Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 47/2003
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K 47/03

Urteil vom 16. Juni 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiberin
Weber Peter

Concordia Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung, Bundesplatz 15,
6003 Luzern, Beschwerdeführerin,

gegen

M.________, 1993, Beschwerdegegner, vertreten durch seine Eltern P.________
und E.________,

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 25. März 2003)

Sachverhalt:

A.
M.________, geboren 1993, ist bei der Concordia Schweizerische Kranken- und
Unfallversicherung (nachfolgend: Concordia) obligatorisch
krankenpflegeversichert. Die Kinderärztin S.________ verordnete ihm am 2.
Juli 2001 aufgrund einer Tonusstörung mit Problemen beim Schreiben und
Basteln eine ambulante Ergotherapiebehandlung im Zentrum X.________. Mit
Schreiben vom 10. Dezember 2001 lehnte die Concordia die Übernahme der
entstandenen Therapiekosten ab, da keine Krankheit im Sinne des KVG vorliege.
Nach Ueberprüfung der medizinischen Unterlagen durch ihren Vertrauensarzt Dr.
med. Y.________, hielt sie mit Verfügung vom 2. Mai 2002 an ihrem Standpunkt
fest und bestätigte diesen mit Einspracheentscheid vom 2. Juli 2002.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 25. März 2003 gut und verpflichtete die
Versicherung, an die Kosten der Ergotherapie die gesetzlichen und
statutarischen Leistungen zu erbringen.

C.
Die Concordia führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren,
unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides seien die Verfügung vom 2.
Mai 2002 und der Einspracheentscheid vom 2. Juli 2002 zu bestätigen.

Die Vorinstanz und M.________, vertreten durch seine Eltern, schliessen auf
Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für
Sozialversicherung, Abteilung Krankenversicherung (seit 1. Januar 2004 im
Bundesamt für Gesundheit) verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der sozialen Krankenversicherung
geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen
führenden Tatbestandes Geltung haben, und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier:
2. Juli 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt, sind die bis zum 31.
Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit
Hinweisen).

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die Concordia die Kosten für die von
S.________ verordnete Ergotherapie zu übernehmen hat.

3.
3.1 Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für
Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen
dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Diese Leistungen umfassen unter anderem die
Behandlungen, die ambulant von Personen durchgeführt werden, welche auf
Anordnung oder im Auftrag eines Arztes oder einer Ärztin Leistungen erbringen
(Art. 25 Abs. 2 lit. a Ziff. 3 KVG). Zu diesen Personen, welche auf ärztliche
Anordnung hin und in selbstständiger Weise sowie auf eigene Rechnung
Leistungen erbringen, gehören unter anderem Ergotherapeuten und
Ergotherapeutinnen (Art. 46 Abs. 1 lit. b KVV). Gemäss Art. 6 Abs. 1 KLV
übernimmt die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten der
Leistungen, die auf ärztliche Anordnung hin von Ergotherapeuten und
Ergotherapeutinnen erbracht werden, soweit sie der versicherten Person bei
somatischen Erkrankungen durch Verbesserung der körperlichen Funktionen zur
Selbstständigkeit in den alltäglichen Lebensverrichtungen verhelfen (lit. a)
oder im Rahmen einer psychiatrischen Behandlung durchgeführt werden (lit. b).
Die KLV umschreibt somit nicht die einzelnen zu vergütenden Leistungen in der
Ergotherapie, sondern beschränkt sich auf die Formulierung des Ziels (vgl.
Hürlimann, in: Krankenversicherung, Ein Ratgeber aus der Beobachter-Praxis,
Zürich 1998, S. 163). Allgemein gilt im Krankenversicherungsrecht, dass es
sich beim Begriff Krankheit um einen Rechtsbegriff handelt, welcher sich
nicht notwendigerweise mit dem medizinischen Krankheitsbegriff deckt (BGE 124
V 121 Erw. 3b mit Hinweisen). Demnach ist es letztlich Aufgabe des
Sozialversicherungsgerichts, über die Leistungspflicht der Krankenversicherer
zu entscheiden.

3.2 Laut der internationalen Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation
wird die "Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen" (F82, ICD-10) bei
den psychischen Störungen eingeordnet (ICD-10, Kapitel V) und umfasst als
Hauptmerkmal eine schwerwiegende Beeinträchtigung der Entwicklung der
motorischen Koordination, die nicht allein durch eine Intelligenzverminderung
oder eine umschriebene angeborene oder erworbene neurologische Störung
erklärbar ist; üblicherweise ist die motorische Ungeschicklichkeit verbunden
mit einem gewissen Grad von Leistungsbeeinträchtigungen bei
visuell-räumlichen Aufgaben (Weltgesundheitsorganisation [WHO],
Internationale Klassifikation psychischer Störungen, ICD-10 Kapitel V [F],
Klinisch-diagnostische Leitlinien, 4. Aufl., Bern/Göttingen/Toronto/Seattle
2000, S. 279 ff.; vgl. auch Warnke, Entwicklungsstörungen, in:
Möller/Laux/Kapfhammer, Psychiatrie und Psychotherapie, Berlin/Heidelberg/New
York 2000, S. 1603 ff.).
3.3 In seiner neuesten Rechtsprechung hat sich das Eidgenössische
Versicherungsgericht mit der Frage der Kostenübernahme der Ergotherapie bei
einer Entwicklungsstörung der motorischen Funktionen (F82, ICD-10)
auseinandergesetzt (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichte
Urteile W. vom 29. März 2004 [K 35 und 36/02] und H. vom 7. Mai 2004 [K
103/02]). Dabei hat es festgehalten, dass diese motorischen Störungen bei
Kindern häufig sind und leichten Entwicklungsstörungen in der Regel mit
pädagogischen Massnahmen begegnet wird, welche - im Gegensatz zu
medizinischen Massnahmen - nicht unter die Leistungspflicht der
Krankenversicherer fallen. Die Behandlung einer motorischen Störung kann auch
im Rahmen einer Ergotherapie erfolgen. Bei einer Ergotherapie werden im
Allgemeinen alltägliche Lebensverrichtungen wie Essen, Waschen, Ankleiden,
Schreiben oder der Umgang mit anderen Menschen geübt; daraus ergibt sich,
dass sich Ergotherapie im Rahmen der Krankenversicherung vor allem auf die
Rehabilitation nach einer schweren Krankheit oder einem schweren Unfall
bezieht und die weitestmögliche Selbstständigkeit im täglichen Leben sowie im
Beruf bezweckt. Demnach ist eine ergotherapeutische Behandlung einer leichten
Entwicklungsstörung, welche vornehmlich mit pädagogischen Mitteln arbeitet,
atypisch und eine restriktive Unterstellung unter Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV
folgerichtig. Ist hingegen eine schwerwiegende Störung gegeben, welche
somatische Auswirkungen hat, die das betroffene Kind in seinem Alltagsleben
erheblich beeinträchtigen, ist eine somatische Erkrankung im Sinne von Art. 6
Abs. 1 lit. a KLV und somit die Kostenpflicht der Krankenversicherer zu
bejahen.

4.
Zu prüfen gilt es vorliegend, ob eine somatische Erkrankung des Versicherten
im Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV besteht.

5.
Die medizinische Aktenlage präsentiert sich wie folgt:
5.1 In der Verordnung vom 2. Juli 2001 gab S.________ als Diagnose "Tonus beim
Schreiben. Probleme beim Schreiben und Basteln" an. Zur nachträglichen
Anfrage der Versicherung, welche somatische Krankheit vorliege, hielt sie mit
Schreiben vom 12. November 2001 fest, eine Tonusregulationsstörung mit
erschwertem Schreiben und erwähnte die Klassifikation F 82, ICD-10. In einem
ergänzenden Schreiben vom 14. Januar 2002 sprach sie als Grund für die
Ergotherapieanordnung von "zu hohem Druck und Verkrampftheit beim Schreiben"
und vermerkte eine generelle Ablehnung aller Kinderergotherapien mit F82,
ICD-10 durch die Beschwerdeführerin.

Im Scoreblatt vom 7. Februar 2002 wurden von der behandelnden Kinderärztin
deutliche Abweichungen gegenüber dem üblichen Niveau bei der Visuomotorik
(Score 2 Punkte) angegeben. Zudem wurden neben gewissen neurologischen
Auffälligkeiten (Score je 1 Punkt) weniger erhebliche Störungen der
Selbständigkeit beim Umgang mit Alltags- und Haushaltgegenständen sowie der
Feinmotorik und Handlungsfähigkeit (insbesondere der Finger- und
Handgelenksbewegungen, des Körperschemas und der
Geschicklichkeit/Zielsicherheit) und psychosomatische Störungen (Score je 1
Punkt) erwähnt.

5.2 Dr. med. Y.________, Vertrauensarzt der Concordia, hielt demgegenüber in
seinen Schreiben vom 8. Februar 2002 und 28. Juni 2002 dafür, den Störungen
des Kindes komme kein Krankheitswert zu, da bei der gezeigten Symptomatik von
keiner schwerwiegenden Entwicklungsbeeinträchtigung der motorischen
Koordination gesprochen werden könne.

6.
6.1 Die Vorinstanz vertritt die Auffassung, die Verordnung von Ergotherapie
sei auf Grund einer somatischen Erkrankung des versicherten Kindes indiziert.
Aber auch das Scoreblatt lasse darauf schliessen, dass von schwerwiegenden
Beeinträchtigungen der Entwicklung des Kindes gesprochen werden müsse.

6.2 Dieser Einschätzung kann nicht gefolgt werden. Einmal liegt entgegen der
Annahme der Vorinstanz keine Diagnose für eine somatische Krankheit vor. In
ihrer Erstdiagnose sprach S.________ einzig vom "Tonus beim Schreiben", ohne
indessen Ausführungen dazu zu machen, weshalb die Anspannung der Finger zu
gross wäre und auf welche körperliche Krankheit dies zurückzuführen sei. Auch
in den weiteren Angaben der Ärztin war nur von erschwertem Schreiben und
tonusregulatorischen Störungen sowie von Verkrampftheit beim Schreiben die
Rede. Bei den erwähnten Leiden kann in Uebereinstimmung mit dem
Vertrauensarzt nicht von einer somatischen Erkrankung gesprochen werden.
Nicht jede Leistungsbeeinträchtigung hat zwingend eine somatische Ursache.

6.3 Soweit überdies die Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin auf die
Diagnose F82, ICD-10 gestützt werden soll, fehlt es an einer schwerwiegenden
Beeinträchtigung der Entwicklung der motorischen Koordination im Sinne der
fachärztlichen Definition (vgl. Erw. 3.2 hievor). Einer Verkrampfung beim
Schreiben allein kann kein Krankheitswert beigemessen werden, solange nicht
andere, weitergehende Symptome dazukommen. Dass anderweitige Behandlungs- und
Fördermassnahmen angezeigt sein mögen, ist bei der Beurteilung der
Leistungspflicht nicht massgebend. Entgegen der Vorinstanz kann anhand der
Akten nicht geschlossen werden, die behandelnde Ärztin habe die beim
Beschwerdegegner vorliegenden Probleme beim Schreiben im konkreten Fall
eindeutig auf den erhöhten Muskeltonus im Hals- Nackenbereich sowie der
oberen Extremitäten zurückgeführt. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht
vorbringt, wurde von der Ärztin nicht unter B1 des Scoreblattes (u.a. Störung
des Muskeltonus) eine 2 eingefügt, sondern unter D3 (Störungen der
Feinmotorik und der Handlungsfähigkeit) insbesondere im Bereich der
Visuomotorik. Überdies gilt festzustellen, dass es sich beim Scoreblatt um
ein im Rahmen einer interdisziplinären Konsenskonferenz von Ärzten und
Versicherern ausgearbeitetes Erfassungsblatt zur Beurteilung der
Behandlungsbedürftigkeit handelt, welches bei den einzelnen
Beurteilungskriterien einen erheblichen Ermessenspielraum der medizinischen
Fachperson zulässt und somit gemäss der neuesten Rechtsprechung des
Eidgenössische Versicherungsgerichts lediglich ein Hilfsmittel zur
Beantwortung der Frage der Leistungspflicht darstellt (noch nicht in der
Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil W. vom 29. März 2004 [K 35 und
36/02]). Insbesondere bildet die daraus resultierende Punktezahl nur ein
Indiz für einen bestimmten Grad der Beeinträchtigung. Die konkrete Wertung
der Entwicklungsstörung bzw. die Frage, wo diese im Rahmen der ganzen
Bandbreite anzusiedeln ist und wie sich diese somatisch äussert, ist näher zu
begründen (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichtes Urteil H.
vom 7. Mai 2004 [K 103/02]). Ferner ist mit der Beschwerdeführerin den
eigenen Ausführungen der verordnenden Kinderärztin im vorliegenden Fall eine
grössere Bedeutung als dem erst später ausgefüllten Scoreblatt beizumessen.

6.4 Selbst wenn schliesslich eine somatische Erkrankung diagnostiziert worden
wäre, ist aufgrund der Aktenlage nicht davon auszugehen, dass die aufgezeigte
Störung Auswirkungen hat, die den Versicherten in seinen alltäglichen
Lebensverrichtungen erheblich beeinträchtigen und mithin eine Erkrankung im
Sinne von Art. 6 Abs. 1 lit. a KLV vorliegt, welche eine Leistungspflicht der
Beschwerdeführerin zu begründen vermöchte.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird das Urteil des
Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 25. März 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 16. Juni 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin:
i.V.