Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 93/2003
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I 93/03

Urteil vom 11. Juni 2003
II. Kammer

Präsident Schön, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Frésard;
Gerichtsschreiber Ackermann

G.________, 1958, Beschwerdeführerin, vertreten durch den Rechtsdienst für
Behinderte, Bürglistrasse 11, 8002 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 17. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
G. ________, geboren 1958, seit Geburt beinahe blind und mit Hilfe der
Invalidenversicherung ab 1977 zur medizinischen Masseurin und Bademeisterin
ausgebildet, arbeitet seit 1979 als Masseurin für die S.________ AG. Mit
Schreiben vom 13. Juli 2001 beantragte sie bei der Invalidenversicherung die
Ausbildung in traditioneller chinesischer Massage und am 23. Juli 2001 die
Abgabe einer EDV-Anlage für Blinde mit geeigneter Hard- und Software sowie
eines elektronischen Notizgerätes, damit sie die beantragte Ausbildung
durchführen könne. Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach die gewünschte
EDV-Ausrüstung am 16. August 2001 zu, jedoch lehnte die Verwaltung - nachdem
sie einen Bericht des Arbeitgebers vom 19. September 2001 eingeholt und einen
Vorbescheid erlassen hatte - mit Verfügung vom 23. November 2001 die
Gewährung der Ausbildung in traditioneller chinesischer Massage ab, da es
sich dabei um eine Weiterbildung handle, für die auch ein Nichtbehinderter
selber aufkommen müsse und die deshalb nicht invaliditätsbedingt notwendig
sei.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde mit Antrag auf Übernahme der
invaliditätsbedingten Mehrkosten wies das Versicherungsgericht des Kantons
Aargau mit Entscheid vom 17. Dezember 2002 ab.

C.
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Antrag, unter
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides und der Verwaltungsverfügung sei
ihr die Ausbildung in traditioneller chinesischer Massage im Umfang der
invaliditätsbedingten Mehrkosten zu gewähren.

Die IV-Stelle schliesst sinngemäss auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherung
auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 23.
November 2001) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind im vorliegenden Fall die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden
Bestimmungen anwendbar.

2.
Die Vorinstanz hat die massgebenden Bestimmungen und Grundsätze über den
Invaliditätsbegriff (Art. 4 IVG), den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen
im Allgemeinen (Art. 8 IVG) und auf erstmalige berufliche Ausbildung im
Besonderen (Art. 16 IVG) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

Zu ergänzen ist, dass auch der Umschulungsanspruch nach Art. 17 IVG eine
Invalidität oder die unmittelbare Bedrohung durch eine solche voraussetzt
(Art. 8 Abs. 1 IVG). Als invalid im Sinne von Art. 17 IVG gilt, wer nicht
hinreichend eingegliedert ist, weil der Gesundheitsschaden eine Art und
Schwere erreicht hat, welche die Ausübung der bisherigen Erwerbstätigkeit
ganz oder teilweise unzumutbar macht. Dabei muss der Invaliditätsgrad ein
bestimmtes erhebliches Mass erreicht haben; nach der Rechtsprechung ist dies
der Fall, wenn der Versicherte in den ohne zusätzliche berufliche Ausbildung
noch zumutbaren Erwerbstätigkeiten eine bleibende oder längere Zeit dauernde
Erwerbseinbusse von etwa 20 Prozent erleidet (BGE 124 V 110 Erw. 2b mit
Hinweisen).

3.
Streitig ist der Anspruch auf Ausbildung in traditioneller chinesischer
Massage (und nicht in traditioneller chinesischer Medizin, wie es von den
Parteien und im erstinstanzlichen Entscheid fälschlicherweise angenommen
worden ist). Entgegen dem ursprünglichen Gesuch vom 13. Juli 2001 liegt
jedoch nicht mehr die gesamte Ausbildung im Streit, sondern nur noch die
Übernahme der invaliditätsbedingten Mehraufwendungen (Übertragung eines
Lehrbuches in Blindenschrift, Vorlesehilfen und Stützunterricht).

3.1  Das kantonale Gericht hat die Frage offen gelassen, ob eine
Weiterbildung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 lit. c IVG vorliegt, und den
Ausbildungsanspruch deshalb verneint, weil die Versicherte jetzt und auch in
absehbarer Zukunft ein rentenausschliessendes Einkommen erzielen könne und
deshalb keine invaliditätsbedingte Notwendigkeit der Ausbildung vorliege. Die
Beschwerdeführerin ist demgegenüber der Ansicht, dass medizinische Masseure
in Zukunft mit erheblichen Problemen konfrontiert seien, da ein starker Trend
zu aktiven Behandlungsformen (Physiotherapie) sowie zunehmende
Schwierigkeiten bei der Abrechnung mit der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung bestünden; angesichts dessen sei die berufliche
Weiterbildung im zukunftsträchtigen Bereich der Alternativmedizin notwendig,
um die Erwerbsfähigkeit zu verbessern resp. überhaupt zu erhalten.

3.2  Eine Beitragsgewährung auf der Grundlage des Art. 16 Abs. 1 IVG fällt
vorliegend ausser Betracht, weil die Ausbildung in traditioneller
chinesischer Massage der seit 1979 auf ihrem gelernten Beruf als
medizinischer Masseurin tätigen Versicherten offensichtlich keine erstmalige
berufliche Ausbildung darstellt.

3.3  Ebenso ist ein Anspruch auf Beiträge an eine berufliche Neuausbildung
gemäss Art. 16 Abs. 2 lit. b IVG zu verneinen. Die Leistungsgewährung
gestützt auf diese Bestimmung setzt nämlich voraus, dass der Versicherte nach
Eintritt der Invalidität eine ungeeignete und auf die Dauer unzumutbare
Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, wobei die Unzumutbarkeit unmittelbar durch
das Leiden im Sinn des Art. 4 Abs. 1 IVG verursacht sein muss (AHI 1998 S.
117 Erw. 3b mit Hinweis). Diese Voraussetzung ist vorliegend nicht erfüllt,
da der Beschwerdeführerin aufgrund ihres Gesundheitsschadens die Ausübung der
bisherigen Tätigkeit als medizinische Masseurin weiterhin zumutbar ist.

3.4  Im Weiteren scheidet auch die Gewährung von Beiträgen gemäss Art. 16
Abs. 2 lit. c IVG aus. Nach der Rechtsprechung ist unter dem Begriff der
Weiterausbildung gemäss Art. 16 Abs. 2 lit. c IVG jene Berufsbildung zu
verstehen, welche die im Wesentlichen bereits erworbenen Kenntnisse eines
Berufes im Hinblick auf ein Ziel innerhalb derselben Berufsart weiter
ausbaut; es muss sich um die Fortsetzung oder Vervollkommnung einer
erstmaligen Berufsbildung handeln. Demgemäss stellt eine Berufsschulung, die
auf ein wesentlich anderes berufliches Endziel als die ursprüngliche
Ausbildung gerichtet ist, keine Weiterausbildung, sondern eine Umschulung im
Sinne von Art. 17 IVG dar (AHI 1998 S. 118 Erw. 3b mit Hinweisen). Die
traditionelle chinesische Massage ist ein eigenständiger Beruf, dessen
Erlernung keine medizinische Vorbildung voraussetzt und sich demzufolge an
Neulinge der traditionellen chinesischen Massage ohne medizinische
Grundausbildung, Masseure, Arztgehilfinnen, Krankenschwestern und Therapeuten
der Komplementärmedizin richtet. Obwohl - wie Vorinstanz und
Beschwerdeführerin zu Recht festhalten - sowohl die medizinische wie die
traditionelle chinesische Massage Berufe im Dienst der Heilkunst am Menschen
sind, handelt es sich dennoch um zwei verschiedene Berufe mit
unterschiedlichen Ausbildungswegen, da die traditionelle chinesische Massage
zum Bereich der Alternativ- resp. Komplementärmedizin gehört, während die
medizinische Massage Teil der klassischen Schulmedizin ist (so werden diese
beiden Bereiche der Heilkunst am Menschen denn auch in der obligatorischen
Krankenpflegeversicherung voneinander unterschieden; vgl. Ziff. 10 des
Anhangs 1 zur Krankenpflege-Leistungsverordnung sowie auch Art. 37d Abs. 2
lit. a und 37e Abs. 2 lit. b KVV). Somit stellt die Ausbildung in
traditioneller chinesischer Massage nicht die Fortsetzung oder
Vervollkommnung der erstmaligen Berufsausbildung als medizinische Masseurin
und damit keine Weiterbildung im Sinne des Art. 16 Abs. 2 lit. c IVG dar,
dies beispielsweise im Unterschied zum nicht veröffentlichten Urteil R. vom
16. November 1994, I 249/94, in welchem eine Weiterbildung angenommen worden
ist, als sich ein angelernter Koch zum gelernten Koch ausbilden lassen
wollte. Dagegen liegt hier - obwohl es sich um zwei Berufe im
Gesundheitsbereich handelt - eher eine Fallkonstellation analog zu BGE 96 V
33 Erw. 3 vor, als sich ein kaufmännischer Angestellter zum Sozialarbeiter
hatte ausbilden lassen wollen, wofür - wie im vorliegenden Fall - die
erworbene Grundausbildung jedoch nicht notwendig gewesen ist.

3.5  Der Anspruch auf Umschulung gemäss Art. 17 IVG scheitert aber daran,
dass die Versicherte in ihrer bisherigen Tätigkeit als medizinische Masseurin
ein rentenausschliessendes Einkommen erzielen kann, und die nach der
Rechtsprechung für die Umschulung notwendige Erwerbseinbusse von etwa 20
Prozent (BGE 124 V 110 Erw. 2b mit Hinweisen) weder vorliegt noch unmittelbar
droht, auch wenn - wie in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erwähnt - der
Berufsstand der medizinischen Masseure davon ausgeht, später einmal mit
Problemen konfrontiert zu sein.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 11. Juni 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: