Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 28/2003
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K 28/03

Urteil vom 24. Juni 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Helfenstein Franke

1. N.________,
2. ÖKK Graubünden, Schulstrasse 1, 7302 Landquart,

Beschwerdeführerinnen, beide vertreten durch Advokat René Brigger,
Falknerstrasse 3, 4001 Basel,

gegen

Departement des Innern des Kantons Solothurn, vertreten durch das Amt für
Gemeinden und soziale Sicherheit, Ambassadorenhof, 4509 Solothurn,
Beschwerdegegner

Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 21. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
Die Schweizerin N.________ ist in Deutschland wohnhaft und als Grenzgängerin
in der Schweiz tätig. Am 20. August 2002 schloss sie mit der ÖKK einen
Versicherungsvertrag nach VVG betreffend Deckung im Krankheitsfall ("ÖKK
Mondial") ab. Am 21. Oktober 2002 stellte sie ein Gesuch um Befreiung von der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung für sich und ihren Sohn. Das
Departement des Innern des Kantons Solothurn, vertreten durch das Amt für
Gemeinden und Soziale Sicherheit (nachfolgend: Departement des Innern),
verfügte am 16. Dezember 2002, das Gesuch werde abgewiesen, da ein
Befreiungsgrund nicht gegeben sei; die Versicherte habe entweder einen
Krankenversicherungsschutz nach dem Recht des Wohnsitzstaates nachzuweisen
oder eine obligatorische Krankenpflegeversicherung in der Schweiz
abzuschliessen und die Einwohnergemeinde Dornach habe die Einhaltung dieser
Pflicht sicherzustellen.

B.
Hiegegen erhob N.________ am 27. Dezember 2002 Beschwerde und beantragte die
Gutheissung ihres Befreiungsgesuches, da sie mit der gewählten Versicherung
ÖKK-Mondial, wie in Art. 2 Abs. 6 KVG gefordert, nachweise, dass sie im
Wohnstaat und während eines Aufenthaltes in einem anderen Mitgliedstaat der
Europäischen Union und in der Schweiz für den Krankheitsfall gedeckt sei. Das
Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn wies die Beschwerde mit Entscheid
vom 21. Januar 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt N.________ folgende Rechtsbegehren
stellen:
"I. Materielle Anträge

1.Es sei das angefochtene Urteil aus formellen Gründen an das
Versicherungsgericht eventuell an die Vorinstanz zurückzuweisen.

2. Eventualiter sei das angefochtene vorinstanzliche Urteil aufzuheben und
die Befreiung nach Art. 2 Abs. 6 KVV zu gewähren.

3. Es seien keine Gerichtskosten zu erheben und die Beschwerdeführerinnen
seien für die Vertretungskosten durch den Beschwerdegegner zu entschädigen.
II. Formelle Anträge

4.Es sei das Verfahren zumindest vorerst auf die formellen Fragen (gemäss
Antrag Ziff. 1 vorstehend) zu beschränken.

5. Es sei eine öffentliche Verhandlung gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK
festzusetzen, falls vorliegende Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht gemäss
Antrag Ziff. 1 gutgeheissen werde."

Zudem wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt, die ÖKK
Versicherungen AG, Landquart, sei zumindest im vorliegenden Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht als Partei zuzulassen oder als
Nebenpartei zum Verfahren beizuladen.

Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV), Abteilung Krankenversicherung
(seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit), das Departement des Innern
sowie das Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn schliessen auf Abweisung
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

D.
Am 25. August 2003 liess N.________ eine weitere Stellungnahme sowie am 5.
November 2003 eine "Noveneingabe" einreichen.

E.
Mit Schreiben vom 27. Mai 2004 liess N.________ um Sistierung des Verfahrens
bis zum Widerruf einer Partei ersuchen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Da es sich bei der angefochtenen Verfügung nicht um die Bewilligung oder
Verweigerung von Versicherungsleistungen handelt, hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht nur zu prüfen, ob das vorinstanzliche Gericht
Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des
Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig,
unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen
festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b
sowie Art. 105 Abs. 2 OG).

2.
Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist vorliegend
nicht anwendbar, da in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen
führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).

3.
Die Versicherte macht zunächst eine Verletzung ihres Anspruchs auf
rechtliches Gehör und faires Verfahren nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK ("fair
trial") geltend. Sie wendet ein, das vorinstanzliche Verfahren weise diverse
gravierende formelle Mängel auf. So sei ihr die Verfügung nicht korrekt
eröffnet worden, da die Zustellung an ihrem Arbeitsplatz und nicht an ihrem
Wohnsitz erfolgt sei. Sie habe keine Einladung zur Stellungnahme zur
Vernehmlassung des Departements des Innern erhalten. Auch die Vernehmlassung
selbst sei ihr nicht zugegangen. Es seien ihr überhaupt keine
verfahrensleitenden Verfügungen zugestellt worden.

3.1 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV haben die Parteien Anspruch auf rechtliches
Gehör. Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, andererseits
stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines
Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung einer Person eingreift. Dazu
gehört insbesondere deren Recht, sich vor Erlass des in ihre Rechtsstellung
eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise
beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen
gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder
mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses
geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 129 II 504 Erw. 2.2, 127 I
56 Erw. 2b, 127 III 578 Erw. 2c, 126 V 130 Erw. 2a; zu Art. 4 Abs. 1 aBV
ergangene, weiterhin geltende Rechtsprechung: BGE 126 I 16 Erw. 2a/aa, 124 V
181 Erw. 1a, 375 Erw. 3b, je mit Hinweisen).

Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Die Verletzung des
rechtlichen Gehörs führt ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in
der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung. Es kommt mit
anderen Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den
Ausgang der materiellen Streitentscheidung von Bedeutung ist, d.h. die
Behörde zu einer Änderung ihres Entscheides veranlasst wird oder nicht (BGE
127 V 437 Erw. 3d/aa, 126 V 132 Erw. 2b mit Hinweisen).

Nach der Rechtsprechung kann eine - nicht besonders schwerwiegende -
Verletzung des rechtlichen Gehörs als geheilt gelten, wenn die betroffene
Person die Möglichkeit erhält, sich vor einer Beschwerdeinstanz zu äussern,
die sowohl den Sachverhalt wie die Rechtslage frei überprüfen kann. Die
Heilung eines - allfälligen - Mangels soll aber die Ausnahme bleiben (BGE 127
V 437 Erw. 3d/aa, 126 I 72, 126 V 132 Erw. 2b, je mit Hinweisen).

3.2 Was zunächst die Zustellung am Arbeitsort betrifft, so ist auf § 21 des
Verwaltungsverfahrensgesetzes des Kantons Solothurn (VRG, BGS-SO 124.11)
betreffend die Zustellung von Entscheiden hinzuweisen, welcher in Abs. 3 auf
die Zivilprozessordnung des Kantons Solothurn (ZPO, BGS-SO 221.17) verweist.
Gemäss § 76 Abs. 2 ZPO hat die im Ausland wohnende Person in der Schweiz ein
Zustelldomizil zu bezeichnen, weshalb es entgegen der Auffassung der
Beschwerdeführerin nicht zu beanstanden ist, dass ihr die fragliche Verfügung
an den Arbeitsplatz in der Schweiz zugestellt wurde.

3.3 Im Weiteren ist die Rüge der Beschwerdeführerin zu prüfen, die Vorinstanz
habe ihr weder eine Einladung zur Stellungnahme zur Vernehmlassung des
Departements des Innern noch die Vernehmlassung selbst zugestellt.

3.3.1 Der Anspruch auf ein billiges (faires) Verfahren gemäss Art. 6 Ziff. 1
EMRK beinhaltet das Recht der Parteien, von sämtlichen dem Gericht
eingereichten Eingaben oder Vernehmlassungen Kenntnis und zu diesen Stellung
nehmen zu können. Unerheblich ist, ob die Vernehmlassung lediglich bereits in
der angefochtenen Verfügung genannte Tatsachen und Begründungen enthält oder
neue Entscheidgründe anführt. Es ist Sache der beteiligten Parteien und nicht
des Gerichts, ob sie zu einer Eingabe Bemerkungen anbringen oder darauf
verzichten (VPB 61 [1997] Nr. 108 S. 955).

3.3.2 Die Vorinstanz bringt dazu vor, sie habe die Stellungnahme des
Departements des Innern der Versicherten am 16. Januar 2003 zur Kenntnisnahme
zugestellt.

3.3.3 Nach der Rechtsprechung obliegt der Beweis der Tatsache sowie des
Zeitpunktes der Zustellung einer Verfügung der Verwaltung. Das gleiche gilt
auch für Zustellungen von verfahrensleitenden Verfügungen seitens des
kantonalen Gerichts. Weil der Sozialversicherungsprozess von der
Untersuchungsmaxime beherrscht wird, handelt es sich dabei nicht um die
subjektive Beweisführungslast (Art. 8 ZGB), sondern in der Regel nur um die
so genannte objektive Beweislast in dem Sinne, dass im Falle der
Beweislosigkeit der Entscheid zu Ungunsten jener Partei ausfällt, die aus dem
unbewiesen gebliebenen Sachverhalt Rechte ableiten wollte (BGE 117 V 264 Erw.
3b mit Hinweis). Bezüglich Tatsachen, welche für die Zustellung von
Verfügungen erheblich sind, gilt der Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit. Allerdings bedingt dies in der Regel die Eröffnung der
Verfügung mit eingeschriebenem Brief; denn nach der Rechtsprechung vermag die
Behörde den Wahrscheinlichkeitsbeweis für die Zustellung der Verfügung nicht
durch den blossen Hinweis auf den üblichen administrativen Ablauf zu
erbringen (BGE 121 V 6 f. Erw. 3b; vgl. ZAK 1984 S. 124 Erw. 1b). Wird die
Tatsache oder das Datum der Zustellung uneingeschriebener Sendungen
bestritten, muss im Zweifel auf die Darstellung des Empfängers abgestellt
werden (BGE 124 V 402 Erw. 2a, 103 V 66 Erw. 2a, RKUV 1997 Nr. U 288 S. 444
Erw. 2b mit Hinweisen, vgl. auch Urteil K. vom 20. September 2002, H 392/00).

3.3.4 Wie der in den Akten liegenden Kopie der Vernehmlassungseinladung vom
16. Januar 2003 zu entnehmen ist, erfolgte deren behauptete Zustellung
offenbar nicht mit eingeschriebenem Brief, sondern mit B-Post, weshalb auf
die Darstellung der Versicherten abzustellen und davon auszugehen ist, dass
ihr die Vernehmlassung nicht zugestellt wurde. Zwar wurden mit der
Vernehmlassung keine neuen Aktenstücke aufgelegt, sondern nur die bereits
bekannten Entscheidgründe näher ausgeführt. Dies ändert indes nichts daran,
dass die Vorinstanz der Beschwerdeführerin davon Kenntnis und Gelegenheit zur
Stellungnahme hätte geben müssen, bevor sie über die Beschwerde entschied
(SZIER 1999 S. 553). Abgesehen davon hätte die Versicherte auf Grund der
Fristansetzung der Vorinstanz bis zum 4. Februar 2003 für die Vernehmlassung
des Departements des Innern auch nicht davon ausgehen müssen, dass bereits
zwei Wochen vor Ablauf dieser Frist das kantonale Urteil ergehen würde.
Dieser Mangel ist im letztinstanzlichen Verfahren, insbesondere bei
eingeschränkter Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts (vgl. Erw. 2 hievor), nicht heilbar.

3.4 Die Sache ist deshalb an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie der
Beschwerdeführerin die fragliche Vernehmlassung zur Stellungnahme unterbreite
und über die Beschwerde neu entscheide. Dabei wird sie bei ihrer Beurteilung
insbesondere die mit Eingabe vom 5. November 2003 geltend gemachten Noven
(die neuen Rechtsgrundlagen wie auch die neuen Verwaltungsweisungen) und bei
einer allfälligen Festsetzung einer Parteientschädigung den Aufwand des
Rechtsvertreters vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht zum Materiellen
der Streitsache zu berücksichtigen haben.

4.
Während der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde noch beantragte, die ÖKK sei "zumindest im
vorliegenden Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht als
Partei zuzulassen", stellte er in der Stellungnahme vom 25. August 2003
nurmehr Antrag auf Beiladung der ÖKK zum Verfahren, damit diese zumindest als
Nebenpartei Parteistellung einnehmen könne, weil auch sie ein Interesse an
der Befreiung habe.

Bei diesem Verfahrensausgang kann jedoch die Frage der Beschwerdelegitimation
der ÖKK für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht offen
gelassen werden. Zudem erübrigt sich mangels materieller Beurteilung der
Sache eine Beiladung. Es wird indes Sache der Vorinstanz sein, die Frage der
Beiladung der ÖKK zu prüfen.

Schliesslich wird auch das nachträglich eingereichte Gesuch um Sistierung
gegenstandslos. Es steht der Beschwerdeführerin allerdings frei, vor
Vorinstanz erneut um Sistierung zu ersuchen.

5.
Da es weder um die Bewilligung noch Verweigerung von Leistungen geht, ist das
Verfahren kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Die unterliegende
Beschwerdegegnerin hat somit die Gerichtskosten zu tragen (Art. 156 Abs. 1 in
Verbindung mit Art. 135 OG). Der in den formellen Punkten obsiegenden
Beschwerdeführerin steht eine reduzierte Parteientschädigung zu (Art. 159
Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 21. Januar 2003 aufgehoben und
die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen
verfahre und neu entscheide.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Departement des Innern des
Kantons Solothurn auferlegt.

3.
Der Kostenvorschuss von je Fr. 500.- wird der Beschwerdeführerin und der ÖKK
Versicherungen AG, Landquart, zurückerstattet.

4.
Das Departement des Innern des Kantons Solothurn hat der Beschwerdeführerin
für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2'000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn
und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 24. Juni 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: