Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 61/2003
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K 61/03

Urteil vom 8. Februar 2005
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Kopp Käch

S.________, 1978, Beschwerdeführerin,

gegen

VISANA, Weltpoststrasse 19/21, 3015 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 28. April 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1978 geborene S.________ ist bei der Visana krankenversichert. Sie liess
sich am 5. Dezember 2001 ihre vier Weisheitszähne durch Dr. med. Dr. med.
dent. C.________ entfernen. Die Versicherte reichte der Krankenkasse in der
Folge vier Rechnungen über den Gesamtbetrag von Fr. 2293.20 ein. Nach Beizug
des Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. H.________ bejahte die Visana mit
Verfügung vom 8. Mai 2002 eine Leistungspflicht der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung für die Extraktion der Weisheitszähne im Oberkiefer
im Betrag von Fr. 688.20, für die Vor- und Nachbehandlung bei Dr. med. Dr.
med. dent. C.________ (Rechnungen vom 7. Dezember 2001 über Fr. 105.30 und
vom 7. Januar 2002 über Fr. 287.--) sowie für die auf den Rechnungen
aufgeführten Medikamente. Gleichzeitig lehnte sie die Übernahme der Kosten
von Fr. 908.30 für die Extraktion der Weisheitszähne im Unterkiefer durch Dr.
med. Dr. med. dent. C.________ sowie der dazugehörigen Rechnung des Labors
B.________ AG über den Betrag von Fr. 170.10 ab. Die dagegen erhobene
Einsprache wies die Visana nach Einholung einer Stellungnahme des Dr. med.
Dr. med. dent. L.________, Leitender Arzt der Schädel-, Kiefer- und
Gesichtschirurgie am Spital X.________, mit Entscheid vom 4. Oktober 2002 ab.
Die Krankenkasse hielt fest, dass sie die Kosten für die Extraktion der
oberen Weisheitszähne von Fr. 688.20 sowie der Vor- und Nachbehandlung von
Fr. 287.-- und Fr. 105.30 übernehme, nicht jedoch die Kosten für die
Extraktion der unteren Weisheitszähne 38 und 48, für 2xProbeexzision sowie
1xLA oral.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern
mit Entscheid vom 28. April 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt S.________ die vollumfängliche
Rückerstattung der Zahnbehandlungskosten durch die obligatorische
Krankenpflegeversicherung. Zur Begründung verweist sie auf die Angaben des
behandelnden Arztes Dr. med. Dr. med. dent. C.________.
Die Visana schliesst nach erneutem Beizug des Dr. med. Dr. med. dent.
L.________ auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherung, Abteilung Krankenversicherung (seit 1. Januar 2004 im
Bundesamt für Gesundheit) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Krankenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 129 V 4 Erw. 1.2), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier:
4. Oktober 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar.

2.
Das kantonale Gericht hat die massgebenden gesetzlichen Grundlagen über den
Anspruch auf Leistungen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für
zahnärztliche Behandlungen (Art. 31 Abs. 1 KVG, Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in
Verbindung mit Art. 33 lit. d KVV sowie Art. 17-19 KLV), namentlich für
solche, die durch eine schwere nicht vermeidbare Erkrankung des Kausystems in
Form verlagerter Zähne mit Krankheitswert (Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG in
Verbindung mit Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV) bedingt sind, zutreffend
dargelegt. Darauf kann verwiesen werden. Richtig sind auch die Ausführungen
zur Rechtsprechung über das Erfordernis eines qualifizierten Krankheitswertes
in Art. 17 KLV (BGE 130 V 467 Erw. 3.2 mit Hinweisen) und über den
abschliessenden Charakter der Aufzählung der in Art. 17 bis 19a KLV erwähnten
Erkrankungen, welche von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu
übernehmende zahnärztliche Behandlungen bedingen (BGE 129 V 83 Erw. 1.3 und
279 Erw. 3.2).

3.
3.1 Was die Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung
für zahnärztliche Behandlungen, die durch eine schwere nicht vermeidbare
Erkrankung des Kausystems bedingt sind, anbelangt, unterscheidet Art. 17 lit.
a Ziff. 2 KLV nicht zwischen der Behandlung von Weisheitszähnen und von
anderen Zähnen. Die Behandlungskosten sind von der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung zu übernehmen, wenn die Zähne verlagert sind und
das Leiden Krankheitswert erreicht, wobei als Beispiele für einen solchen
Krankheitswert in Klammern der Abszess und die Zyste genannt werden.

Die Leistungspflicht für die Behandlung von verlagerten Weisheitszähnen ist
demzufolge bei Vorliegen des erforderlichen qualifizierten Krankheitswertes
gleich zu beurteilen wie diejenige für die Behandlung anderer verlagerter
Zähne. Dieser qualifizierte Krankheitswert beinhaltet im Wesentlichen zwei
Elemente, nämlich einerseits die Pathologie mit einer Gefährdung des Lebens
oder einer Beeinträchtigung der Gesundheit und andererseits die notwendigen
Massnahmen, um die Gefährdung oder Beeinträchtigung zu beseitigen oder
zumindest zu verringern (BGE 130 V 468 Erw. 4.1). So haben auch die Experten
den qualifizierten Krankheitswert verneint, wenn ein pathologisches Geschehen
mit einfachen Massnahmen behoben werden kann.

3.2 Im oben zitierten Urteil hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
dargelegt, dass verlagerte Weisheitszähne gemäss Ansicht der beigezogenen
Experten gegenüber andern verlagerten oder überzähligen Zähnen insofern eine
besondere Stellung einnehmen, als sie von ihrer topografischen Lage her
besonders häufig Lage-Anomalien zeigen. Entwicklungsgeschichtlich hat dazu
beigetragen, dass der Kiefer des Menschen kleiner, die Zähne grösser geworden
sind, sodass der Platz auf dem Kieferknochen für die Zähne, namentlich für
die hintersten, nicht mehr ausreicht. Neben der Abweichung von der Lage ist
oft eine solche von der Achse festzustellen, wodurch Nachbarstrukturen
geschädigt werden können. Aus diesen Gründen geben die Weisheitszähne häufig
Anlass zu entzündlichen Komplikationen und Zystenbildungen, die wegen ihrer
Lage schwerwiegende Folgen haben können wie einen Durchbruch von Abszessen in
anatomischen Logen von vitaler Bedeutung oder eine Spontanfraktur des
Unterkiefers infolge Schwächung durch grosse Zysten (BGE 130 V 469 Erw. 4.2
mit Hinweis).

3.3 Bei der Behandlung verlagerter Weisheitszähne ist zudem die Besonderheit
zu berücksichtigen, dass diese entfernt werden, ohne dass an ihrer Stelle ein
Ersatz (z.B. Implantat) als tunlich erscheint, während andere verlagerte
Zähne nicht ersatzlos entfernt werden können, sondern durch zahnärztliche
Massnahmen zu erhalten sind oder an ihrer Stelle eine Ersatzlösung zu suchen
ist, um die Kaufunktion aufrecht zu erhalten.

3.4 Aufgrund der geschilderten Unterschiede kann demzufolge, wie das
Eidgenössische Versicherungsgericht im zitierten BGE 130 V 464 dargelegt hat,
bei verlagerten Weisheitszähnen und anderen verlagerten Zähnen bei
identischer Pathologie der qualifizierte Krankheitswert im oben umschriebenen
Sinn nicht gleich beurteilt werden. Um an die Übernahme der Kosten für die
Behandlung verlagerter Weisheitszähne nicht geringere Anforderungen an die
Schwere des Leidens zu stellen als für die Behandlung anderer verlagerter
Zähne, kann bei Weisheitszähnen nicht jede Pathologie genügen, die bei andern
verlagerten Zähnen die Übernahme rechtfertigt. Eine Pathologie wie
beispielsweise eine Zyste oder ein Abszess, sofern ohne grossen Aufwand
behandelbar, macht die Entfernung eines Weisheitszahnes nicht zur Behandlung
einer schweren Erkrankung des Kausystems im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a
KVG in Verbindung mit Art. 17 KLV. Anders ist es zu halten, wenn entweder die
Entfernung des verlagerten Weisheitszahnes wegen besonderer Verhältnisse oder
die Behandlung der Pathologie schwierig und aufwändig ist (vgl. BGE 127 V
328; RKUV 2002 Nr. KV 202 S. 91, K 12/01).

3.5 Die versicherte Person und der sie behandelnde Arzt haben dem
Krankenversicherer alle medizinischen Grundlagen dafür zu liefern, dass er
die Voraussetzungen für die Leistungspflicht prüfen kann. Werden gleichzeitig
mehrere Weisheitszähne entfernt, ist der Nachweis für jeden Weisheitszahn zu
erbringen (BGE 130 V 470 Erw. 5 mit Hinweis).

4.
Die Beschwerdegegnerin hat die Behandlungskosten der beiden oberen
Weisheitszähne 18 und 28 als Pflichtleistung der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung anerkannt. Streitig und zu prüfen ist vorliegend
noch die Leistungspflicht für die Behandlung der beiden unteren
Weisheitszähne 38 und 48.

4.1 Dr. med. Dr. med. dent. C.________ diagnostizierte im Zahnschadenformular
vom 10. Dezember 2001 pericoronale Infekte und follikuläre Zysten mit
chronischer Entzündung bei verlagerten Weisheitszähnen. In den nachfolgenden
Berichten erwähnte er bezüglich Krankheitswert ergänzend eine Verschiebung
der angrenzenden Zähne mit Engstandbildung in der Unterkieferfront. Zudem
stehe die Versicherte wegen Multipler Sklerose in Behandlung mit Interferon.
Eine negative Beeinflussung aufgrund der chronisch rezidivierenden
pericoronalen Infekte sei sowohl bezüglich MS-Schüben wie
Interferonbehandlung gegeben.

4.2 Nach Beizug des Vertrauenszahnarztes Dr. med. dent. H.________ und des
Dr. med. Dr. med. dent. L.________ lehnte die Visana eine Übernahme der
Behandlungskosten für die unteren Weisheitszähne ab, im Wesentlichen mit der
Begründung, die Voraussetzungen der Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV und Art. 19
KLV seien nicht erfüllt, da es einerseits am in Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV
geforderten schweren Krankheitswert fehle und andrerseits die Multiple
Sklerose in Art. 19 KLV nicht erwähnt sei.

4.3 Die Vorinstanz würdigte die verschiedenen medizinischen Berichte und kam
zum Schluss, dass die in Art. 17 lit. a Ziff. 2 KLV statuierte Voraussetzung
des qualifizierten Krankheitswertes bei den unteren Weisheitszähnen nicht
erfüllt sei, weshalb die Frage der Verlagerung dieser Zähne offen bleiben
könne.

4.4 Was zunächst die Frage einer Leistungspflicht gestützt auf Art. 17 lit. a
Ziff. 2 KLV anbelangt, ergibt sich aus den Akten bezüglich der ersten
Voraussetzung der Verlagerung der betroffenen Zähne kein einheitliches Bild.
Dr. med. Dr. med. dent. C.________ geht von einer durch Impaktion
verursachten deutlich ausgeprägten Verlagerung der Weisheitszähne 38 und 48
aus. Die Abweichung ad axim und ad longitudinem bezeichnet er als relativ
gering, diejenige ad latum jedoch als ausgeprägt gegen den aufsteigenden Ast,
deutlich dorsal der Tangente an den Vorderrand des aufsteigenden
Unterkieferastes und somit weit ausserhalb der adhärenten Gingiva. Dr. med.
dent. H.________ hält die Zähne 38 und 48 für dem Alter entsprechend normal
stehend und die Chance zum Durchbruch für durchaus gegeben. Dr. med. Dr. med.
dent. L.________ schliesslich bezeichnet die beiden betroffenen Zähne als
achsengerecht leicht retiniert und distal in den aufsteigenden Ast verkeilt,
so dass ein vollständiger Durchbruch nicht erwartet werden könne. Die Frage
der Verlagerung der unteren Weisheitszähne muss indessen nicht abschliessend
beantwortet werden, weil die Pathologie und die notwendigen Massnahmen zu
deren Beseitigung oder Verringerung für das Vorliegen des gemäss Art. 17 lit.
a Ziff. 2 KLV erforderlichen qualifizierten Krankheitswertes nicht
ausreichen. Die Behandlung bestand im Wesentlichen in der Entfernung der
Weisheitszähne sowie in einer Konsultation vor und drei Konsultationen nach
dem Eingriff. Bezüglich Krankheitswert der Zähne 38 und 48 macht der
behandelnde Arzt neben den üblichen Erscheinungen der rezidivierenden
pericoronalen Infekte und der follikulären Zysten eine beginnende
Engstandbildung in der Unterkieferfront geltend. Dr. med. dent. H.________
verneint das Vorliegen eines Krankheitswertes, Dr. med. Dr. med. dent.
L.________ hält die Gefahr eines pathologischen Geschehens im Sinne einer
drohenden Behinderung der Gebissentwicklung oder Resorption der
Nachbarwurzeln für nicht gegeben. Selbst wenn die vom behandelnden Arzt
geltend gemachte Pathologie vorhanden war, konnte sie durch die Entfernung
der Weisheitszähne behoben werden, ohne dass ein Ersatz der entfernten Zähne
oder andere aufwändige Massnahmen notwendig geworden wären. Auch fehlen
jegliche Anhaltspunkte für irgendwelche Schwierigkeiten oder besondere
Komplikationen bei der Entfernung der Weisheitszähne, sodass in Anbetracht
der Rechtsprechung die Voraussetzungen für eine diesbezügliche
Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung nicht erfüllt
sind.

4.5 Soweit Dr. med. Dr. med. dent. C.________ schliesslich geltend macht, der
Krankheitswert der entfernten Weisheitszähne habe in der negativen
Beeinflussung der Interferonbehandlung bei Multipler Sklerose gelegen, stellt
sich die Frage der Leistungspflicht der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung für zahnärztliche Behandlungen, die zur
Unterstützung und Sicherstellung ärztlicher Behandlungen notwendig sind.
Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass - wie in Erwägung 2 erwähnt -
gemäss ständiger Rechtsprechung die Allgemeinerkrankungen, bei denen
zahnärztliche Behandlungen zur Unterstützung und Sicherstellung der
ärztlichen Behandlungen von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu
übernehmen sind, in Art. 19 KLV abschliessend aufgezählt sind und weder die
Multiple Sklerose noch die Interferonbehandlung dort genannt ist. Eine
Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung für die
Behandlung der beiden unteren Weisheitszähne wurde demzufolge auch unter
diesem Gesichtspunkt zu Recht verneint.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
(BAG) zugestellt.

Luzern, 8. Februar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: