Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 90/2003
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K 90/03

Urteil vom 4. November 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger und Kernen;
Gerichtsschreiberin Durizzo

B.________, Beschwerdeführerin,
handelnd durch ihre Eltern H.________ und K.________, und diese vertreten
durch Rechtsanwalt Rémy Wyssmann, Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Schadenrecht, Zürichstrasse 130, 8600 Dübendorf,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 11. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Unfallmeldung vom 27. September 2001 teilten die Eltern von B.________,
geboren 1989, der Helsana Versicherungen AG mit, dass ihre Tochter am 7. Juli
2000 am Kinderfest in Z.________ beim Aufprall zweier "Putsch-Autos" den Mund
am Lenkrad aufgeschlagen habe. Wie der Zahnarzt festgestellt habe, sei dabei
ein Zahnnerv verletzt worden. Mit Verfügung vom 19. Juni 2002 lehnte die
Helsana ihre Leistungspflicht für die zahnärztliche Behandlung ab mit der
Begründung, dass kein Unfall im Rechtssinne vorliege. Diese Auffassung
bestätigte sie mit Einspracheentscheid vom 12. August 2002.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 11. Juni 2003 ab.

C.
Die Eltern von B.________ lassen Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit den
Anträgen, es sei das angefochtene Urteil aufzuheben und die Helsana zu
verpflichten, für die Folgen des Unfallereignisses vom 7. Juli 2000 die
gesetzlichen Leistungen zu erbringen.

Die Helsana und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine
Vernehmlassung.

D.
Am 4. November 2005 hat das Eidgenössische Versicherungsgericht eine
parteiöffentliche Beratung durchgeführt.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über die
Leistungspflicht des Krankenversicherers bei Zahnschäden (Art. 31 Abs. 2 in
Verbindung mit Art. 1 Abs. 2 lit. b KVG), zum Unfallbegriff nach Art. 2 Abs.
2 KVG, welcher derselbe ist wie im Unfallversicherungsrecht (Art. 9 Abs. 1
UVV; BGE 122 V 232 f. Erw. 1), sowie insbesondere zum Begriffsmerkmal der
Ungewöhnlichkeit (BGE 122 V 233 Erw. 1 mit Hinweisen; RKUV 1996 Nr. U 253 S.
204 Erw. 4c) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen über
die Anwendbarkeit des am 1. Januar 2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes
über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober
2000. Darauf wird verwiesen.

2.
Die Vorinstanz hat in Anlehnung an die bundesgerichtliche Rechtsprechung
erwogen, das Ereignis vom 7. Juli 2000 stelle keinen Unfall im Rechtssinne
dar, weil es am Merkmal des ungewöhnlichen äusseren Faktors fehle. Es gehöre
zum programmgemässen Ablauf einer Autoscooterfahrt, dass der Körper des
Benutzers durch den Zusammenstoss der Fahrzeuge erheblichen Beschleunigungen
ausgesetzt werde. Im Rahmen einer Vergnügungsfahrt, bei welcher die Kollision
mit anderen Teilnehmern gesucht bzw. ein unerwarteter Aufprall in Kauf
genommen werde, sei es insbesondere nicht ungewöhnlich, dass Oberkörper und
Kopf der Teilnehmer in verschiedene Richtungen geschlagen würden und dabei
auch mit Teilen des Fahrzeugs in Berührung kämen. Solche gesuchten und in
Kauf genommenen Beschleunigungen des Kopfes könnten erfahrungsgemäss nicht
nur zu Distorsionen der Halswirbelsäule, für welche die Rechtsprechung die
Annahme eines Unfalls abgelehnt habe, sondern auch zu Verletzungen am Kopf
wie etwa Zahnschäden führen. Der Auffassung der Versicherten, welche
diesbezüglich einen rechtserheblichen Unterschied zwischen Distorsionen der
Halswirbelsäule und Verletzungen am Kopf durch Aufprall an Teilen des
Fahrzeugs erblicke, könne nicht gefolgt werden.

3.
3.1 Dem in RKUV 1996 Nr. U 253 S. 199 publizierten Fall lag der folgende
Sachverhalt zugrunde: Die Versicherte besuchte eine Vergnügungsbahn
(Snowjet), welche in einer Richtung rotierte. Auf der rotierenden Fläche
waren mehrere kleine Wägelchen montiert, welche ihrerseits wieder in
verschiedenen Richtungen rotierten und dabei heftig hin und her schaukelten.
Beim Richtungswechsel entstand jeweils ein heftiger Ruck. Die Versicherte zog
sich dabei eine Distorsion der Halswirbelsäule zu. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht hat erwogen, dass ein in verschiedene Richtungen
drehendes sowie hin und her schaukelndes Wägelchen auf einer rotierenden
Vergnügungsbahn mit sich ändernden Geschwindigkeiten den Benützer
beträchtlichen Beschleunigungs-, Brems-, Dreh-, Schaukel- und
Schleuderbewegungen aussetze, was die Attraktion solcher Fahrten ausmache. Es
gehöre zu deren programmgemässem Ablauf, dass der Körper und namentlich auch
die auf Distorsionen besonders anfällige Halswirbelsäule grossen
Zentrifugalkräften ausgesetzt werde. In dieser den Körper stark belastenden
Situation zufolge häufiger und rascher Änderungen der Bewegungsabläufe der
Vergnügungsbahn könne grundsätzlich nichts Ungewöhnliches erblickt werden.
Die unerwartete Folge der Bahnfahrt konnte angesichts des objektiv
programmmässigen Bewegungsablaufes und damit des fehlenden
Ungewöhnlichkeitscharakters nicht auf einen Unfall im Rechtssinne
zurückgeführt werden.

3.2 In der Folge hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in dem in RKUV
1998 Nr. U 311 S. 468 publizierten Fall entschieden, dass die Distorsion der
Halswirbelsäule, welche sich der Versicherte im Autoscooter beim
Zusammenprall mit einem anderen Scooter zugezogen hat, ebenfalls nicht der
Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors zuzuschreiben sei. Bei
solchen Vergnügungsfahrten werde die Kollision mit anderen Teilnehmern
gesucht und in Kauf genommen, dass ein Aufprall unerwartet erfolge.

3.3 Der vorliegende Fall unterscheidet sich insofern von den zitierten, als
hier im Ablauf des Ereignisses ein zusätzliches Element hinzutritt. Infolge
eines Aufpralls mit einem anderen Scooter schlug die Versicherte mit dem
Kiefer am Lenkrad des eigenen Scooters auf. Zu prüfen bleibt, ob dies eine
andere Qualifikation des Vorfalls rechtfertigt.

Zunächst liegt, wie in Erwägung 3.1 und 3.2 ausgeführt, im Zusammenstoss
zwischen zwei Scootern nichts Ungewöhnliches, da im Gegenteil Kollisionen mit
andern Teilnehmern gerade gesucht werden. Dass die Versicherte in der Folge
den Mund am Lenkrad angeschlagen hat, kann dieses Ereignis - d.h. den
Zusammenstoss der beiden Scooter - nicht zum Unfall machen, würde man damit
doch ergebnisorientiert differenzieren. Der Umstand des Anschlagens kann aber
auch nicht als eigenständiger Unfall qualifiziert werden. Zwar gilt der
Unfallbegriff bei äusseren Einwirkungen in der Regel als erfüllt: So wird
beim Zusammenstoss zweier Autos die Ungewöhnlichkeit nicht in Frage gestellt,
auch wenn der Vorgang alltäglich ist und die Autofahrer/innen deshalb mit
einem solchen Geschehen rechnen müssen (RKUV 1999 Nr. U 333 S. 199 Erw. 3c);
umgekehrt liegt bei einem Autounfall ohne Kollision kein Unfall vor (Urteile
M. vom 25. März 2004, U 131/03, und B. vom 3. August 2000, U 349/99:
Vollbremsungen führten zu einem Schleudertrauma bzw. zu einer
Hyperflexions-Bewegung der Halswirbelsäule). Die äussere Einwirkung liegt
auch hier vor. Jedoch ist zu beachten, dass die Verletzung beim Anschlagen an
das Lenkrad durch die heftige Körperbewegung verursacht worden ist, welche
wiederum der gewollte Zusammenstoss mit dem anderen Scooter ausgelöst hat.
Das Anschlagen lässt sich mit anderen Worten nicht isolieren, sondern der
Ablauf ist - in sachverhaltlicher wie in rechtlicher Hinsicht - als Einheit
zu betrachten. Wird der Zusammenstoss der Scooter nicht als Unfall im
Rechtssinne qualifiziert, so kann dies auch nicht für die in der Folge
aufgetretene Verletzung durch das Aufschlagen mit dem Mund gelten. Wenn der
durch den Aufprall ausgelöste Bewegungsablauf des Körpers durch ein
Hindernis, das Lenkrad, gestört wird, so war dies zwar zweifellos weder
gewollt noch geplant. Trotzdem liegt keine Programmwidrigkeit vor, die eine
Ungewöhnlichkeit des Geschehens begründen würde (anders etwa die Verletzung
eines Eishockeyspielers durch den Check gegen eine Bande, BGE 130 V 117).
Denn die beim Aufprall am Lenkrad zugezogene Verletzung wurde ebenfalls durch
den gesuchten Zusammenstoss mit dem anderen Scooter verursacht. Es handelt
sich hier nicht um eine natürliche Körperbewegung, die durch einen äusseren
Faktor gestört wurde. Vielmehr wurde die Körperbewegung ausgelöst durch einen
gewollten Zusammenstoss mit einem anderen Scooter. Damit wird der Körper
bewusst einer Einwirkung von beträchtlichen Kräften ausgesetzt. Gleichzeitig
wird er dadurch in einen Bewegungsablauf versetzt, der sich nicht
kontrollieren lässt - was beim Scooterfahren mit den Zusammenstössen auch
bezweckt wird. Damit kann von vornherein nicht von einem vorgesehenen,
programmgemässen Bewegungsablauf gesprochen werden, der in der Folge
planwidrig gestört wird. Zweck der Vergnügungsfahrt ist vielmehr, sich einem
unkoordinierten, unprogrammierten und damit auch ungewöhnlichen
Bewegungsablauf auszusetzen. Zumindest ein Anschlagen des Kiefers am Lenkrad
liegt dabei jedenfalls nicht ausserhalb des Alltäglichen und Üblichen. Dass
ein Schaden eingetreten ist, kann ebenfalls nicht zu einer Qualifikation als
Unfall führen, kommt es doch nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors an
(BGE 122 V 233 Erw. 1). Daran ändern schliesslich auch die von den Beschwerde
Führenden geltend gemachten Sicherheitsvorkehrungen nichts, dienen sie doch
bloss dazu, Verletzungen wenn möglich zu vermeiden; die Einwirkung des
äusseren Faktor macht ihn dadurch nicht ungewöhnlich.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Ein Anspruch auf
Parteientschädigung besteht bei diesem Ausgang des Prozesses nicht (Art. 135
in Verbindung mit Art. 159 Abs. 2 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit zugestellt.

Luzern, 4. November 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: