Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 98/2003
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I 98/03

Urteil vom 5. Dezember 2003
IV. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Ferrari; Gerichtsschreiber
Hochuli

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

Concordia Schweizerische Kranken- und Unfallversicherung, Bundesplatz 15,
6003 Luzern, Beschwerdegegnerin,

betreffend A.________, 1942,

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 20. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1942 geborene, als vollamtlicher Richter am Gericht Z.________
(nachfolgend: Arbeitgeberin) berufstätige A.________ litt unter beidseitigem
grauem Star, rechts mehr als links, weshalb er sich am 17. April 2000 bei der
IV-Stelle des Kantons St. Gallen (nachfolgend: IV-Stelle) zum Leistungsbezug
anmeldete. Die Invalidenversicherung übernahm die am 7. Dezember 1999
durchgeführte Kataraktoperation rechts einschliesslich Nachbehandlung als
medizinische Eingliederungsmassnahme (Verfügung vom 23. Mai 2000). Auf
erneutes Leistungsgesuch hin lehnte die IV-Stelle mit Verfügung vom 7. Mai
2002 die Übernahme der linksseitigen Staroperation vom 17. Dezember 2001 als
medizinische Massnahme ab, weil der Versicherte für die Ausübung seiner
Erwerbstätigkeit nicht auf Binokularsehen angewiesen sei.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde der CONCORDIA Schweizerische Kranken- und
Unfallversicherung (nachfolgend: CONCORDIA oder Beschwerdegegnerin;
obligatorische Krankenpflegeversicherung des A.________) hiess das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 20. Januar 2003
gut, hob die angefochtene Verwaltungsverfügung auf und bejahte den Anspruch
des Versicherten auf Übernahme der Kataraktoperation links einschliesslich
Nachbehandlung als medizinische Eingliederungsmassnahme zu Lasten der
Invalidenversicherung.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) die Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids.

Während die IV-Stelle auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, trägt die CONCORDIA auf Abweisung derselben. A.________ verzichtet
auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die Voraussetzungen des
Anspruchs auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und
den Anspruch auf medizinische Massnahmen im Besonderen (Art. 12 Abs. 1 IVG)
zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die Ausführungen dazu, dass die
Übernahme der Staroperation als medizinische Eingliederungsmassnahme im Sinne
von Art. 12 Abs. 1 IVG grundsätzlich in Frage kommt (AHI 2000 S. 299 Erw. 2a
mit Hinweisen) und - mit Blick auf das vom BSV herausgegebene Kreisschreiben
über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung
(insbesondere Rz 37 KSME) - Verwaltungsweisungen für das
Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich, sondern nur soweit zu
berücksichtigen sind, als sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht
werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen (BGE
127 V 61 Erw. 3a, 126 V 68 Erw. 4b, 427 Erw. 5a, 125 V 379 Erw. 1c, je mit
Hinweisen). Darauf wird verwiesen.

Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass Art. 12 IVG namentlich die
gegenseitige Abgrenzung der Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung
einerseits sowie der Kranken- und Unfallversicherung andererseits bezweckt
(BGE 104 V 81 Erw. 1 mit Hinweis) und dass eine Kataraktoperation an einem
Auge bei erhaltener Sehfähigkeit des anderen Auges nur dann von der
Invalidenversicherung übernommen werden kann, wenn der Defekt die versicherte
Person dermassen in der Ausübung ihrer Erwerbstätigkeit behindert, dass ohne
Durchführung des Eingriffs die Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt
wäre (AHI 2000 S. 296 f. Erw. 4b).

1.2 Anzufügen bleibt, dass am 1. Januar 2003 das Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in
Kraft getreten ist. Mit ihm sind zahlreiche Bestimmungen im
Invalidenversicherungsbereich geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht
grundsätzlich diejenigen Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung
des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw.
1), und weil ferner das Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines
Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen
Verfügung (hier: vom 7. Mai 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121
V 366 Erw. 1b), sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002
geltenden Bestimmungen anwendbar.

2.
Fest steht, dass bei A.________ keine erheblichen krankhaften Nebenbefunde
vorhanden sind, welche die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des
Eingliederungserfolgs in Frage zu stellen vermögen (BGE 101 V 47 f. Erw. 1b,
97 f. Erw. 2b, 103 Erw. 3; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b mit Hinweisen).
Unbestritten ist ferner, dass das Alter des Versicherten - er befand sich im
massgebenden Zeitpunkt des Verfügungserlasses (7. Mai 2002) in seinem 60.
Lebensjahr - der Übernahme der Staroperation vom 17. Dezember 2001 durch die
Invalidenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Dauerhaftigkeit des zu
erwartenden Eingliederungserfolges nicht entgegen steht (BGE 101 V50 Erw.
3b).

3.
Das kantonale Gericht vertrat die Auffassung, bei einem korrigierten
Fernvisus von 1,0 rechts würden die infolge des grauen Stars am linken Auge
auftretenden Blendeffekte bei dem als Richter während mehreren Stunden
täglich mit Bildschirmarbeit beschäftigten Versicherten zu einer unmittelbar
drohenden Invalidität führen. Dagegen wendet das BSV ein, beim Blendeffekt
handle es sich um ein Phänomen, welches unterschiedlich wahrgenommen werde,
mithin ein subjektives Gefühl. Als besonders störend würden Sonnenstrahlen
und Scheinwerferlicht bei Nacht erlebt. Einem allfälligen Blendeffekt könne
mit zumutbaren Schutzmassnahmen wie Blenden, Abdecken des Auges, Filtern oder
Umstellen des Bildschirms entgegen gewirkt werden. Sogar Dr. med. B.________
von der Klinik für Augenkrankheiten des Spitals Y.________ habe in seinem
Bericht vom 31. Januar 2002 ausdrücklich bestätigt, dass die berufliche
Tätigkeit des Versicherten kein beidseitiges Sehen erfordere, jedoch ein
funktionierendes Binokularsehen die Arbeit erleichtere. Aus medizinischer
Sicht habe die Indikation zur Durchführung der Kataraktoperation auch am
linken Auge zweifellos bestanden. Die Beschwerdegegnerin leitet im
Wesentlichen aus Rz 37 KSME ab, dem Versicherten stehe ein Anspruch auf
Übernahme der linksseitigen Staroperation durch die Invalidenversicherung zu,
weil er Bildschirmarbeit zu leisten habe und dabei - ohne diese medizinische
Vorkehr - durch Blendeffekte beeinträchtigt gewesen wäre. Implizit macht die
CONCORDIA somit geltend, A.________ sei zur Ausübung seiner Erwerbstätigkeit
auf binokulares Sehen angewiesen.

Zu prüfen ist demnach, ob gestützt auf die vorliegenden Akten die Frage nach
der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte
Tätigkeit des Versicherten beantwortet werden kann.

3.1 Das Eidgenössische Versicherungsgericht präzisierte seine Rechtsprechung
zur Übernahme der Kataraktoperation am zweiten Auge (vgl. AHI 2000 S. 294) im
Urteil D. vom 24. Juli 2003 (I 29/02) dahingehend, dass die Staroperation am
zweiten Auge (nach erfolgter Übernahme am ersten Auge) - bei Erfüllung der
übrigen Voraussetzungen nach Art. 12 Abs. 1 IVG - nur dann als medizinische
Eingliederungsmassnahme durch die Invalidenversicherung zu übernehmen ist,
wenn aufgrund detaillierter Ermittlung der Tätigkeiten im Rahmen des
ausgeübten Berufes für die visuell anspruchvollste dieser Tätigkeiten die
Notwendigkeit des Binokularsehens aus augenärztlicher Sicht bejaht wird. In
denjenigen Berufen, in welchen besondere medizinische Mindestanforderungen an
die Sehfähigkeit ausdrücklich normiert sind, ist auf diese Visusgrenzwerte
abzustellen, so dass sich in erwerblicher Hinsicht eine detaillierte
Ermittlung der verschiedenen Tätigkeitsanteile erübrigt.

3.2 In visueller Hinsicht ist das Tätigkeitsspektrum des als Richter
berufstätigen Versicherten gerichtsnotorisch bekannt und besteht im
Wesentlichen aus dem Aktenstudium, der Lektüre von Fachliteratur, der
Teilnahme an Gerichtsverhandlungen sowie dem Verfassen von Texten. Dabei
bestätigte er auf Wunsch der Beschwerdegegnerin, täglich während mehreren
Stunden Bildschirmarbeit zu leisten und zur Überwindung seines Arbeitsweges
auf die Benutzung eines Personenwagens angewiesen zu sein. Darauf ist
abzustellen.

3.3 Steht fest, welches die visuell anspruchvollste Tätigkeit des A.________
ist, hat die IV-Stelle gemäss Präzisierungen im Urteil D. vom 24. Juli 2003
(I 29/02) einen fachärztlichen Bericht zur diesbezüglichen Notwendigkeit des
Binokularsehens einzuholen, der nicht allein auf die subjektiven Angaben des
Versicherten abstellt, sondern vielmehr für die streitigen Belange umfassend
ist, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten
(Anamnese) abgegeben wird und der konkreten medizinischen Situation Rechnung
trägt (vgl. dazu BGE 125 V 353 Erw. 3a). Soweit der einseitige Ausfall der
Sehfähigkeit durch Angewöhnung an den Verlust des stereoskopischen Sehens
zumutbarerweise kompensiert werden kann (vgl. z.B. die viermonatige
Wartefrist nach dem Verlust eines Auges in der Führerausweis-Kategorie B
gemäss Anhang 1 zur Verordnung vom 27. Oktober 1976 über die Zulassung von
Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr [VZV; SR 741.51]), hat dies der
Augenarzt im Einzelfall zu berücksichtigen und dazu Stellung zu nehmen.
Zusätzlich wird er die Frage betreffend die Auswirkungen von störenden
Blendeffekten beantworten müssen. Können störende Blendeffekte oder andere
einseitige Sehfähigkeitsbeeinträchtigungen im Zusammenhang mit
Bildschirmarbeit durch Abdecken eines Auges vermieden werden, stellt diese
Vorkehr eine dem Eingliederungszweck angemessene, zweckmässige und zumutbare
Massnahmen dar, welche gegebenenfalls als realistische Alternative im
Vergleich zur Übernahme einer Staroperation als medizinische
Eingliederungsmassnahme in Frage kommt (Urteil B. vom 30. September 2003, I
14/03). Erfolgt die augenärztliche Beurteilung dieser Fragen - wie hier -
erst nach bereits durchgeführter Operation, sind sie medizinisch prognostisch
aufgrund der Verhältnisse vor der fraglichen Operation (AHI 2000 S. 299 Erw.
2b mit Hinweisen) zu beantworten, wobei es zur Aufgabe des Arztes oder der
Ärztin gehört, dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich
welcher Tätigkeiten die versicherte Person ohne die am 17. Dezember 2001
durchgeführte Kataraktoperation links arbeitsunfähig geworden wäre (vgl. BGE
125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen).

3.4 Der Bericht des Dr. med. B.________ vom 31. Januar 2002 genügt den
dargelegten praxisgemässen (Erw. 3.3 hievor) Anforderungen an die
medizinische Beurteilung der Notwendigkeit des Binokularsehens nicht. Obwohl
der Augenarzt die Frage nach der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug
auf die ausgeübte berufliche Tätigkeit verneinte und betreffend das
Erfordernis der Wesentlichkeit einer möglichen Steigerung der
Arbeitsfähigkeit durch die Staroperation einschränkend festhielt,
Verbesserungspotential bestehe "in erster Linie subjektiv" in einer
Eliminierung der Blendeffekte, unterliess er es, differenziert zu den
erforderlichen Aspekten der Notwendigkeit des Binokularsehens (Erw. 3.3
hievor) Stellung zu nehmen. Insbesondere fehlt es an einer Beantwortung der
Frage, in Bezug auf welche Tätigkeiten der Versicherte nach Angewöhnung und
Anpassung an den funktionellen Verlust eines Auges - unter Berücksichtigung
der Zumutbarkeit des Abdeckens eines Auges zur Eliminierung störender
Blendeffekte (vgl. Hinweis auf das Urteil B. vom 30. September 2003, I 14/03
in Erw. 3.3 hievor) - ohne Durchführung der Staroperation links
arbeitsunfähig geworden wäre.

3.5 Fehlt es an den erforderlichen Grundlagen zur Beantwortung der Frage nach
der Notwendigkeit des Binokularsehens in Bezug auf die konkret ausgeübte
Tätigkeit des Versicherten (vgl. Erw. 3.2 hievor), sind der angefochtene
Entscheid und die Verwaltungsverfügung aufzuheben. Die Sache ist an die
IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese bei den ergänzenden Abklärungen nach
den Erwägungen Ziffer 3.1 bis 3.3 vorgehen und anschliessend über das
Leistungsgesuch betreffend die linksseitige Kataraktoperation vom 17.
Dezember 2001 neu verfügen wird.

4.
Nach Art. 134 OG darf das Eidgenössische Versicherungsgericht im
Beschwerdeverfahren über die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen den Parteien in der Regel keine Verfahrenskosten
auferlegen. Diese Bestimmung wurde vom Gesetzgeber vor allem im Interesse der
Versicherten geschaffen, die mit einem Sozialversicherer im Streit stehen
(BGE 126 V 192 Erw. 6). Rechtsprechungsgemäss findet der Grundsatz der
Unentgeltlichkeit des Verfahrens vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht
keine Anwendung, wenn sich zwei Unfallversicherer (BGE 120 V 494 Erw. 3, 119
V 223 Erw. 4c), eine Krankenkasse und ein Unfallversicherer (BGE 126 V 192
Erw. 6, AHI 1998 S. 110), die Invalidenversicherung und der Unfallversicherer
(AHI 2000 S. 206 Erw. 2) oder die Krankenkasse und die Invalidenversicherung
(Urteil L. vom 28. November 2002, I 92/02) über ihre Leistungspflicht für
einen gemeinsamen Versicherten streiten. Folglich hat die CONCORDIA als
unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 135 in Verbindung mit
Art. 156 Abs. 1 und 3 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen,
dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 20.
Januar 2003 und die Verwaltungsverfügung vom 7. Mai 2002 aufgehoben werden
und die Sache an die IV-Stelle des Kantons St. Gallen zurückgewiesen wird,
damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über das
Leistungsgesuch betreffend die am 17. Dezember 2001 durchgeführte
Staroperation am linken Auge neu verfüge.

2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der CONCORDIA Schweizerische
Kranken- und Unfallversicherung auferlegt.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse St. Gallen, der IV-Stelle des Kantons St. Gallen
und A.________ zugestellt.

Luzern, 5. Dezember 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: