Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 39/2003
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K 39/03

Urteil vom 29. Dezember 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Flückiger

Krankenkasse Turbenthal, Tösstalstrasse 147, 8488 Turbenthal,
Beschwerdeführerin,

gegen

1. A.________,

2. B.________,

3. C.________,
Beschwerdegegner,
die beiden Letzteren vertreten durch A.________, St. Gallerstrasse 6, 8488
Turbenthal

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 25. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit einem vom 29. Oktober 2002 datierten Schreiben ersuchte A.________ die
Krankenkasse Turbenthal für sich, seine Ehefrau B.________ und den Sohn
C.________ um Aufnahme in die obligatorische Krankenpflegeversicherung. In
der Folge teilte ihm der Leiter der Kasse telefonisch mit, die Aufnahme könne
bis Ende 2002 nicht mehr vollzogen werden. A.________ verlangte daraufhin den
Erlass einer entsprechenden Verfügung. Am 5. Dezember 2002 wiederholte er
diese Aufforderung schriftlich, verbunden mit der Setzung einer Frist bis 13.
Dezember 2002.

B.
Nachdem das Schreiben vom 5. Dezember 2002 unbeantwortet geblieben war, erhob
A.________ am 17. Dezember 2002 beim Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich "Klage und Beschwerde" mit dem sinngemässen Antrag, die Krankenkasse
Turbenthal sei zu verpflichten, ihn und seine Familie in die obligatorische
Krankenpflegeversicherung aufzunehmen. Das Sozialversicherungsgericht des
Kantons Zürich hiess die Beschwerde gut und verpflichtete die Kasse zur
Aufnahme der Familie A.________ (Entscheid vom 25. Februar 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Krankenkasse Turbenthal die
Aufhebung des kantonalen Entscheids.

A. ________ schliesst sinngemäss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung
verzichtet auf eine Vernehmlassung. In weiteren Eingaben vom 7., 17. Juli, 8.
August, 30. September und 22. November 2003 halten die Parteien an ihrem
jeweiligen Standpunkt fest.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Krankenversicherungsbereich geändert
worden. Während in materieller Hinsicht nach einem allgemeinen
übergangsrechtlichen Grundsatz diejenigen Rechtsnormen massgebend sind,
welche gültig waren, als sich der zu den materiellen Rechtsfolgen führende
Sachverhalt verwirklicht hat (vgl. dazu BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen),
sind die verfahrensrechtlichen Neuerungen mangels gegenteiliger
Übergangsbestimmungen mit dem Tag ihres In-Kraft-Tretens sofort und in vollem
Umfang anwendbar (BGE 129 V 115 Erw. 2.2 mit Hinweisen). Vorliegend sind
daher die im ATSG enthaltenen und die gestützt darauf per 1. Januar 2003
geänderten spezialgesetzlichen Verfahrensbestimmungen mit Bezug auf das
gerichtliche Rechtsmittelverfahren zu berücksichtigen.

2.
2.1 Laut Art. 86 KVG in der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung kann gegen
Einspracheentscheide eines Versicherers innert 30 Tagen nach der Eröffnung
beim vom Kanton bezeichneten Versicherungsgericht Beschwerde erhoben werden
(Abs. 1). Beschwerde kann auch erhoben werden, wenn der Versicherer entgegen
dem Begehren der betroffenen Person keine Verfügung oder keinen
Einspracheentscheid erlässt (Abs. 2). Das kantonale
Sozialversicherungsgericht war nach dieser Regelung zur Beurteilung von
Rechtsverweigerungs- und Rechtsverzögerungsbeschwerden im Bereich der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung zuständig. Die Vorinstanz ist
zutreffend davon ausgegangen, dass sich an dieser Kompetenzordnung durch das
In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar 2003 nichts geändert hat (Art. 56 Abs.
2 und Art. 57 ATSG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 KVG in der seit 1. Januar
2003 geltenden Fassung; Meyer-Blaser, Die Rechtspflegebestimmungen des
Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts
[ATSG], in: Haftung und Versicherung [HAVE] 5/2002 S. 328 f.; Kieser,
ATSG-Kommentar, Zürich 2003, Art. 56 Rz. 11).

2.2 Zur Rechtslage vor In-Kraft-Treten des ATSG hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht erkannt, das mit der Rechtsverzögerungs- oder
-verweigerungsbeschwerde (gemäss aArt. 86 Abs. 2 KVG) verfolgte rechtlich
geschützte Interesse bestehe darin, einen an eine gerichtliche
Beschwerdeinstanz weiterziehbaren Entscheid zu erhalten. Streitgegenstand des
Beschwerdeverfahrens sei allein die Prüfung der beanstandeten
Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung. Nicht zum Streitgegenstand
gehörten dagegen die durch die Verfügung zu regelnden materiellen Rechte und
Pflichten (RKUV 2000 Nr. KV 131 S. 246 Erw. 2c mit Hinweisen). Diese
Rechtsprechung bleibt unter der Geltung des ATSG, welches in Art. 56 Abs. 2
eine allgemeine Regelung des Beschwerderechtes bei Sachverhalten von
Rechtsverzögerung oder -verweigerung enthält, weiterhin anwendbar (Urteil K.
vom 23. Oktober 2003, I 328/03, Erw. 4).

2.3 Nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts kann
das verwaltungsgerichtliche Verfahren aus prozessökonomischen Gründen auf
eine ausserhalb des Anfechtungsgegenstandes, d.h. ausserhalb des durch die
Verfügung bestimmten Rechtsverhältnisses liegende spruchreife Frage
ausgedehnt werden, wenn diese mit dem bisherigen Streitgegenstand derart eng
zusammenhängt, dass von einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen werden kann,
und wenn sich die Verwaltung zu dieser Streitfrage mindestens in Form einer
Prozesserklärung geäussert hat (BGE 122 V 36 Erw. 2a mit Hinweisen).

3.
3.1 Als die vorinstanzliche Beschwerde vom 17. Dezember 2002 erhoben wurde,
hatte der Versicherer nicht verfügungsweise über die beantragte Aufnahme in
die obligatorische Krankenpflegeversicherung entschieden. Das beim kantonalen
Gericht eingereichte Rechtsmittel ist daher als Rechtsverweigerungs- oder
Rechtsverzögerungsbeschwerde gemäss aArt. 86 Abs. 2 KVG bzw. Art. 56 Abs. 2
ATSG zu qualifizieren. Streitgegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens war
somit, ob der Versicherer eine Verfügung über die Aufnahme der Bewerber hätte
erlassen müssen (vgl. Erw. 2.2 hievor). Das kantonale Gericht hat sich jedoch
nicht auf die Behandlung dieser Frage beschränkt, sondern über diesen
Streitgegenstand hinaus auch geprüft, ob der Versicherer verpflichtet ist,
die Bewerber aufzunehmen. Dieses Vorgehen ist zulässig, falls die
Voraussetzungen einer entsprechenden Ausdehnung des Verfahrens (Erw. 2.3
hievor) erfüllt sind.

3.2 Der für eine Ausdehnung des Beschwerdeverfahrens über den
Anfechtungsgegenstand hinaus erforderliche enge Sachzusammenhang ist nicht
gegeben, wenn zusätzlich zur Frage der Rechtsverzögerung ein Anspruch auf
Versicherungsleistungen beurteilt werden soll (RKUV 2000 Nr. KV 131 S. 246
Erw. 2c; Urteile P. vom 5. Juli 2002 [K 39/02] und V. vom 27. Dezember 2001
[U 142/01]); denn die Weigerung, eine Verfügung zu erlassen, steht nicht in
dermassen engem Zusammenhang zur Gegenstand der Verfügung bildenden
Versicherungsleistung, dass von einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen werden
könnte, wie es die Rechtsprechung (BGE 122 V 36 Erw. 2a mit Hinweisen)
voraussetzt. Demgegenüber ist die Ausdehnung eines Verfahrens, welches die
Zugehörigkeit zu einer Kasse zum Gegenstand hat, auf die damit verbundene
Prämienzahlungspflicht zulässig (BGE 125 V 268 Erw. 1 mit Hinweisen).

3.3 Der Sachverhalt, welcher dem kantonalen Beschwerdeverfahren zu Grunde
lag, nahm seinen Anfang mit dem Gesuch um Aufnahme in die obligatorische
Krankenpflegeversicherung und der telefonischen Weigerung der Kasse, diese
vorzunehmen. Der anlässlich desselben Telefongesprächs erstmals geäusserten
und später schriftlich, unter Fristansetzung, wiederholten Aufforderung, eine
diesbezügliche Verfügung zu erlassen, kam der Versicherer nicht nach. Dieses
Vorgehen diente erklärtermassen dem Zweck, eine Aufnahme der Bewerber zu
vermeiden. Die Kasse begründete ihr Verhalten denn auch damit, sie sei
bestrebt, den Mitgliederbestand klein zu halten und deshalb nicht gewillt,
dem Aufnahmegesuch zu entsprechen. Hätte das kantonale Gericht die
Beschwerdeführerin lediglich verhalten, eine Verfügung zu erlassen, wäre
einzig deren bereits zum Ausdruck gebrachter Rechtsstandpunkt in
Entscheidform wiederholt worden. Wesentliche zusätzliche Elemente hätte die
Verfügung nicht enthalten können. Die den Streitgegenstand der
Rechtsverzögerungsbeschwerde bestimmende Weigerung des Versicherers, eine
Verfügung zu erlassen, hängt unter diesen konkreten Umständen derart eng
zusammen mit der Weigerung, die Bewerber aufzunehmen, dass die für eine
Ausdehnung des Beschwerdeverfahrens vorausgesetzte Tatbestandsgesamtheit (BGE
122 V 36 Erw. 2a mit Hinweisen) gegeben ist. Da ausserdem mehrere
Stellungnahmen des Versicherers zur Aufnahmepflicht vorlagen, war es
zulässig, dass die Vorinstanz über die Frage nach einer Rechtsverweigerung
oder Rechtsverzögerung hinaus geprüft hat, ob eine rechtliche Verpflichtung
des Versicherers zur Aufnahme  besteht.

4.
4.1 Von hier nicht gegebenen Ausnahmen abgesehen, muss sich laut Art. 3 Abs. 1
KVG jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz für Krankenpflege versichern. Sie
kann unter den Versicherern gemäss Art. 11 KVG frei wählen (Art. 4 Abs. 1
KVG). Die Versicherer müssen in ihrem örtlichen Tätigkeitsbereich jede
versicherungspflichtige Person aufnehmen (Art. 4 Abs. 2 KVG).
Bei der Mitteilung der neuen Prämie kann die versicherte Person den
Versicherer unter Einhaltung einer einmonatigen Kündigungsfrist auf das Ende
des Monats wechseln, welcher der Gültigkeit der neuen Prämie vorangeht (Art.
7 Abs. 2 Satz 1 KVG). Das Versicherungsverhältnis endet beim bisherigen
Versicherer erst, wenn ihm der neue Versicherer mitgeteilt hat, dass die
betreffende Person bei ihm ohne Unterbrechung des Versicherungsschutzes
versichert ist. Unterlässt der neue Versicherer diese Mitteilung, so hat er
der versicherten Person den daraus entstandenen Schaden zu ersetzen,
insbesondere die Prämiendifferenz. Sobald der bisherige Versicherer die
Mitteilung erhalten hat, informiert er die betroffene Person, ab welchem
Zeitpunkt sie nicht mehr bei ihm versichert ist (Art. 7 Abs. 5 KVG).

4.2 Da die Beschwerdegegner laut Art. 3 Abs. 1 KVG versicherungspflichtig und
im örtlichen Tätigkeitsgebiet der Beschwerdeführerin wohnhaft sind, ist diese
gemäss Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 KVG grundsätzlich verpflichtet, sie
aufzunehmen. Umstritten ist, ob die Beschwerdeführerin berechtigt ist, die
Aufnahme zu verweigern, weil die Beschwerdegegner bestimmte Forderungen der
Kasse nicht erfüllt haben.

4.3 Wie das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat, hängt das Recht einer
versicherten Person, einem gemäss Art. 4 KVG zur Aufnahme verpflichteten
Versicherer beizutreten, nicht davon ab, ob beim bisherigen Versicherer
Prämien oder Kostenbeteiligungen ausstehend sind (Art. 9 Abs. 3 KVV, der eine
Entlassung aus dem bisherigen Versicherungsverhältnis erst zuliess, wenn
ausstehende Prämien oder Kostenbeteiligungen vollständig bezahlt waren, war
gesetzeswidrig [BGE 125 V 266] und wurde per Ende 2002 formell ausser Kraft
gesetzt [AS 2002 3908]). Es ist deshalb unzulässig, die Aufnahme von
diesbezüglichen Informationen abhängig zu machen. Zuzustimmen ist auch der
vorinstanzlichen Feststellung, die Beschwerdegegner seien nicht verpflichtet
gewesen, der Kasse die Policen des bisherigen Versicherers einzureichen oder
Angaben über von diesem bezogene Leistungen zu liefern. Ebenso wenig ist der
Versicherer berechtigt, zu verlangen, dass eine beitrittswillige Person bei
ihm persönlich vorspricht.

4.4 Die Beschwerdeführerin macht des Weiteren geltend, die Beschwerdegegner
hätten sich geweigert, ihr den bisherigen Versicherer bekannt zu geben. Es
sei ihr deshalb nicht möglich gewesen, die in Art. 7 Abs. 5 Satz 1 KVG
vorgesehene Mitteilung  vorzunehmen. Letztere stellt jedoch, wie das
kantonale Gericht ebenfalls zutreffend erkannt hat, keine Voraussetzung der
Aufnahmeverpflichtung gemäss Art. 4 Abs. 2 KVG dar. Allerdings hat das
Unterbleiben der Mitteilung des neuen an den bisherigen Versicherer zur
Folge, dass das Versicherungsverhältnis bei diesem andauert (Art. 7 Abs. 5
Satz 1 KVG; BGE 127 V 42). Es ist jedoch nicht eine Frage des grundsätzlichen
Entscheides über die Aufnahmepflicht nach Art. 4 Abs. 2 KVG, sondern eine
solche der allfälligen Schadenersatzpflicht des neuen Versicherers gemäss
Art. 7 Abs. 5 Satz 2 KVG, ob eine beitrittswillige Person den bisherigen
Versicherer zu nennen hat oder ob sie verlangen kann, dass ihr der neue
Versicherer eine Bestätigung ohne Nennung des Adressaten ausstellt. Die
Angabe des bisherigen Versicherers stellt demnach allenfalls - wobei diese
Frage  vorliegend nicht zu prüfen ist - eine Obliegenheit der
beitrittswilligen Person dar, deren Nichtbeachtung die Geltendmachung von
Schadenersatz nach Art. 7 Abs. 5 Satz 2 KVG ausschliessen könnte. Die
Aufnahmepflicht nach Art. 4 Abs. 2 KVG wird jedoch dadurch nicht tangiert.
Das kantonale Gericht hat deshalb die Beschwerdeführerin zu Recht
verpflichtet, die Beschwerdegegner in die obligatorische
Krankenpflegeversicherung aufzunehmen.

5.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Umkehrschluss aus Art. 134 OG).  Die
Gerichtskosten sind der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art.
156 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 29. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: