Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen P 33/2003
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P 33/03

Urteil vom 27. November 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiberin
Riedi Hunold

B.________, 1937, Beschwerdeführerin, vertreten
durch Rechtsanwalt Dr. Kurt Fricker, Sorenbühlweg 13, 5610 Wohlen,

gegen

Ausgleichskasse des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 5. November 2002)

Sachverhalt:

A.
B. ________ (geboren 1937) bezog anfänglich eine Rente der
Invalidenversicherung und ab 1. Februar 1999 infolge Erreichen des
Pensionierungsalters eine Rente der AHV. Zusätzlich wurden ihr seit Jahren
Ergänzungsleistungen ausgerichtet. Nachdem sie von ihrer am 24. Januar 1995
verstorbenen Mutter den Betrag von Fr. 120'000.- geerbt hatte, stellte die
Ausgleichskasse des Kantons Aargau die Ergänzungsleistungen ein. Per 1.
Januar 1996 schloss B.________ bei der Lebensversicherungs-Genossenschaft
X.________ eine Leibrente mit Rückgewähr im Todesfall ab. Diese bezahlte ihr
auf Grund einer Einmaleinlage von Fr. 100'000.- ab 1. Februar 1996 eine
monatliche Rente von Fr. 506.20. In der Folge nahm die Ausgleichskasse
verschiedene Anpassungen bei der Berechnung der erneut ausgerichteten
Ergänzungsleistungen vor (Verfügungen vom 2. Februar 1996, 9. Januar 1997,
25. Juli 1997, 4. Juni 1998, 15. Februar 1999 und 18. Januar 2000). In den
Neuberechnungen der Verfügungen vom 19. und 25. Juni 2002 berücksichtigte die
Ausgleichskasse erstmals den Rückkaufswert der Leibrente als
Vermögensbestandteil.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 5. November 2002 ab.

C.
B.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, es
seien der vorinstanzliche Entscheid sowie die Verfügungen vom 19. und 25.
Juni 2002 aufzuheben und die Ausgleichskasse anzuweisen, den Anspruch auf
Ergänzungsleistungen ohne Berücksichtigung des Rückkaufswerts der Leibrente
neu zu berechnen. Die Ausgleichskasse verzichtet unter Hinweis auf den
kantonalen Entscheid auf eine Stellungnahme. Das Bundesamt für
Sozialversicherung (nachfolgend: BSV) schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der Ergänzungsleistungen geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung eingetretenen
Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die
bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Schweizer Bürger mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in der Schweiz,
welche Bezüger einer Rente der Alters- und Hinterlassenenversicherung oder
einer halben oder ganzen Rente der Invalidenversicherung sind und deren
anerkannte Ausgaben die anrechenbaren Einnahmen übersteigen, haben Anspruch
auf Ergänzungsleistungen (Art. 2 ff. ELG). Als Einnahme ist bei
Altersrentnern, welche in einem Altersheim wohnen, ein Fünftel des
Reinvermögens anzurechnen, soweit dieses bei Alleinstehenden den Betrag von
Fr. 25'000.- übersteigt (Art. 3c Abs. 1 lit. c ELG in Verbindung mit Art. 5
Abs. 3 lit. b ELG und § 4 des kantonalen Ergänzungsleistungsgesetzes, SAR
831.200). Zum massgebenden Vermögen gehören grundsätzlich sämtliche
Vermögenswerte, über die der Ansprecher ungeschmälert verfügen kann (BGE 122
V 24 Erw. 5a mit Hinweisen; AHI 2001 S. 292 Erw. 4b). Gemäss dem auf den 1.
Januar 1999 in Kraft getretenen Art. 15c Abs. 1 ELV ist bei Leibrenten mit
Rückgewähr der Rückkaufswert als Vermögenswert zu berücksichtigen. Das
Eidgenössische Versicherungsgericht hat Art. 15c Abs. 1 ELV als verfassungs-
und gesetzeskonform bezeichnet (AHI 2001 S. 290; Pierre Ferrari,
Dessaisissement volontaire et prestations complémentaires à l'AVS/AI, SZS
2002 S. 422 f.).

3.
3.1 Die Vorinstanz hat zu Recht festgehalten, dass Verfügungen über
Ergänzungsleistungen in zeitlicher Hinsicht nur für das Kalenderjahr
Rechtsbeständigkeit entfalten und dass im Rahmen der jährlichen Überprüfung
deshalb die Grundlagen zur Berechnung der Ergänzungsleistungen ohne Bindung
an früher berücksichtigte Berechnungsfaktoren und unabhängig allfälliger
während der Bemessungsdauer möglicher Revisionsgründe von Jahr zu Jahr neu
festgelegt werden (BGE 128 V 39 mit Hinweisen). Es ist demnach nicht zu
beanstanden, dass die Ausgleichskasse den Rückkaufswert der Leibrente erst ab
1. Januar 2002 berücksichtigte.

3.2
3.2.1Die Beschwerdeführerin macht geltend, bei ihr handle es sich um einen
anderen Sachverhalt als im Grundsatzurteil des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts (Urteil M. vom 20. August 2001, P 48/00 = AHI 2001 S.
290): Dort sei es um eine aufgeschobene Leibrente mit Rückgewähr gegangen,
während bei ihr bereits Rentenzahlungen fliessen würden.
Entgegen der Ansicht der Beschwerdeführerin unterscheiden sich die beiden
Sachverhalte in den massgeblichen Belangen nicht: Für die Anwendung von Art.
15c Abs. 1 ELV ist lediglich entscheidend, ob eine Leibrente mit Rückgewähr
vorliegt oder nicht. Denn die Umstände, welche den Verordnungsgeber zu dieser
(verfassungs- und gesetzeskonformen) Regelung veranlassten, sind dieselben:
Von einer Ergänzungsleistungen beziehenden Person wird verlangt, dass sie die
ihr zur Verfügungen stehenden Vermögenswerte (abzüglich eines Freibetrags)
ebenfalls für den Lebensunterhalt einsetzt und nicht ihr Vermögen (in welcher
Form auch immer) zu Lasten des Staates beibehält. Dies wird jedoch mit der
von der Beschwerdeführerin abgeschlossenen Versicherung bezweckt, wurde dabei
gerade mit der Begünstigung der Kinder der Beschwerdeführerin dem wenn auch
verständlichen, so doch vom Verordnungsgeber verpönten Umstand Rechnung
getragen, dass den beiden unter gesundheitlichen Problemen Leidenden im
Todesfall der Mutter die noch nicht bezogenen Leistungen zufallen sollen
(vgl. etwa die Ausführungen in der Beschwerde vom 19. August 2002 sowie in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde). Insofern ist die Missbrauchsgefahr im
vorliegenden Fall nicht bloss abstrakter Natur.

3.2.2 Der Berücksichtigung der Leibrente mit Rückgewähr steht nicht entgegen,
dass nebst den einzelnen Rentenbetreffnissen auch der Rückkaufswert als
Vermögensbestandteil in die Berechnung der Ergänzungsleistungen miteinbezogen
wird. Um diese doppelte Anrechnung als Einkommen einerseits und als Vermögen
andererseits abzuschwächen, werden die Rentenzahlungen nur im Umfang von 80 %
als Einnahme angerechnet (Art. 15c Abs. 3 ELV). Zudem wird auf der Leibrente,
anders als bei den übrigen Vermögenswerten, kein hypothetischer
Vermögensertrag berücksichtigt (Art. 15c Abs. 2 ELV; vgl. zum Ganzen auch die
Erläuterungen des BSV in AHI 1998 S. 271 ff. sowie Carigiet/Koch,
Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, Supplement, Zürich 2000, S. 96 f.).
3.2.3 Auch verkennt die Beschwerdeführerin den Sinn und Zweck der
Ergänzungsleistungen: Der Staat soll nur dort ergänzend eingreifen, wo es der
betroffenen Person aus eigener Kraft nicht möglich ist, die laufenden
Lebensbedürfnisse zu decken (vgl. AHI 2001 S. 291 Erw. 4b mit Hinweisen). So
ist vorhandenes Vermögen für den gegenwärtigen Lebensunterhalt einzusetzen,
da die Ergänzungsleistungen beziehende Person in diesem Moment finanzieller
Mittel bedarf. Aus diesen Gründen werden denn auch bei den
Ergänzungsleistungen keine Überlegungen über langfristige finanzielle
Auswirkungen vorgenommen. Massgebend ist alleine der Zeitpunkt, in welchem
Leistungen beansprucht werden (AHI 2001 S. 292 Erw. 4b).

3.2.4 Schliesslich ist mit der Vorinstanz festzuhalten, dass die
Beschwerdeführerin sich nicht auf den Vertrauensschutz berufen kann, weil
sich die gesetzlichen Grundlagen geändert haben (BGE 127 I 36 Erw. 3a, 126 II
387 Erw. 3a sowie die weiterhin geltende Rechtsprechung zu Art. 4 Abs. 1 aBV
in BGE 121 V 66 Erw. 2a mit Hinweisen).

4.
Da es im vorliegenden Verfahren um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss
Art. 134 OG keine Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche
Rechtspflege im Sinne der Befreiung von den Gerichtskosten erweist sich daher
als gegenstandslos. Die unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt
werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit
aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die
Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit
Hinweisen). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam
gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten
haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Dr.
Kurt Fricker für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 27. November 2003

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: