Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 38/2003
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K 38/03

Urteil vom 9. März 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Hofer

F.________, 1983, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Conradin
Bluntschli, Schanzenstrasse 1, 3008 Bern,

gegen

Intras Krankenkasse, Geschäftsstelle Bern-City, Bubenbergplatz 10, 3011 Bern,
Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 3. Februar 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 8. Oktober 2001 verneinte die Intras Krankenkasse das
Leistungsbegehren der 1983 geborenen F.________ für eine Zahnbehandlung.
Dagegen erhob die Versicherte am 5. November 2001 Einsprache. Mit
Einspracheentscheid vom 28. Februar 2002 wies die Kasse die Einsprache ab, da
die zahnärztliche Behandlung nicht zu den Pflichtleistungen gehöre. Diesen
Entscheid stellte sie eingeschrieben an die Adresse "X.________" zu. Am 22.
April 2002 unterbreitete F.________ der Krankenkasse unter Bezugnahme auf das
"Schreiben vom 28.2.02" einige Fragen. Nachdem die Krankenkasse diese am 26.
April 2002 beantwortet hatte, stellte sie F.________ am 17. September 2002
nochmals einen Einspracheentscheid zu und zwar an die Adresse "Y.________".

B.
Auf die von der Versicherten am 10. Oktober 2002 der Post übergebene
Beschwerde vom 23. September 2002 trat das Verwaltungsgericht des Kantons
Bern mit Entscheid vom 3. Februar 2003 zufolge Verspätung nicht ein.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt F.________ beantragen, es sei der
kantonale Gerichtsentscheid aufzuheben und die Sache zur materiellen
Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Die Intras Krankenkasse schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherung,
Abteilung Krankenversicherung (seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für
Gesundheit), verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Krankenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheids (hier:
28. Februar 2002 oder 17. September 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt
(BGE 121 V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember
2002 geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde richtet sich gegen einen vorinstanzlichen
Nichteintretensentscheid. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat daher
nur zu prüfen, ob das kantonale Gericht zu Recht auf die bei ihm erhobene
Beschwerde nicht eingetreten ist (BGE 123 V 335). Da nicht die Bewilligung
oder Verweigerung von Versicherungsleistungen streitig ist, hat sich die
Prüfung darauf zu beschränken, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat,
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der
rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder
unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist
(Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

3.
3.1 Gemäss Art. 85 Abs. 1 KVG kann gegen Verfügungen innerhalb von 30 Tagen
nach der Eröffnung beim Versicherer Einsprache eingereicht werden. Gegen
Einspracheentscheide kann nach Art. 86 Abs. 1 KVG
Verwaltungsgerichtsbeschwerde erhoben werden. Die Beschwerde ist innert 30
Tagen nach der Eröffnung des Einspracheentscheides bei dem vom Kanton
bezeichneten Versicherungsgericht einzureichen, das für die Entscheidung von
Streitigkeiten der Versicherer unter sich oder mit Versicherten oder mit
Dritten zuständig ist.

3.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, den falsch adressierten
Einspracheentscheid vom 28. Februar 2002 habe sie nicht erhalten und daher
auch nicht anfechten können. Auf Intervention ihres Vaters hin sei alsdann im
April 2002 eine Orientierungskopie dieses Entscheids entweder an ihre
Wohnadresse an der "Y.________" oder an die Praxisadresse ihres Vaters
zugestellt worden. Damit macht sie geltend, der Einspracheentscheid vom 28.
Februar 2002 zeitige keine Wirkung, da er ihr zu keinem Zeitpunkt
rechtsgültig eröffnet worden sei.

3.3 Die Eröffnung eines Verwaltungsaktes ist Voraussetzung für dessen
Rechtswirksamkeit. Schwere Eröffnungsfehler führen dazu, dass eine Verfügung
keine Rechtswirkung entfalten kann. Dies ist beispielsweise dann der Fall,
wenn der Verwaltungsakt keiner der betroffenen Parteien eröffnet (vgl. BGE
122 I 97 ff.) oder die Verfügung einem falschen Adressaten zugestellt worden
ist (vgl. BGE 110 V 151 Erw. 2d). Ein solcher Mangel kann nur durch eine
nachträgliche Eröffnung geheilt werden.

Aus dem Verfassungsprinzip der Fairness wird abgeleitet, dass aus
mangelhafter Eröffnung niemandem ein Rechtsnachteil erwachsen darf (vgl. BGE
122 I 99 Erw. 3a/aa). Zu diesem Anspruch zählen unter anderem unrichtige
Rechtsmittelbelehrungen (vgl. BGE 123 II 238 Erw. 8b) und Zustellungsfehler
(vgl. BGE 119 V 94 ff.). Solche Fehler können dazu führen, dass die
Betroffenen einen Verwaltungsakt auch noch nachträglich anfechten können. Wer
durch den gerügten Mangel nicht irregeführt und dadurch benachteiligt worden
ist, kann sich indessen nicht darauf berufen (Thomas Merkli/Arthur
Aeschlimann/Ruth Herzog, Kommentar zum Gesetz über die
Verwaltungsrechtspflege im Kanton Bern, Bern 1997, N 25 zu Art. 44 VRPG). Die
Zulässigkeit der Berufung auf eine mangelhafte behördliche Eröffnung wird
ganz allgemein durch den Grundsatz von Treu und Glauben beschränkt, der für
den Bürger wie für die Verwaltungsorgane gilt. Dieser setzt der Berufung auf
Eröffnungsfehler Grenzen (vgl. BGE 122 I 99 Erw. 3a/aa, 111 V 150 Erw. 4c;
ARV 2002 S. 68 Erw. 3a; SZS 2002 S. 509). Hat die betroffene Person von einer
sie berührenden Verfügung Kenntnis erhalten, welche ihr nicht persönlich
eröffnet wurde, so hat sie aus Gründen des Vertrauensschutzes und der
Rechtssicherheit so schnell wie möglich alles Zumutbare zu unternehmen, um
den Inhalt der Verfügung zu erfahren (vgl. BGE 119 Ib 71 Erw. 3b, 112 Ib 422
Erw. 2d, 107 Ia 76 Erw. 4a). Welches Verhalten seitens der betroffenen
Personen erwartet werden kann und muss, hängt von den Umständen des
Einzelfalles ab (Thomas Merkli/Arthur Aeschlimann/Ruth Herzog, a.a.O., N 27
zu Art. 44 VRPG).

3.4 Unzutreffenderweise beruft sich die Beschwerdeführerin auf den Grundsatz,
dass ein Entscheid nicht dann als eröffnet zu gelten hat, wenn der Adressat
effektiv davon Kenntnis hat, sondern im Zeitpunkt seiner rechtsgültigen
Zustellung (vgl. BGE 115 Ia 17 Erw. 3b). Diesem Grundsatz kommt der Sinn zu,
dass eine Eröffnung schon dann als erfolgt zu gelten hat, wenn der
zugestellte Entscheid in den Machtbereich des Adressaten gelangt, unbekümmert
um den späteren Zeitpunkt, in dem er persönlich davon Kenntnis nimmt.
Der Einspracheentscheid vom 28. Februar 2002 wurde an die Wohnadresse der
Mutter der Beschwerdeführerin zugestellt, welche diesen offenbar nicht
weitergeleitet hat. Es erübrigt sich indessen, diesem Umstand weiter
nachzugehen, war die Versicherte doch unbestrittenermassen spätestens im
April 2002 im Besitze einer Kopie des Einspracheentscheids vom 28. Februar
2002. Im Schreiben an die Krankenkasse vom 22. April 2002 bestätigte sie, den
eingeschriebenen Brief vom 28. Februar 2002 als Kopie, jedoch nicht als
Original erhalten zu haben. Dass sie vom Einspracheentscheid Kenntnis
genommen hat, ergibt sich aus den in diesem Schreiben gestellten Fragen,
welche auf den Verwaltungsakt vom 28. Februar 2002 Bezug nehmen. Spätestens
am 22. April 2002 wurde die in der Rechtsmittelbelehrung des
Einspracheentscheids enthaltene 30tägige Frist ausgelöst, um mit Beschwerde
an das kantonale Gericht zu gelangen. Diese Anfechtungsmöglichkeit hat die
Versicherte nicht genutzt und den Entscheid in Rechtskraft erwachsen lassen.
Insbesondere kann das Schreiben vom 22. April 2002, mit welchem die
Krankenkasse um die Beantwortung einiger Fragen zur im Zusammenhang mit der
Verweigerung der Kostenübernahme verwendeten Terminologie gebeten wird, nicht
als Beschwerde betrachtet werden, was denn auch von keiner Seite geltend
gemacht wird. Vielmehr stellt sich die Versicherte auf den Standpunkt, die
ursprünglich rechtsungültige Eröffnung hätte nur dann geheilt werden können,
wenn ihr ein Original des Einspracheentscheids zugegangen wäre. Massgeblich
ist indessen nur, dass der Entscheid in den Machtbereich des Adressaten
gelangt, dieser vom Inhalt Kenntnis nehmen und innert angemessener Frist die
verfügbaren Rechtsmittel ergreifen kann, nachdem er über sie zutreffend
belehrt worden ist. Diese Voraussetzungen waren spätestens am 22. April 2002
erfüllt.

4.
4.1 Die Beschwerdeführerin beruft sich des Weitern darauf, dass ihr am 17.
September 2002 an die richtige Adresse mit eingeschriebener Sendung ein
Einspracheentscheid eröffnet worden sei. Mit diesem sei die Krankenkasse
vorbehaltlos auf ihre Einsprache vom 5. November 2001 eingetreten. Nach Treu
und Glauben habe die Versicherte von der förmlichen Eröffnung eines
anfechtbaren Einspracheentscheids ausgehen dürfen, zumal die Kasse nicht
darauf hingewiesen habe, dass bereits ein entsprechender Entscheid in
Rechtskraft erwachsen sei.

4.2 Im in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erwähnten BGE 115 Ia 12 ff. hat
das Bundesgericht ausgeführt, dass sich die Rechtsmittelfrist gestützt auf
den verfassungsmässigen Anspruch auf Vertrauensschutz dann verlängern kann,
wenn noch vor ihrem Ende eine entsprechende vertrauensbegründende Auskunft
erteilt wird. Eine solche Auskunft kann darin bestehen, dass der mit
Rechtsmittelbelehrung versehene Entscheid der betroffenen Person noch vor
Ablauf der Beschwerdefrist erneut zugestellt wird. Diese Rechtsprechung ist
durch BGE 117 II 511 Erw. 2 und BGE 118 V 190 Erw. 3a insoweit präzisiert und
klargestellt worden, dass eine nach Ablauf der ordentlichen Rechtsmittelfrist
erfolgte zweite Zustellung eines mit Rechtsmittelbelehrung versehenen
Entscheids auch unter dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes keine neue
Rechtsmittelfrist in Gang zu setzen vermag.

4.3 Die Krankenkasse hat der Versicherten den Einspracheentscheid zwar ein
zweites Mal zugestellt. Dass sie ihn dabei neu mit dem 17. September 2002
datiert hat, ändert nichts daran, dass es sich um einen mit dem vom 28.
Februar 2002 datierten identischen Einspracheentscheid handelt. Die Kasse
hielt denn auch einleitend fest, dass sie ihren Einspracheentscheid
entgegenkommenderweise nochmals zustelle. Es folgt alsdann die ursprüngliche,
auf die Einsprache vom 5. November 2001 Bezug nehmende Begründung. Dieser
nach Ablauf der ordentlichen Rechtsmittelfrist in der gleichen Sache
zugestellte Entscheid konnte somit keine neue Rechtsmittelfrist in Gang
setzen. Zu Recht wird auch nicht geltend gemacht, es handle sich um die
wiedererwägungsweise Prüfung eines bereits ergangenen Einspracheentscheids.
Dass der Vorinstanz der am 17. September 2002 zugestellte Entscheid nicht
vorlag, vermag nach dem Gesagten am Ergebnis nichts zu ändern, weshalb die
Beschwerdeführerin aus diesem Umstand nichts zu ihren Gunsten abzuleiten
vermag.

5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig
(Art. 134 e contrario in Verbindung mit Art. 156 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und
mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit
(BAG) zugestellt.

Luzern, 9. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: