudertrauma der Halswirbelsäule]).
Ebenfalls ist unklar, inwiefern der vor dem Unfall ausgeübte Boxsport bei dem
noch als sehr jung zu bezeichnenden Versicherten einen kausalrechtlich
bedeutsamen geschädigten Vorzustand geschaffen hatte. Für die Frage der
natürlichen Unfallkausalität der geklagten Beschwerden nicht ohne Belang ist
schliesslich, dass Hausärztin und Kreisarzt eine neuropsychologische
Abklärung als erforderlich erachteten (vgl. zur Bedeutung der
Neuropsychologie für den Nachweis des natürlichen Kausalzusammenhanges bei
Schleudertraumen der Halswirbelsäule oder Schädel-Hirntraumen BGE 119 V 341
Erw. 2b/bb sowie BGE 117 V 380 ff. Erw. 3f).

4.2 Unklar ist weiter, im Hinblick auf die Adäquanzbeurteilung indessen
entscheidend (Erw. 4.3), welche Bedeutung der psychischen Problematik
gegenüber den geklagten Beschwerden (u.a. Kopfschmerzen, Schwindel,
Konzentrationsstörungen) zukommt.

Bei den Ärzten, die sich zum psychischen Gesundheitszustand geäussert haben,
handelt es sich von Dr. med. L.________ abgesehen nicht um Psychiater oder
Psychotherapeuten. Ihre Äusserungen sind sodann vor dem Hintergrund zu sehen,
dass sie kein organisches Substrat für die geklagten Beschwerden finden
konnten. Dr. med. S.________ im Besonderen ging im Übrigen von der
unzutreffenden Annahme aus, der Versicherte sei infolge des am 5. September
2000 erlittenen Schädelhirntraumas zwei Tage lang bewusstlos gewesen (Bericht
vom 6. Juli 2001).

Ebenfalls liegt der Beurteilung des psychiatrischen Facharztes Dr. med.
L.________ ein im Ablauf ganz anderer Unfall zu Grunde (Sturz von einem
Baugerüst und auf den Hinterkopf fallendes Geröll). Schon von daher stellt
sich die Frage, inwiefern der diagnostizierten längeren depressiven Reaktion
F43.21 mit Schmerzsyndrom im Rahmen einer Anpassungsstörung nach
Arbeitsunfall, soweit unfallbedingt, Krankheitswert zukommt (Bericht vom 16.
Oktober 2001).

4.3 Die aufgeworfenen und vom kantonalen Gericht nicht näher geprüften Fragen
können nicht offen gelassen werden. Bei gegebenem natürlichem
Kausalzusammenhang zwischen Unfall und gesundheitlichen Beeinträchtigungen
ist die Adäquanzprüfung lediglich dann nach Massgabe von BGE 115 V 133
vorzunehmen, wenn die psychische Problematik spätestens im Oktober 2000 ganz
im Vordergrund stand und die anderen Beschwerden bloss noch eine sehr
untergeordnete Rolle spielten (vgl. BGE 123 V 99 Erw. 2a mit Hinweisen und
RKUV 2002 Nr. U 465 S. 437; ferner BGE 127 V 103 Erw. 5b/bb).

Es sind somit weitere medizinische Abklärungen (psychiatrische Begutachtung,
neuropsychologische Testung) im Sinne des Vorstehenden durch die SUVA
unabdingbar. Sie beschlagen die Frage der natürlichen Kausalität, werden aber
auch darüber Aufschluss geben, ob bei der Adäquanzprüfung danach zu
differenzieren ist, ob die geklagten Beschwerden somatischer oder psychischer
Natur sind oder ob auf diese Unterscheidung zu verzichten ist (Urteil H. vom
27. Juni 2000 [U 57/99]).

5.
Dem Prozessausgang entsprechend steht dem Beschwerdeführer eine
Parteientschädigung zu (Art. 159 Abs. 1 und 2 OG in Verbindung mit Art. 135
OG). Das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung ist demzufolge
gegenstandslos.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 1. April
2003 und der Einspracheentscheid vom 13. Juni 2002 aufgehoben und es wird die
Sache an die SUVA zurückgewiesen, damit sie nach Abklärungen im Sinne der
Erwägungen über den Anspruch auf Leistungen der Unfallversicherung ab 26.
Oktober 2001 im Zusammenhang mit dem Unfall vom 5. September 2000 neu
verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die SUVA hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hat über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, dem Bundesamt für Sozialversicherung, der SWICA Krankenversicherung
AG und der La Suisse Versicherungen zugestellt.
Luzern, 16. September 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: