Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 166/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


K 166/03

Urteil vom 27. Januar 2005

I. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger,
Ursprung und Frésard; Gerichtsschreiber Widmer

S.________, 1955, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Ronald
Frischknecht, Klosterweg 4, 3053 Münchenbuchsee,

gegen

Assura Kranken- und Unfallversicherung, Mettlenwaldweg 17, 3037
Herrenschwanden, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 4. November 2003)

Sachverhalt:

A.
S. ________ ist bei der Assura Kranken- und Unfallversicherungen
obligatorisch für Krankenpflege versichert. Nachdem er im Juni 2000
Beschwerden in Folge von Zeckenbissen im Jahr 1999 hatte melden lassen,
erbrachte die Zürich Versicherungs-Gesellschaft, bei welcher S.________ als
Angestellter des Kantons Bern vom 1. Januar bis 31. Dezember 1999
obligatorisch gegen Unfälle versichert war, zunächst die gesetzlichen
Leistungen. Gestützt auf die medizinischen Unterlagen, namentlich ein
Gutachten des Neurologen Prof. M.________ vom 6. Oktober 2002, lehnte die
Zürich den Anspruch auf Leistungen aus der Unfallversicherung mit Verfügung
vom 8. Januar 2003 ab, weil die Gesundheitsstörungen des Versicherten keine
Folgen eines zwischen 1. Januar und 31. Dezember 1999 eingetretenen Unfalls
darstellten und in keinem Kausalzusammenhang zu einem möglichen, im Jahr 1999
erlittenen Zeckenbiss stünden. Der Versicherte erhob Einsprache.

Für die Folgen eines Reitunfalls vom 6. Oktober 2000 erbrachte die Visana als
nunmehr zuständige Unfallversicherung zunächst die gesetzlichen Leistungen,
verneinte indessen mit Verfügung vom 11. Dezember 2002 ihre weitere
Leistungspflicht, woran sie mit Einspracheentscheid vom 31. Januar 2003
festhielt. In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern den Einspracheentscheid auf und wies die
Sache zu ergänzenden Abklärungen und neuer Verfügung an die Visana zurück
(Entscheid vom 4. November 2003).

Mit Schreiben vom 14. März 2003 hatte S.________ die Assura unter Berufung
auf deren gesetzliche Vorleistungspflicht um Begleichung mehrerer offener
Rechnungen für Medikamente und Laboruntersuchungen im Zusammenhang mit dem
behaupteten Zeckenbiss ersucht. Mit Verfügung vom 3. April 2003 eröffnete die
Assura dem Versicherten, dass sie die ihr vorgelegten Rechnungen mit Ausnahme
eines Betrages von Fr. 1432.15 (abzüglich Kostenbeteiligung) nicht übernehme;
die Rocephin-Therapie und die Behandlungen mit den Antibiotika Zithromax und
Clamoxyl seien medizinisch nicht indiziert und damit als nicht wirtschaftlich
zu betrachten. Die Kosten für die Laboruntersuchungen in den USA könnten auf
Grund des Territorialitätsprinzips nicht vergütet werden, während das
Medikament Claforan nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführt sei und damit
keine Pflichtleistung der obligatorischen Krankenversicherung darstelle. Auf
Einsprache von S.________ hin hielt die Assura mit Entscheid vom 22. Mai 2003
an ihrem Standpunkt fest.

B.
Die von S.________ hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher er
beantragen liess, unter Aufhebung des Einspracheentscheides sei die Assura zu
verpflichten, als vorleistungspflichtiger Krankenversicherer die Leistungen
im Zusammenhang mit den Unfällen von 1999 und 2000 zu erbringen, wies das
Verwaltungsgericht des Kantons Bern ab (Entscheid vom 4. November 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ das vorinstanzlich
gestellte Rechtsbegehren erneuern.

Während die Assura auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst,
verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung, Abteilung Kranken- und
Unfallversicherung (seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit), auf
eine Vernehmlassung.

D.
Der Instruktionsrichter holte bei der Visana das Gutachten des Prof.
M.________ vom 6. Oktober 2002 ein.

E.
Mit Eingabe vom 5. Juli 2004 reichte die Assura ein Aktengutachten des Prof.
V.________, Chefarzt der Klinik für Rheumatologie, Klinische Immunologie und
Allergologie am Spital X.________, vom 30. Mai 2004 ein.

F.
S.________ liess am 3. September 2004 verschiedene Unterlagen einreichen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach der Rechtsprechung können nach Ablauf der Rechtsmittelfrist - ausser im
Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels - keine neuen Akten mehr eingebracht
werden. Vorbehalten bleiben Aktenstücke, die neue erhebliche Tatsachen oder
entscheidende Beweismittel im Sinne von Art. 137 lit. b OG darstellen und als
solche eine Revision des Gerichtsurteils rechtfertigen könnten (BGE 127 V
353). Die von den Parteien nachträglich eingereichten Unterlagen sind unter
revisionsrechtlichem Gesichtswinkel im Sinne von Art. 137 lit. b OG
unerheblich und haben daher bei der Beurteilung des vorliegenden Falles
ausser Acht zu bleiben.

2.
Begründet ein Versicherungsfall einen Anspruch auf
Sozialversicherungsleistungen, bestehen aber Zweifel darüber, welche
Sozialversicherung die Leistungen zu erbringen hat, so kann die berechtigte
Person Vorleistung verlangen (Art. 70 Abs. 1 ATSG). Vorleistungspflichtig ist
die Krankenversicherung für Sachleistungen und Taggelder, deren Übernahme
durch die Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die
Militärversicherung oder die Invalidenversicherung umstritten ist (Art. 70
Abs. 2 lit. a ATSG). Die berechtigte Person hat sich bei den in Frage
kommenden Sozialversicherungen anzumelden (Art. 70 Abs. 3 ATSG). Die
Vorleistungspflicht der Krankenversicherung gemäss Art. 70 Abs. 2 lit. a ATSG
entspricht derjenigen des bisherigen Rechts (Kieser, ATSG-Kommentar, N 35 zu
Art. 70). Der mit dem altrechtlichen, gestützt auf Art. 78 Abs. 1 lit. a KVG
(in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) erlassenen Art. 112
KVV (gültig bis 31. Dezember 2002) geregelte Zweifelsfall betraf
ausschliesslich Tatbestände, bei denen unbestritten ist, dass eine bestimmte
Leistung erbracht werden muss, hingegen zweifelhaft ist, welcher von zwei
Versicherern diese Leistung schuldet (Urteil T. vom 26. April 2001, K
146/99). Soweit von Art. 70 Abs. 2 lit. a ATSG Sachleistungen erfasst sind,
muss ein Zweifel über die Leistungspflicht bei einer Heilbehandlung bestehen,
weil die Krankenpflegeversicherung grundsätzlich nur Leistungen mit einer
diagnostischen, therapeutischen oder pflegerischen Zielsetzung erbringt. Es
geht somit um Untersuchungen, Behandlungen, Pflegemassnahmen, Analysen,
Arzneimittel und bestimmte Mittel und Gegenstände (Kieser, a.a.O., N 12 zu
Art. 70).
Nach Art. 71 ATSG erbringt der vorleistungspflichtige Versicherungsträger die
Leistungen nach den für ihn geltenden Bestimmungen. Wird der Fall von einem
anderen Träger übernommen, so hat dieser die Vorleistungen im Rahmen seiner
Leistungspflicht zurückzuerstatten. Art. 71 Satz 1 ATSG stellt ebenfalls
keine Neuerung dar, sondern entspricht altArt. 112 Abs. 1 KVV. Ist somit
gestützt auf Art. 70 ATSG die Vorleistungspflicht bestimmt worden, richtet
sich in der Folge die Leistungspflicht nach den Bestimmungen der für den
betreffenden Sozialversicherungszweig massgebenden Regelung, was bedeutet,
dass sämtliche für die Leistungsausrichtung erheblichen Fragen nach diesen
Bestimmungen zu beantworten sind (Kieser, a.a.O., N 3 und 4 zu Art. 73).
Erfolgt eine medikamentöse Behandlung auf Grund einer Diagnose, die sich
nachträglich als falsch herausstellt, ist dies kein Grund für die Verneinung
der Vorleistungspflicht. Massgebend ist, dass eine Verdachtsdiagnose eine
Behandlung rechtfertigen kann und diese aus medizinischer Sicht im
Durchführungszeitpunkt prospektiv als indiziert erscheint. Tauchen im
Nachhinein, beispielsweise gestützt auf ein fachärztliches Gutachten, Zweifel
an der ursprünglichen Diagnose auf, führt dies nicht dazu, dass die
seinerzeit auf Grund der Verdachtsdiagnose veranlasste, als wirksam,
zweckmässig und wirtschaftlich gemäss Art. 32 KVG erachtete Behandlung
nunmehr als unwirksam, unzweckmässig oder unwirtschaftlich bezeichnet werden
kann mit der Folge, dass der Krankenversicherer sich unter Berufung auf Art.
32 KVG der Vorleistungspflicht gestützt auf Art. 71 Satz 1 ATSG entschlagen
könnte. Die Vorleistungspflicht des Krankenversicherers entfällt erst, wenn
die durchgeführte Behandlung den Kriterien des Art. 32 KVG offensichtlich
nicht entspricht.

3.
Im vorliegenden Fall steht fest, dass der Beschwerdeführer an erheblichen,
behandlungsbedürftigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, deren
Ursache noch nicht geklärt ist. Während die Zürich als zuständige
Unfallversicherung ihre Leistungspflicht nach umfangreichen Abklärungen
gemäss Verfügung vom 8. Januar 2003 verneint hat mit der Begründung, dass es
sich bei den geklagten Beschwerden nicht um Unfallfolgen handelt und ein
Zeckenbiss als Ursache nicht mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit
nachgewiesen sei, vertritt der Versicherte die Auffassung, seine Beschwerden
seien unfallkausal. Über seine mit der entsprechenden Begründung erhobene
Einsprache wurde, soweit ersichtlich, noch nicht entschieden. Streitig und zu
prüfen ist, ob die Assura als Krankenversicherer des Beschwerdeführers auf
Grund der gesetzlichen Vorleistungspflicht die im Zusammenhang mit der
Behandlung des seitens der beteiligten Ärzte vermuteten Zeckenbisses im Jahr
1999 stehenden Rechnungen zu übernehmen hat.

3.1 Aus den vorstehend (Erw. 2 hievor) dargelegten Grundsätzen folgt, dass
der Krankenversicherer im Falle einer Heilbehandlung im Verhältnis zur
Unfallversicherung vorleistungspflichtig ist, wenn feststeht, dass eine
bestimmte Leistung erbracht werden muss, aber unklar ist, ob der behandelte
Gesundheitsschaden auf einen Unfall (eine unfallähnliche Körperschädigung;
eine Berufskrankheit) oder eine Krankheit zurückzuführen ist. Dies bedeutet,
dass der Krankenversicherer gerade in Fällen, in welchen die Unfallkausalität
einer Gesundheitsschädigung streitig ist und von den beteiligten Ärzten
kontrovers beurteilt wird, grundsätzlich vorleistungspflichtig ist.

3.2 Die Assura kann sich demnach nicht unter Hinweis auf Art. 71 Satz 1 ATSG
und eine Stellungnahme ihres Vertrauensarztes oder anderer am Verfahren
beteiligter Mediziner mit Erfolg auf fehlende Wirtschaftlichkeit der
durchgeführten Behandlungen im Sinne von Art. 32 in Verbindung mit Art. 56
KVG berufen, weil sie aus dem Gutachten des Prof. M.________ schliesst, der
Kausalzusammenhang zwischen (allfälligem) Zeckenbiss und den
Gesundheitsstörungen des Beschwerdeführers sei nicht mit überwiegender
Wahrscheinlichkeit nachgewiesen, weshalb die durchgeführten Behandlungen
medizinisch nicht indiziert gewesen seien. Denn so lange die im Hinblick auf
eine Borreliose-Erkrankung in Folge Zeckenbisses angeordnete medikamentöse
Therapie auf Grund einer Verdachtsdiagnose zum damaligen Zeitpunkt aus
medizinischer Sicht unter Berücksichtigung des dem behandelnden Arzt
zustehenden Ermessens gerechtfertigt erschien, ist die Vorleistungspflicht
der Assura gegeben. Mit ihrer Auffassung verkennt die Assura das Wesen der
Vorleistungspflicht gemäss Art. 70 Abs. 2 lit. a ATSG, mit welcher lediglich
geregelt wird, welcher der Versicherer im Zweifelsfall eine Leistung, die
erbracht werden muss, zunächst schuldet. Dass im vorliegenden Fall
Versicherungsleistungen in Form von Heilbehandlung und Arzneimitteln zu
erbringen waren, steht damit fest.

4.
Gestützt auf Art. 70 Abs. 2 lit. a ATSG ist die Assura nach dem Gesagten
grundsätzlich vorleistungspflichtig, wobei sich ihre Vorleistungspflicht nach
Massgabe der Bestimmungen des KVG richtet. Mit Bezug auf die einzelnen
Rechnungen gilt Folgendes:
4.1 Die Rechnung der Apotheke Y.________ vom 31. Oktober 2002 über Fr.
5066.75, welche im Teilbetrag von Fr. 1432.15 anerkannt wurde, hat die Assura
vollumfänglich (abzüglich Kostenbeteiligung des Beschwerdeführers) zu
übernehmen.

4.2 Die Rechnung der Apotheke Y.________ vom 1. Februar 2003 über Fr. 9417.15
betrifft das nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführte Medikament Claforan
und Positionen, die im Zusammenhang mit der Verabreichung dieses
Arzneimittels stehen. Da die gesetzliche Ordnung die Übernahme der Kosten von
nicht auf der Spezialitätenliste aufgeführten Arzneimitteln durch die
obligatorische Krankenpflegeversicherung ausschliesst (RKUV 2003 KV Nr. 260
S. 302 Erw. 3; Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Schweizerisches
Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, S. 64 Rz 126), entfällt
nach Art. 71 Satz 1 ATSG die Vorleistungspflicht der Assura.

4.3 Nicht vorleistungspflichtig ist die Assura sodann für die in den USA
durchgeführten Laboruntersuchungen (Rechnung vom 6. Oktober 2002 über Fr.
663.-). Gemäss Art. 34 Abs. 2 KVG in Verbindung mit Art. 36 Abs. 1 KVV werden
- abgesehen von Notfällen (Art. 36 Abs. 2 KVV) - Leistungen nach den Art. 25
Abs. 2 und 29 KVG, die im Ausland erbracht werden, von der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung nur übernommen, wenn sie in der Schweiz nicht
erbracht werden können (vgl. RKUV 2003 KV Nr. 253 S. 229). Es ist nicht
ersichtlich, dass die in den USA vorgenommenen Laboruntersuchungen nicht auch
in der Schweiz hätten durchgeführt werden können, was vom Beschwerdeführer
denn auch nicht behauptet wird.

5.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine reduzierte Parteientschädigung
(Art. 159 Abs. 1 und 3 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 4. November 2003 und
der Einspracheentscheid vom 22. Mai 2003 dahin abgeändert, dass die Assura
verpflichtet wird, die Rechnung der Apotheke Y.________ vom 31. Oktober 2002
vollumfänglich (abzüglich Kostenbeteiligung des Versicherten) zu übernehmen.
Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die Assura hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren vor dem Eidgenössischen
Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 800.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren, entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses, zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, der VISANA, Bern, dem Verwaltungsgericht des
Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für
Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 27. Januar 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: