Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 130/2003
Zurück zum Index Sozialrechtliche Abteilungen 2003
Retour à l'indice Sozialrechtliche Abteilungen 2003


K 130/03

Urteil vom 2. November 2005
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Kernen und Seiler; Gerichtsschreiber
Traub

Kanton Thurgau, Beschwerdeführer, vertreten durch das Departement für
Finanzen und Soziales des Kantons Thurgau, Regierungsgebäude, 8510
Frauenfeld,

gegen

S.________, Beschwerdegegner,

Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 3. September 2003)

Sachverhalt:

A.
S. ________ wurde nach seiner Wohnsitznahme in der Schweiz zufolge
gleichwertiger Versicherung in Deutschland von der Versicherungspflicht im
Sinne des Art. 3 KVG befreit (Rekursentscheid des Departements für Finanzen
und Soziales des Kantons Thurgau vom 28. Juli 1997). Am 4. November 2002
verfügte die Politische Gemeinde Y.________, S.________ habe - mit Blick auf
das In-Kraft-Treten des Abkommens vom 21. Juni 1999 über die
Personenfreizügigkeit (FZA) - den Nachweis der Versicherung bei einer
schweizerischen Krankenkasse beizubringen. Diese Verfügung wurde mit
Einspracheentscheid der Gemeinde vom 19. Dezember 2002 und mit
Rekursentscheid des kantonalen Departementes für Finanzen und Soziales vom
15. Mai 2003 geschützt.

B.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau hob den Entscheid des Departements
in Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde am 3. September 2003 auf.

C.
Der Kanton Thurgau führt, vertreten durch das Departement für Finanzen und
Soziales, Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid
des kantonalen Verwaltungsgerichts sei aufzuheben und es sei festzustellen,
dass S.________ (Beschwerdegegner) unter die Krankenversicherungspflicht in
der Schweiz falle, weil weder aufgrund des FZA noch des schweizerischen
Krankenversicherungsrechts ein Befreiungsgrund vorliege.

Während die Einheitsgemeinde Y.________ auf eine Vernehmlassung verzichtet,
schliesst der Beschwerdegegner auf Nichteintreten. Das kantonale Gericht
beantragt, es sei auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht einzutreten.
Das Bundesamt für Sozialversicherung äussert sich, ohne einen Antrag zu
stellen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Eine Streitsache kann nur materiell beurteilt werden, wenn sämtliche
Sachurteilsvoraussetzungen erfüllt sind (BGE 124 V 298 Erw. 1). Vorliegend
ist fraglich, ob der Kanton Thurgau zur Ergreifung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde legitimiert ist. Das Gemeinwesen leitet eine
Beschwerdebefugnis im Wesentlichen aus der Sorge um eine rechtsgleiche
Anwendung des Art. 2 KVV und um die "Durchsetzung des
Versicherungsobligatoriums als Instrument zur Gewährleistung der Solidarität"
ab. Vorinstanz und Beschwerdegegner beantragen, es sei auf die Beschwerde des
Kantons Thurgau mangels Legitimation nicht einzutreten.

2.
Zu prüfen ist, ob der durch das Departement für Finanzen und Soziales
handelnde Kanton Thurgau gesetzlich zur Behördenbeschwerde ermächtigt ist.
Massgebend für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht ist
Art. 132 in Verbindung mit Art. 103 lit. a-c OG.

2.1 Art. 103 lit. b OG regelt die Beschwerdebefugnis der zuständigen
Bundesbehörden. Diese ist gegeben, sofern ein (spezifisches öffentliches)
Interesse an der Lösung des Streitfalls zu vermuten ist (BGE 124 V 299 Erw.
1c, 114 V 242 Erw. 3b; vgl. Attilio R. Gadola, Die Behördenbeschwerde in der
Verwaltungsrechtspflege des Bundes - ein "abstraktes" Beschwerderecht?, in:
AJP 1993 S. 1460 f.). Die Bestimmung sieht allein die Beschwerdeberechtigung
des in der Sache zuständigen Departements oder der zuständigen
Dienstabteilung der Bundesverwaltung vor. Aufgrund dieses Legitimationstitels
können eidgenössische Aufsichtsbehörden, welche im öffentlichen Interesse
über die richtige und einheitliche Rechtsanwendung in ihrem
Zuständigkeitsgebiet zu wachen haben, eine letztinstanzliche justizielle
Kontrolle veranlassen (vgl. BGE 127 II 35 Erw. 1b). Hinsichtlich des
bundesrechtlich abschliessend geordneten Krankenversicherungsobligatoriums
(Art. 3 KVG; Art. 1 bis 6 KVV) kommt die aufsichtsrechtlich motivierte
Befugnis zur Ergreifung einer Behördenbeschwerde ausschliesslich dem
Eidgenössischen Departement des Innern (EDI) zu (BGE 124 V 296; vgl. auch BGE
127 V 149).

2.2 Gemäss Art. 103 lit. c OG ist darüber hinaus jede andere Person,
Organisation oder Behörde beschwerdeberechtigt, wenn dies im Bundesrecht so
vorgesehen ist. Mangels spezialgesetzlicher Anordnung kann sich der
Beschwerdeführer auch nicht auf diese Bestimmung stützen.

2.3 Nach Art. 103 lit. a OG ist zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das
Eidgenössische Versicherungsgericht berechtigt, wer durch die angefochtene
Verfügung berührt ist und ein schutzwürdiges Interesse an deren Aufhebung
oder Änderung hat.

2.3.1 Die Rechtsprechung betrachtet als schutzwürdiges Interesse im Sinne von
Art. 103 lit. a OG jedes praktische oder rechtliche Interesse, welches eine
von einer Verfügung betroffene Person an deren Änderung oder Aufhebung
geltend machen kann. Das schutzwürdige Interesse besteht somit im praktischen
Nutzen, den die Gutheissung der Beschwerde dem Verfügungsadressaten
verschaffen würde, oder - anders ausgedrückt - im Umstand, einen Nachteil
wirtschaftlicher, ideeller, materieller oder anderweitiger Natur zu
vermeiden, welchen die angefochtene Verfügung mit sich bringen würde. Das
rechtliche oder auch bloss tatsächliche Interesse braucht somit mit dem
Inte-resse, das durch die von der beschwerdeführenden Person als verletzt
bezeichnete Norm geschützt wird, nicht übereinzustimmen. Immerhin wird
verlangt, dass die Person durch die angefochtene Verfügung stärker als
jedermann betroffen sei und in einer besonderen, beachtenswerten, nahen
Beziehung zur Streitsache stehe (BGE 130 V 202 Erw. 3, 127 V 3 Erw. 1b, 82
Erw. 3a/aa).

2.3.2 Die in Art. 103 lit. a OG (und Art. 48 lit. a VwVG; vgl. BGE 127 V 82
Erw. 3 i.i.) aufgeführten Legitimationsvoraussetzungen sind zwar in erster
Linie auf Privatpersonen zugeschnitten. Nach der Rechtsprechung schliesst
dies indessen nicht aus, dass sich auch ein Gemeinwesen zur Begründung seiner
Beschwerdebefugnis auf diese Bestimmung berufen kann. Dies gilt einerseits
dann, wenn das Gemeinwesen gleich oder ähnlich wie ein Privater betroffen
ist, was insbesondere dann der Fall ist, wenn seine vermögensrechtlichen
Interessen in Frage stehen. Um die Legitimation begründen zu können, muss
diese Wirkung konkret sein und eine direkte Folge des angefochtenen Aktes
darstellen. Anderseits ist ein Gemeinwesen legitimiert, wenn es durch die
angefochtene Verfügung in seinen hoheitlichen Befugnissen berührt ist, im
betreffenden Bereich über Autonomie verfügt und ein spezifisches
schutzwürdiges eigenes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des
angefochtenen Entscheids hat. Dagegen begründet das bloss allgemeine
Interesse an einer richtigen Auslegung und Durchsetzung des objektiven
Bundesrechts allein keine Beschwerdebefugnis des Gemeinwesens, zumal diesem
Anliegen mit Art. 103 lit. b und c OG Rechnung getragen wird. Insbesondere
ist die in einem Rechtsmittelverfahren unterlegene Vorinstanz nicht
legitimiert; es genügt nicht, dass eine Behörde in einem Bereich, in welchem
sie zur Rechtsanwendung zuständig ist, eine bestimmte Rechtsauffassung
vertritt, die in Widerspruch steht zu derjenigen einer anderen zuständigen
bzw. übergeordneten Instanz (BGE 131 II 62, 127 II 38 Erw. 2d und e, 127 V 83
Erw. 3a/bb, 125 II 194 Erw. 2a/aa, 123 II 375 Erw. 2d, je mit Hinweisen;
Häfelin/Müller, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl., Zürich 2002, Rz 1954
und 1785; Isabelle Häner, Die Beteiligten im Verwaltungsverfahren und
Verwaltungsprozess, Zürich 2000, Rz 825 ff.; Pierre Moor, La qualité pour
agir des autorités et collectivités dans les recours de droit public et de
droit administratif, in: Études de procédure et d'arbitrage en l'honneur de
Jean-François Poudret, Lausanne 1999, S. 104 f. und 116 ff.; Kölz/Häner,
Verwaltungsverfahren und Verwaltungsrechtspflege des Bundes, 2. Aufl., Zürich
1998, Rz 922 und 566 ff.; Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl., Bern
1983, S. 171 f.; kritisch zum Kriterium der "Privatbetroffenheit" Gadola,
a.a.O., S. 1468 f.).
2.3.3 Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat im Jahre 1984, noch unter
der Herrschaft des KUVG, entschieden, dass ein kantonales Departement, das
als untere Beschwerdebehörde entschieden hat und dessen Verfügung durch das
kantonale Verwaltungsgericht aufgehoben wurde, nicht berechtigt ist, gestützt
auf Art. 103 lit. a OG Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu führen (BGE 110 V
127). An dieser Rechtslage hat sich mit dem In-Kraft-Treten des KVG anfangs
1996 nichts geändert. Es besteht nach wie vor kein genügend enger Bezug des
beschwerdeführenden Kantons zum Streitgegenstand.

2.3.3.1 Zunächst liegt die Einlegung des Rechtsmittels nicht im unmittelbaren
und konkreten eigenen finanziellen Interesse des Kantons Thurgau (vgl. zur
Kasuistik ARV 2005 S. 150 Erw. 4; SVR 2000 IV Nr. 14 S. 42 Erw. 3a): Der
bestehende Versicherungsschutz deckt den für die obligatorische Versicherung
massgebenden Leistungskatalog gemäss KVG ab, wie aus dem Entscheid betreffend
Befreiung von der Versicherungspflicht vom 28. Juli 1997 hervorgeht. Selbst
wenn ungedeckte Krankheitskosten entstünden, würde sich ein allfälliges
subsidiäres Einstehen für die entsprechenden Kosten durch die öffentliche
Hand (Sozialhilfe) als potentielles Risiko, nicht aber als direkte und
konkrete Folge des angefochtenen Aktes darstellen, wie es zur Begründung der
Beschwerdebefugnis erforderlich ist (Erw. 2.3.2 hievor).

2.3.3.2 Im Zentrum der Argumentation des Beschwerdeführers steht das Anliegen
der Solidarität in der obligatorischen Krankenversicherung (vgl. Botschaft
über die Revision der Krankenversicherung vom 6. November 1991, BBl 1992 I
125 f.). Zur Annahme einer Beschwerdeberechtigung wäre zunächst
vorausgesetzt, dass der Kanton im Bereich von Versicherungsobligatorium und
Versicherungspflicht über Autonomie verfügt, wie es vor In-Kraft-Treten des
KVG noch der Fall war; das neue Recht sieht indes - im Gegensatz zur früheren
Gesetzeslage - ein bundesweites Versicherungsobligatorium vor (Art. 3 Abs. 1
KVG; BBl 1992 I 99 und 141). Ein eigener Gestaltungsspielraum der Kantone
besteht somit nicht mehr; namentlich sind die Ausnahmen von der
Versicherungspflicht im Bundesrecht abschliessend geregelt (Art. 3 Abs. 2 KVG
und Art. 2 KVV). Den Kantonen kommt bloss noch Vollzugs- und
Kontrollzuständigkeit zu, indem sie für die Einhaltung der bundesrechtlichen
Versicherungspflicht und für die Entscheidung über Ausnahmegesuche zu sorgen
haben (Art. 6 KVG; Art. 10 Abs. 2 KVV). Bei materiellrechtlichen kantonalen
Bestimmungen im Zusammenhang mit der Überwachung der Versicherungspflicht und
der Zwangszuweisung handelt es sich um unselbstständiges kantonales
Ausführungsrecht zu Bundesrecht (Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in:
Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, Basel
1998, Rz 24). Vorliegend fehlt es nach dem Gesagten nicht nur am originären
Wirkungskreis, sondern auch am für die Legitimation des Gemeinwesens
zusätzlich erforderlichen spezifischen eigenen Interesse an der Aufhebung
oder Änderung des angefochtenen Entscheids, möchte der Beschwerdeführer doch
vorab einer - seiner Rechtsauffassung nach - gleichmässigen Anwendung des
Gesetzes zum Durchbruch verhelfen. Damit vertritt der Kanton Thurgau ein
allgemeines öffentliches Interesse, das keine hinlängliche Grundlage für die
Beschwerdebefugnis bildet.

2.4 Ist der Kanton Thurgau im vorliegenden Zusammenhang unter keinem Titel
beschwerdebefugt, kann die Sache nicht zur materiellen Prüfung
entgegengenommen werden.

3.
Das Verfahren ist an sich kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario). Dem
Prozessausgang entsprechend wären die Kosten vom Kanton Thurgau als
unterliegender Partei zu tragen (Art. 135 in Verbindung mit Art. 156 Abs. 1
OG). Gestützt auf Art. 156 Abs. 2 OG sind dem Beschwerdeführer jedoch keine
Gerichtskosten aufzuerlegen, zumal er nicht vorrangig in seinem
Vermögensinteresse gehandelt hat.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nicht eingetreten.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau,
dem Bundesamt für Gesundheit und der Politischen Gemeinde Y.________
zugestellt.

Luzern, 2. November 2005

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer: Der Gerichtsschreiber: