Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 88/2003
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I 88/03

Urteil vom 17. Mai 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Durizzo

H.________, 1954, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. André
Largier, Sonneggstrasse 55, 8006 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, Winterthur

(Entscheid vom 4. Dezember 2002)

Sachverhalt:

A.
H. ________, geboren 1954, arbeitete seit 1990 als selbstständige
Werbeberaterin, als sie am 16. Dezember 1995 bei einer Auffahrkollision ein
Schleudertrauma der Halswirbelsäule erlitt. Am 2. Juli 1998 meldete sie sich
bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Rente) an. Mit Verfügung
vom 10. April 2000 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons Zürich ab 1. März
1999 eine halbe IV-Rente zu.

Auf das vom Hausarzt unterstützte Gesuch um berufliche Massnahmen hin zog die
IV-Stelle die aktuellen Unfallakten bei und traf erneut erwerbliche
Abklärungen. Mit Verfügung vom 12. Juni 2002 stellte sie fest, dass die
Versicherte in ihrem angestammten Beruf bereits seit geraumer Zeit wieder
voll arbeitsfähig sei und ein entsprechendes Erwerbseinkommen erzielen könne,
und hob die Invalidenrente auf. Die Umschulung zur Naturheilpraktikerin
lehnte sie mit Verfügung vom 11. Juni 2002 ab.

B.
Gegen beide Verfügungen erhob H.________ Beschwerde, welche das
Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 4. Dezember
2002 abwies.

C.
H.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Begehren um
Zusprechung der beantragten beruflichen Massnahme sowie Ausrichtung der
bisher gewährten halben Invalidenrente (bzw. gegebenenfalls des höheren
Taggeldes).

Während die IV-Stelle des Kantons Zürich auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für
Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Begriff der
Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG; BGE 116 V 249 Erw. 1b), zu den
Voraussetzungen und zum Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis
IVG), zur Rentenrevision (Art. 41 IVG; BGE 125 V 369 Erw. 2 mit Hinweis), zum
Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen im Allgemeinen (Art. 8 Abs. 1 IVG) und
auf Umschulung im Besonderen (Art. 17 IVG), zur Aufgabe des Arztes im Rahmen
der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen) sowie zum
Beweiswert von ärztlichen Berichten (BGE 122 V 160 f. Erw. 1c; vgl. auch BGE
125 V 352 Erw. 3a) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist,
dass das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 im
vorliegenden Fall nicht anwendbar ist, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des
Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 11./12. Juni 2002) eingetretene
Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht
berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).

2.
Streitig sind der Anspruch auf Umschulung und die Frage der Weiterausrichtung
der halben Invalidenrente. Nach dem Grundsatz "Eingliederung vor Rente" (BGE
126 V 243 Erw. 5; AHI 2001 S. 154 Erw. 3b; vgl. auch Meyer-Blaser, Die
Tragweite des Grundsatzes "Eingliederung vor Rente", in René
Schaffhauser/Franz Schlauri [Hrsg.], Rechtsfragen der Eingliederung
Behinderter, St. Gallen 2000, S. 21 ff.) ist die Frage der Umschulung vorab
zu klären. Nicht Gegenstand des Verfahrens ist das allfällige Taggeld während
der Eingliederung.

3.
Die Vorinstanz hat eine Arbeitsunfähigkeit sowie eine Invalidität und damit
den Anspruch auf Umschulung verneint. Die medizinische Aktenlage ist indessen
widersprüchlich.

3.1 Die Ärzte des Spitals U.________, Rheumaklinik und Institut für
Physikalische Medizin, auf deren vom Unfallversicherer eingeholtes Gutachten
vom 11. Oktober 2001 sich das kantonale Gericht gestützt hat, nehmen eine
Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit an bezüglich körperlich schwereren
Arbeiten oder in Tätigkeiten, die in einer andauernden unergonomischen
Arbeitsposition, die längere Zeit nicht gewechselt werden kann, verrichtet
werden müssen. In jeder wechselbelastenden Tätigkeit, bei der kein
repetitives Heben oder Tragen von Gewichten über 15 kg notwendig sei, sei die
Versicherte nicht beeinträchtigt. Den angestammten Beruf der selbstständigen
Werbeberaterin erachteten sie als leidensangepasste Tätigkeit und
attestierten dementsprechend keine Arbeitsunfähigkeit. Dabei berücksichtigten
sie, dass die Beschwerdeführerin ihr gesamtes Tätigkeitsfeld etwa hälftig (je
50 %) auf berufliche und Haushaltstätigkeit verteile.

3.2 Der Hausarzt Dr. med. G.________ ging in seinem Bericht vom 5./7. Januar
2002 davon aus, dass länger dauernde (mehr als 30 Minuten) stereotype
Körperhaltungen zu vermeiden seien. Des Weiteren gab er an, dass die
Versicherte bei Schmerzen in ihrem Konzentrationsvermögen eingeschränkt sei.
Im angestammten Beruf sei sie weiterhin im Umfang von 50 % arbeitsfähig. Er
sei jedoch überzeugt, dass sie in einem anderen Beruf ohne stereotype
Körperhaltung z.B. vor dem Computer, ohne häufige Autofahrten,
Präsentationen, Transport von Druckmaterialien, voll arbeitsfähig wäre. Das
Gesuch um Umschulung hatte er am 26. Oktober 2001 unterstützt mit der
Begründung, dass es vor dem Bildschirm zu invalidisierenden Schmerzen auf
Grund des Cervikal-Syndroms mit Verspannungen der Schulter- und
Nacken-Muskulatur und cerviko-oczipitalen Kopfschmerzen komme. Längeres
Autofahren, Einsteigen, Aussteigen, Einladen und Ausladen von
Präsentations-Material oder Druck-Unterlagen würden die Beschwerden massiv
verstärken, insbesondere im lumbalen Bereich bei einer objektivierten
Diskushernie. Der Beruf der Naturheilpraktikerin sei den Behinderungen der
Beschwerdeführerin bedeutend besser angepasst als der bisherige Beruf.

3.3 Unter diesen Umständen können die Stellungnahmen des Hausarztes, der sich
spezifisch zur Umschulung äusserte, entgegen der Auffassung der Vorinstanz
nicht unbeachtlich bleiben. Der Sachverhalt ist jedoch nur ungenügend
abgeklärt. Dies gilt zunächst in medizinischer Hinsicht, denn es ist aufgrund
der Akten unklar, welche Arbeiten der Beschwerdeführerin noch in welchem
Umfang zumutbar sind. Einigkeit besteht darin, dass der Versicherten die
angestammte Tätigkeit, welche sie noch zu 50 % ausübt, zumutbar ist. Dagegen
widersprechen sich Gutachter und Hausarzt in der Frage, ob sie dieser
Tätigkeit auch mit einem grösseren Pensum nachgehen könnte. Diese Frage wird
abzuklären sein. Des Weiteren wird zu prüfen sein, ob die Versicherte ihre
Arbeitsfähigkeit in einer anderen beruflichen Tätigkeit steigern könnte.
Schliesslich steht nicht fest, ob die Beschwerdeführerin auch als Gesunde nur
noch zu 50 % oder wie vor dem Unfall zu 100 % erwerbstätig wäre. Die
IV-Stelle wird nach den entsprechenden Abklärungen über den Anspruch auf
Umschulung sowie auf eine Invalidenrente neu verfügen müssen. Dabei wird sie
in Betracht ziehen, dass der Anspruch auf Umschulung rechtsprechungsgemäss
einen Invaliditätsgrad von mindestens 20% voraussetzt (BGE 124 V 111 Erw. 2b;
AHI 2000 S. 61, je mit Hinweisen), wobei im Rahmen der gemischten Methode
Erwerbs- und Haushaltsbereich strikt zu trennen sind, die Umschulung nur
direkte Auswirkungen auf den Erwerbsbereich haben kann (vgl. BGE 124 V 110
Erw. 2b) und der Mindestinvaliditätsgrad einzig im Erwerbsbereich - und nicht
bezüglich der Gesamtinvalidität - erfüllt sein muss (Urteil G. vom 6.
Dezember 2001, I 190/01). Gegebenenfalls ist zu prüfen, ob die beantragte
Umschulung zur Naturheilpraktikerin geeignet und erforderlich ist, die
Erwerbsfähigkeit voraussichtlich zu erhalten oder wesentlich zu verbessern.
Dabei ist zu beachten, dass der Versicherten rechtsprechungsgemäss eine
einkommensmässig der früheren annähernd gleichwertige Erwerbsmöglichkeit
vermittelt werden soll und in der Regel nur ein Anspruch auf die dem
jeweiligen Eingliederungszweck angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht
aber auf die nach den gegebenen Umständen bestmöglichen Vorkehren besteht
(BGE 124 V 109 Erw. 2a mit Hinweisen).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 4. Dezember
2002 und die Verfügungen der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 11. und 12.
Juni 2002 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen
wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den
Anspruch auf Umschulung und Invalidenrente neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons
Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 17. Mai 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: