Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 88/2003
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K 88/03

Urteil vom 28. Mai 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Kopp Käch

L.________, 1968, Beschwerdeführerin,

gegen

Helsana Versicherungen AG, Schadenrecht, Birmensdorferstrasse 94, 8003
Zürich, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 28. Mai 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1968 geborene L.________ ist bei der Helsana Versicherungen AG
(nachfolgend Helsana) krankenversichert. Sie leidet nach ihren Angaben an
einer juvenilen Parodontitis, welche von ihrem Zahnarzt diagnostiziert worden
war, und unterbreitete der Helsana am 30. Mai 2001 einen Kostenvoranschlag
für die Behandlung im Betrag von Fr. 10'255.10.
Mit Verfügung vom 28. Oktober 2002 lehnte die Helsana nach Beizug ihres
Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. U.________ die Ausrichtung von Leistungen
an die zahnärztliche Behandlung aus der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung ab. Sie begründete dies damit, dass einerseits
Auslöser der juvenilen Parodontitis das Bakterium Actinobazillus
actinomycetem comitans (Aac) sei, dessen Vorhandensein bisher nicht
nachgewiesen sei, und andrerseits die Diagnosenstellung im Alter von 34
Jahren zu spät sei. Im Einspracheentscheid vom 29. Januar 2003 liess die
Helsana das Kriterium des Alters fallen, wies die Einsprache jedoch mangels
genügenden Nachweises der Diagnose einer juvenilen Parodontitis durch eine
Bakterienanalyse ab.

B.
Die Beschwerde, mit welcher L.________ die vollumfängliche Übernahme der
zahnärztlichen Behandlungskosten durch die Krankenversicherung beantragte,
hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 28. Mai
2003 teilweise gut und wies die Sache zu weiteren Abklärungen betreffend
Nachweis des Bakterienstammes Aac und zum Neuentscheid an die Helsana zurück.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht L.________ geltend, die verlangte
Bakterienanalyse sei unerheblich, und beantragt wiederum die vollumfängliche
Übernahme der zahnärztlichen Behandlungskosten.
Die Helsana schliesst sinngemäss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf
eine Vernehmlassung.
Mit einer weiteren Eingabe hält L.________ an ihrem Standpunkt fest.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen über
den Anspruch auf Leistungen der sozialen Krankenversicherung für
zahnärztliche Behandlungen, die durch eine schwere, nicht vermeidbare
Erkrankung des Kausystems, namentlich durch eine juvenile, progressive
Parodontitis bedingt sind (Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG, Art. 33 Abs. 2 und 5
KVG in Verbindung mit Art. 33 lit. d KVV sowie Art. 17 lit. b Ziff. 2 KLV)
zutreffend dargelegt. Darauf kann verwiesen werden.
Zu ergänzen ist, dass gemäss ständiger Rechtsprechung die in Art. 17-19 KLV
erwähnten Erkrankungen, welche von der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung zu übernehmende zahnärztliche Behandlungen
bedingen, abschliessend aufgezählt sind (BGE 129 V 83 Erw. 1.3 und 279 Erw.
3.2).
1.2 Das sozialversicherungsrechtliche Verwaltungs- und
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz
beherrscht. Danach haben Versicherungsträger und Sozialversicherungsgericht
von Amtes wegen für die richtige und vollständige Abklärung des
rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen. Dieser Grundsatz gilt indessen
nicht uneingeschränkt; er findet sein Korrelat in den Mitwirkungspflichten
der Parteien (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit Hinweisen).
Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne einer
Beweisführungslast begriffsnotwendig aus. Im Sozialversicherungsverfahren
tragen mithin die Parteien in der Regel eine Beweislast nur insofern, als im
Falle der Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt,
die aus dem unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte. Diese
Beweisregel greift allerdings erst Platz, wenn es sich als unmöglich erweist,
im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auf Grund einer Beweiswürdigung einen
Sachverhalt zu ermitteln, der zumindest die Wahrscheinlichkeit für sich hat,
der Wirklichkeit zu entsprechen (BGE 117 V 264 Erw. 3b mit Hinweisen).

1.3 Das Bundesrecht schreibt nicht vor, wie die einzelnen Beweismittel zu
würdigen sind. Für das gesamte Verwaltungs- und
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren gilt der Grundsatz der freien
Beweiswürdigung (Art. 40 BZP in Verbindung mit Art. 19 VwVG; Art. 95 Abs. 2
OG in Verbindung mit Art. 113 und 132 OG). Danach haben Versicherungsträger
und Sozialversicherungsgerichte die Beweise frei, d.h. ohne Bindung an
förmliche Beweisregeln sowie umfassend und pflichtgemäss zu würdigen. Für das
Beschwerdeverfahren bedeutet dies, dass das Sozialversicherungsgericht alle
Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen, und
danach zu entscheiden hat, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige
Beurteilung des streitigen Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf es
bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht
erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe
anzugeben, warum es auf die eine und nicht auf die andere medizinische These
abstellt. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend,
ob der Bericht für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen
Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in
Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Darlegung der
Zusammenhänge und in der Beurteilung der medizinischen Situation einleuchtet
und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind. Berichte und
Gutachten versicherungsinterner Ärzte unterliegen wie andere Beweismittel der
freien richterlichen Beweiswürdigung. Es kann ihnen Beweiswert beigemessen
werden, sofern sie als schlüssig erscheinen, nachvollziehbar begründet sowie
in sich widerspruchsfrei sind und keine Indizien gegen ihre Zuverlässigkeit
sprechen. Bestehen Zweifel an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der
ärztlichen Feststellungen, sind ergänzende Abklärungen vorzunehmen. Dabei hat
das Sozialversicherungsgericht grundsätzlich die Wahl, ob es die Sache zur
weiteren Beweiserhebung an die Verwaltung zurückweisen oder die
erforderlichen Instruktionen insbesondere durch Anordnung eines
Gerichtsgutachtens selber vornehmen will (BGE 125 V 352 Erw. 3a und b mit
Hinweisen).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin die Kosten der
zahnärztlichen Behandlung der Beschwerdeführerin zu übernehmen hat.

2.1 Die Beschwerdeführerin beantragt die Kostenübernahme im Wesentlichen
gestützt auf die Diagnosenstellung des sie behandelnden Zahnarztes Dr. med.
dent. E.________ vom 20. Februar 2002. Zudem beruft sie sich auf ein Zeugnis
des Dr. med. dent. P.________ vom 4. Januar 1990, in welchem der Zahnarzt die
Diagnose einer schweren aktiven lokalisierten juvenilen Parodontitis
festhielt und darauf hinwies, dass diese gemäss Unterlagen des Dr. med. dent.
J.________ mindestens seit 1984 bestehe.

2.2 Die Krankenkasse demgegenüber verneint nach Beizug ihres
Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. U.________ eine Leistungspflicht. Sie
bezeichnet die durch den behandelnden Zahnarzt gestellte Diagnose einer
juvenilen Parodontitis lediglich als Verdachtsdiagnose und hält die
Erkrankung mangels Nachweises des Bakteriums Actinobazillus actinomycetem
comitans durch eine Bakterienanalyse nicht als mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit erstellt.

3.
3.1 Bezüglich Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
für zahnärztliche Behandlungen ist vorerst darauf hinzuweisen, dass der
Gesetzgeber anlässlich der KVG-Revision per 1. Januar 1996 nichts am
Grundsatz geändert hat, wonach die zahnärztlichen Behandlungen im Allgemeinen
nicht von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu decken sind (BGE
124 V 185). Die in Art. 17-19 KLV erwähnten Erkrankungen, welche von der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu übernehmende zahnärztliche
Behandlungen bedingen, sind - wie in Erw. 1.1 erwähnt - abschliessend
aufgezählt (BGE 129 V 83 Erw. 1.3 und 279 Erw. 3.2). Damit eine
Leistungspflicht bejaht werden kann, muss eine solche Erkrankung mit dem im
Sozialversicherungsrecht erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit nachgewiesen sein.

3.2 Zu prüfen ist im konkreten Fall das Vorliegen einer juvenilen,
progressiven Parodontitis gemäss Art. 17 lit. b Ziff. 2 KLV.

3.2.1 Zum Nachweis der erwähnten Erkrankung legt die Beschwerdeführerin zwei
Arztberichte auf, nämlich das Zeugnis des Dr. med. dent. P.________ vom 4.
Januar 1990 und den medizinischen Bericht des Dr. med. dent. E.________ vom
22. Februar 2002. Während ersterer sich auf die Feststellung einer schweren
aktiven lokalisierten juvenilen Parodontitis beschränkt, wird in zweiterem
ausgeführt, zahnärztlicher Befund und Röntgenbilder liessen diese Diagnose
als gesichert erscheinen. Der Vertrauenszahnarzt der Beschwerdegegnerin legt
demgegenüber dar, die juvenile Parodontitis zeichne sich durch eine besondere
Zusammensetzung der parodontalen krankheitsverursachenden Bakterien aus,
wobei vor allem das Bakterium Actinobazillus actinomycetem comitans eine
entscheidende Rolle einnehme. Zudem mache diese Erkrankung ganz typische
röntgenologisch gut sichtbare parodontale Einbrüche an den 6-Jahresmolaren
und an den zentralen Incisivi in der Unter- und Oberkieferfront. Ohne
Röntgenstatus und aktuellen Taschenindex sowie ohne Bakterienanalyse könne
zur Verdachtsdiagnose der juvenilen Parodontitis nicht Stellung genommen
werden. Der behandelnde Zahnarzt bestätigt in einem von der
Beschwerdeführerin aufgelegten medizinischen Bericht vom 10. Juli 2003, dass
für eine definitive Diagnose der klinische Verlauf sowie das
charakteristische Muster von Knochenverlust im Röntgenbild erforderlich sind.
Bezüglich Bakterienanalyse macht er geltend, einerseits komme das Bakterium
Actinobazillus actinomycetem comitans nur in etwa 90 % der Fälle juveniler
Parodontitis vor, anderseits seien bei diesem Krankheitsprozess auch
Capnocytophaga und Mycoplasma beteiligt.

3.2.2 Gestützt auf die vorhandenen medizinischen Unterlagen können das
Vorliegen einer juvenilen, progressiven Parodontitis und damit die Frage der
Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nicht
beurteilt werden. Die blossen Diagnosenstellungen der Dres. med. dent.
P.________ und E.________ erfüllen die in Erw. 1.3 dargelegten Anforderungen
an einen Arztbericht nicht und vermögen mangels näherer Angaben und
Unterlagen sowie in Anbetracht der Einwendungen des Vertrauenszahnarztes der
Beschwerdegegnerin das Vorhandensein der Erkrankung nicht mit dem
erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachzuweisen.
Wie die Vorinstanz zutreffend ausgeführt hat, ist es grundsätzlich Sache des
Versicherungsträgers, die notwendigen Abklärungen einzuholen, wobei die
Parteien Mitwirkungspflichten tragen. Die Rückweisung an die
Beschwerdegegnerin zur Einholung der erforderlichen Unterlagen und Auskünfte
ist daher zu Recht erfolgt, wobei vorliegend nicht abschliessend beantwortet
werden kann, ob bereits die Röntgenbilder genügend Aufschluss geben werden
oder ob weitergehende Abklärungen erforderlich sind.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau
und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.
Luzern, 28. Mai 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: