Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen K 102/2003
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K 102/03

Urteil vom 21. Juli 2004

I. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Ferrari,
Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Kernen; Gerichtsschreiberin Kopp
Käch

S.________, 1947, Beschwerdeführer,

gegen

SWICA Gesundheitsorganisation, Rechtsdienst, Römerstrasse 38, 8401
Winterthur, Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 23. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1947 geborene S.________ ist bei der SWICA Gesundheitsorganisation
(nachfolgend SWICA) krankenversichert. Im Bericht vom 30. Oktober 2000
diagnostizierte Dr. med. dent. I.________, Zahnärztliche Klinik G.________,
eine anlagebedingte Mikromaxillie und Progenie mit einem Winkel ANB von
mindestens -3 Grad und qualifizierte das Leiden als Geburtsgebrechen Ziff.
210 des Anhangs zur Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV). Der Zahnarzt
stellte bei der vorgenommenen totalprothetischen Versorgung eine
Kauunfähigkeit fest und plante die Wiederherstellung der Stützzone des
Unterkiefers mittels Implantaten, einer prothetischen Korrektur sowie einer
kaufunktionellen akzeptablen zirkulären Abstützung. S.________ ersuchte die
SWICA um Kostengutsprache für die von Dr. med. dent. I.________
veranschlagten Behandlungskosten in der Höhe von ca. Fr. 15'000.- zuzüglich
allfälliger Kosten für den stationären Aufenthalt und für die Narkose.

Mit Verfügung vom 23. Februar 2001 lehnte es die SWICA ab, aus der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung Leistungen für die geplante
zahnärztliche Behandlung zu erbringen. Nach Einholung einer Stellungnahme zum
Vorliegen des Geburtsgebrechens Nr. 210 GgV Anhang bei der Klinik für
Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin des Spitals Z.________ vom 17.
Dezember 2001 sowie nach Rücksprache mit dem Ombudsmann der sozialen
Krankenversicherung hielt die SWICA mit Einspracheentscheid vom 21. Januar
2002 an ihrem Standpunkt fest.

B.
Die Beschwerde, mit welcher S.________ die Feststellung des Vorliegens eines
Geburtsgebrechens sowie die Verpflichtung der SWICA zur Übernahme der Kosten
einer geeigneten Behandlung, eventualiter zur Übernahme eines Kostenanteils,
subeventualiter die Rückweisung an die Krankenkasse zu weiteren Abklärungen
beantragte, wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit
Entscheid vom 23. Juni 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt S.________ sinngemäss die
Vornahme weiterer medizinischer Abklärungen unter Einbezug des ersten für ihn
angefertigten Gebisses und die Festsetzung des Umfangs der Leistungspflicht
der obligatorischen Krankenpflegeversicherung, eventualiter die Rückweisung
an die Vorinstanz zu weiteren Abklärungen und neuer Beurteilung.

Die SWICA verzichtet unter Verweis auf den vorinstanzlichen Entscheid auf
eine Stellungnahme. Das Bundesamt für Sozialversicherung, Abteilung
Krankenversicherung (seit 1. Januar 2004 im Bundesamt für Gesundheit), hat
sich nicht vernehmen lassen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1  Das kantonale Gericht hat zunächst richtig ausgeführt, dass für die
Beurteilung des vorliegenden Falles nicht die Bestimmungen des am 1. Januar
2003 in Kraft getretenen Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000, sondern die bis zum 31.
Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar sind (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).
Zutreffend dargelegt hat es sodann die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen
über den Anspruch auf Leistungen der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung für zahnärztliche Behandlungen, die durch ein
Geburtsgebrechen, namentlich durch eine Prognathia inferior congenita bedingt
sind (Art. 27 und Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG, Art. 33 Abs. 2 und 5 KVG in
Verbindung mit Art 33 lit. d KVV sowie Art. 19a Abs. 1 lit. a und Abs. 2
Ziff. 22 KLV). Darauf kann verwiesen werden.

1.2  Wie die Vorinstanz ausführt, hat das Eidgenössische Versicherungsgericht
in BGE 129 V 80 entschieden, dass zahnärztliche Behandlungen, die durch ein
Geburtsgebrechen bedingt sind, nur dann in den Leistungsbereich der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung fallen, wenn die Voraussetzungen
von Art. 31 Abs. 1 KVG erfüllt sind. Das Geburtsgebrechen Prognathia inferior
congenita gemäss Art. 19a Abs. 2 Ziff. 22 KLV hat es einer schweren
Erkrankung des Kausystems im Sinne von Art. 31 Abs. 1 lit. a KVG
gleichgestellt und diesbezüglich die Gesetzmässigkeit der
Verordnungsbestimmung bejaht. Zu ergänzen ist, dass das Eidgenössische
Versicherungsgericht im Urteil B. vom 22. April 2004 diese Rechtsprechung
präzisiert hat, indem es sich vertieft mit dem in Art. 19a Abs. 1 lit. a KLV
vorgesehenen Erfordernis der Notwendigkeit der Behandlung nach dem 20.
Lebensjahr auseinandergesetzt hat (noch nicht in der Amtlichen Sammlung
veröffentlichtes Urteil B. vom 22. April 2004, K 139/02). Demzufolge sind
Behandlungen nach dem 20. Lebensjahr notwendig im Sinne der erwähnten
Verordnungsbestimmung, wenn sie aus medizinischen Gründen einen Eingriff erst
in diesem Zeitpunkt erfordern.

2.
Streitig und zu prüfen ist, ob die obligatorische Krankenpflegeversicherung
für die zahnärztliche Behandlung des Beschwerdeführers aufzukommen hat.

2.1  Der Beschwerdeführer beantragt die Kostenübernahme im Wesentlichen
gestützt auf die Diagnosestellung des Dr. med. dent. I.________ vom 30.
Oktober 2000, wonach er an einer anlagebedingten Mikromaxillie und Progenie
mit einem Winkel ANB von mindestens -3 Grad leide, was unter Ziff. 210 GgV
Anhang zu subsumieren sei.

2.2  Die Krankenkasse verneinte in ihrer Verfügung vom 23. Februar 2001 eine
Leistungspflicht mit der Begründung, es liege kein Krankheitsbild gemäss Art.
17 bis 19 KLV vor. Die durch ein Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 19a Abs.
2 KLV bedingten zahnärztlichen Behandlungen sodann würden von der
Krankenversicherung nur übernommen, wenn sie nach dem 20. Altersjahr
fortgesetzt werden müssten, weil eine Sanierung bis zu diesem Zeitpunkt nicht
möglich gewesen sei. Nach Einholung einer Stellungnahme bei der Klinik für
Kieferorthopädie und Kinderzahnmedizin des Spitals Z.________ sowie nach
Rücksprache mit dem Ombudsmann der sozialen Krankenversicherung stellte sich
die Beschwerdegegnerin im Einspracheentscheid vom 21. Januar 2002 auf den
Standpunkt, das Vorliegen eines Geburtsgebrechens sei bei der zur Verfügung
stehenden Aktenlage nicht mehr beweisbar, was sich zu Ungunsten des
Versicherten auswirke.

2.3  Die Vorinstanz hielt fest, dass für die Abklärung der Geburtsgebrechen
Ziff. 208-210 GgV Anhang angesichts deren Komplexität - wie dies der
Ombudsmann unter Verweis auf das Kreisschreiben des Bundesamtes für
Sozialversicherung über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung ausgeführt habe - ausschliesslich die
Kieferorthopädischen Abteilungen der Zahnärztlichen Universitätsinstitute
sowie die im Spezialistenregister eingetragenen Kieferorthopäden und
-orthopädinnen SSO zuständig seien. Auf die Bestätigung des Dr. med. dent.

I. ________ könne bereits aus diesem Grund nicht abgestellt werden. Eine
Einholung ergänzender Abklärungen bei den obigen Stellen erübrige sich
indessen, da in der Stellungnahme der Klinik für Kieferorthopädie und
Kinderzahnmedizin vom 17. Dezember 2001 in überzeugender und
nachvollziehbarer Weise dargelegt worden sei, dass ohne ein früheres,
zumindest vor Eingliederung der Vollprothese datiertes Fernröntgenbild eine
schlüssige Beurteilung nicht möglich sei. Eine Aussage zum Vorliegen eines
Geburtsgebrechens sei daher rein spekulativ. Auch der vom Beschwerdeführer im
kantonalen Verfahren nach Abschluss des Schriftenwechsels wiedergefundene
erste Abdruck seines Gebisses vermag nach Auffassung der Vorinstanz
angesichts der mangelnden Aussagekraft über die Kieferrelation keinen
genügenden Beweis zu erbringen. Weder das Vorliegen noch das Nichtvorliegen
eines Geburtsgebrechens gemäss Art. 19a Abs. 2 Ziff. 22 KLV könne zum
heutigen Zeitpunkt mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit bewiesen werden, wobei sich die Beweislosigkeit zu
Ungunsten des Versicherten auswirke.

2.4  In seiner Verwaltungsgerichtsbeschwerde macht der Beschwerdeführer im
Wesentlichen geltend, eine Leistungspflicht der Krankenversicherung bestehe
auch bei einem erst im Erwachsenenalter entdeckten und folglich nicht der
Invalidenversicherung angemeldeten Geburtsgebrechen und verlangt daher die
Abklärung des Vorliegens eines Geburtsgebrechens unter Miteinbezug des
nachträglich eingereichten Gebisses.

3.
Im bisherigen Verfahren wurde im Wesentlichen die Frage des Vorliegens eines
Geburtsgebrechens geprüft und dessen rechtsgenüglicher Nachweis verneint.
Diesbezüglich kann auf die zutreffenden Ausführungen des kantonalen Gerichts
verwiesen werden. Fraglich ist dabei höchstens, ob das nach Abschluss des
vorinstanzlichen Schriftenwechsels aufgefundene Gebiss nachträglich in die
Abklärungen über das Bestehen eines Geburtsgebrechens hätte einbezogen werden
müssen. Darauf braucht jedoch nicht näher eingegangen zu werden, da im
konkreten Fall angesichts der in Erw. 1.2 zitierten jüngsten Rechtsprechung
des Eidgenössischen Versicherungsgerichts diese Frage nicht abschliessend
beantwortet werden muss. Selbst wenn nämlich im heutigen Zeitpunkt noch mit
dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen werden
könnte, dass der Beschwerdeführer in seiner Kindheit und Jugendzeit am
Geburtsgebrechen Prognathia inferior congenita gelitten hat, bestünde für die
von Dr. med. dent. I.________ vorgeschlagene zahnärztliche Behandlung keine
Leistungspflicht der obligatorischen Krankenpflegeversicherung. Im Zeitpunkt
der Diagnosestellung durch Dr. med. dent. I.________ war der Beschwerdeführer
53-jährig. Keinesfalls kann eine Behandlung in diesem Alter als "durch ein
Geburtsgebrechen bedingte nach dem 20. Lebensjahr notwendige zahnärztliche
Behandlung" im Sinne von Art. 19a Abs. 1 lit. a KLV bezeichnet werden. Sinn
und Zweck dieser Bestimmung ist es nämlich, zu ermöglichen, dass Behandlungen
unter dem Gesichtspunkt der Wirksamkeit im aus medizinischer Sicht richtigen
Zeitpunkt vorgenommen werden können. Wie den Materialien zu entnehmen ist,
sollen Behandlungen von Geburtsgebrechen im Kiefer- und Gesichtsbereich
grundsätzlich so geplant und durchgeführt werden, dass sie bis zur Vollendung
des 20. Altersjahres und somit bis zum Ende der Leistungspflicht der
Invalidenversicherung abgeschlossen werden können. In einem Teil der Fälle
kollidiert aber diese Altersgrenze mit medizinischen Erfordernissen wie auch
mit dem minimal vorausgesetzten Entwicklungsstand bezüglich Skelettwachstum
und/oder Zahnentwicklung als Vorbedingung für gewisse Massnahmen. So können
gerade bei der Prognathia inferior congenita die skelettal begründeten
Kieferstellungsanomalien erst dann mit Aussicht auf bleibenden Erfolg
korrigiert werden, wenn der pubertäre Wachstumsschub abgeschlossen ist
(Stellungnahme der Schweizerischen Zahnärzte-Gesellschaft SSO vom 5. Juli
1996 und Protokoll der Eidgenössischen Fachkommission für allgemeine
Leistungen der Krankenversicherung [ELK], Sitzung vom 29. August 1996). Sind
diese Voraussetzungen einmal erfüllt, liegt dann aber von der medizinischen
Indikation her der richtige Zeitpunkt für die Durchführung und für den
Abschluss der zahnärztlichen oder kieferchirurgischen Behandlung eines
Geburtsgebrechens vor. Wird damit über Jahre oder gar Jahrzehnte zugewartet,
ist die Notwendigkeit der zahnärztlichen Behandlung im Sinne der erwähnten
Verordnungsbestimmung nicht mehr gegeben und die Leistungspflicht der
obligatorischen Krankenpflegeversicherung für eine durch ein Geburtsgebrechen
bedingte zahnärztliche Behandlung zu verneinen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich und dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt.

Luzern, 21. Juli 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin:
i.V.