Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 87/2003
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I 87/03

Urteil vom 25. Mai 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiberin Keel Baumann

IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, 1954, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr.
H.________,

AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau, Weinfelden

(Entscheid vom 20. Januar 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1954 geborene S.________ leidet an einer Hüftdysplasie beidseits bei
Status nach intertrochanterer Osteotomie im Jahre 1989. Wegen zunehmender
Schmerzen in der linken Hüfte bei progredienter Arthrose wurde der
Versicherten am 5. Februar 2002 eine Totalendoprothese eingesetzt. Das von
S.________ gestellte Gesuch um Übernahme des Eingriffs lehnte die IV-Stelle
des Kantons Thurgau ab mit der Begründung, dass es sich bei der
Endoprothesenoperation nicht um eine medizinische Eingliederungsmassnahme
handle (Verfügung vom 5. September 2002).

B.
Die von S.________ hiegegen eingereichte Beschwerde hiess die
AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 20. Januar 2003
in dem Sinne gut, dass sie die angefochtene Verfügung aufhob und die Sache im
Sinne der Erwägungen zu weiteren Abklärungen und anschliessendem Erlass einer
neuen Verfügung an die Verwaltung zurückwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die IV-Stelle des Kantons Thurgau
die Aufhebung des kantonalen Entscheides.

S. ________, die sich (wie bereits im kantonalen Verfahren) durch ihren
Ehemann vertreten lässt, schliesst auf Abweisung und das Bundesamt für
Sozialversicherung (BSV) auf Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Bereich der Invalidenversicherung
geändert worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen
führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), sind die neuen
Bestimmungen hier nicht anwendbar (BGE 129 V 4 Erw. 1.2).
1.2 Im angefochtenen Entscheid werden die Voraussetzungen für die Übernahme
medizinischer Massnahmen durch die Invalidenversicherung im Allgemeinen (Art.
12 Abs. 1 IVG; BGE 120 V 279 Erw. 3a mit Hinweisen; vgl. auch AHI 1999 S. 126
Erw. 2b mit Hinweisen, SVR 2004 IV Nr. 13 S. 37 Erw. 1.1) zutreffend
dargelegt. Ebenfalls richtig ist der Hinweis, dass Coxarthrose-Operationen
(namentlich Total-Endoprothesen) rechtsprechungsgemäss als medizinische
Eingliederungsmassnahmen zu übernehmen sind, sofern sie den
pathologisch-anatomischen Zustand des Skeletts als Ursache der
unphysiologischen Beanspruchung und die sekundären Symptome dauerhaft
sanieren, wobei in diesen Fällen strenge Anforderungen an die übrigen
Voraussetzungen - die Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des angestrebten
Eingliederungserfolges - zu stellen sind (BGE 101 V 48). Darauf wird
verwiesen.

1.3 Dauernd im Sinne von Art. 12 Abs. 1 IVG ist der von einer medizinischen
Eingliederungsmassnahme zu erwartende Eingliederungserfolg, wenn die konkrete
Aktivitätserwartung gegenüber dem statistischen Durchschnitt nicht wesentlich
herabgesetzt ist. Diesbezüglich kann nunmehr auf die Angaben in der 5.
Auflage der Barwerttafeln Stauffer/Schaetzle (Zürich 2001) abgestellt werden,
welche auf den tatsächlichen Erfahrungen der Invalidenversicherung beruhen
(BGE 101 V 50 Erw. 3b mit Hinweisen; AHI 2000 S. 298 Erw. 1c).

Bei jüngeren Versicherten wäre es unbillig und wirklichkeitsfremd, die
erforderliche Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges eng an die
Aktivitätsperiode, mit welcher der Versicherte nach der statistischen
Wahrscheinlichkeit rechnen kann, binden zu wollen. Denn es geht nicht an,
einer medizinischen Massnahme die vom Gesetz verlangte Dauerhaftigkeit des
Eingliederungserfolges nur deshalb abzusprechen, weil die statistische
Aktivitätserwartung des Versicherten weit über die Zeitspanne hinausgeht, für
die sich aus medizinischer Sicht selbst bei günstigen Voraussetzungen ein
Dauererfolg überhaupt prognostizieren lässt. Daher ist bei jüngeren
Versicherten im Gegensatz zu kurz vor dem AHV-Rentenalter stehenden
Versicherten der Eingliederungserfolg voraussichtlich dauernd, wenn er
wahrscheinlich während eines bedeutenden Teils der Aktivitätserwartung
erhalten bleiben wird (BGE 104 V 83 Erw. 3b mit Hinweisen; AHI 2000 S. 298
Erw. 1c).

1.4 In Bezug auf Hüftgelenksprothesen entschied das Eidgenössische
Versicherungsgericht in BGE 101 V 43 gestützt auf ein von Prof. Dr. med.
T.________ erstattetes Grundsatzgutachten, dass selbst bei sonst günstigen
Voraussetzungen ein unter dem Gesichtspunkt von Art. 12 IVG relevanter
Eingliederungserfolg kaum auf eine fünf Jahre wesentlich übersteigende Dauer
prognostiziert werden dürfe. In BGE 106 V 80 wurde diese Rechtsprechung
ausdrücklich bestätigt unter Hinweis auf den Bericht einer vom
Eidgenössischen Departement des Innern im Jahre 1979 eingesetzten, unter dem
Vorsitz von Prof. Dr. med. Schär stehenden Arbeitsgruppe (publiziert in ZAK
1980 S. 201 ff.), gemäss welchem Endoprothesen-Operationen des Hüftgelenkes
in der Regel keine medizinische Eingliederungsmassnahme der
Invalidenversicherung sind und die medizinischen Eingliederungserfolge zwar
an sich beachtlich sind, doch die berufliche Eingliederung wesentlich
schlechter verläuft, als es die medizinischen Ergebnisse erwarten lassen (ZAK
1980 S. 208). An dieser Rechtsprechung wurde in den nicht veröffentlichten
Urteilen T. vom 5. Juli 1982, I 286/81, und W. vom 29. April 1983, I 12/83,
festgehalten.

Im nicht veröffentlichten Urteil G. vom 7. März 1985, I 532/84, wurde
ausgeführt, dass sich die von Prof. Dr. med. T.________ gezogenen
Schlussfolgerungen nicht mit dem Hinweis darauf entkräften liessen, dass die
neueren künstlichen Hüftgelenke mehr leisteten. Es sei zwar nicht zu
übersehen, dass es - neben den vielen aktenkundigen Fällen von Misserfolgen -
auch Totalprothesenoperationen gäbe, die einen grösseren medizinischen Erfolg
ergeben hätten oder die dank neuerer Methoden möglicherweise zu einem
besseren Eingliederungserfolg führen könnten. Die Rechtsprechung stelle
jedoch mangels prognostischer Beweiskraft im Einzelfall auf den heute
erhältlichen statistischen Durchschnittswert ab und begrenze den
prognostischen Eingliederungserfolg von Hüftgelenksprothesen
invalidenversicherungsrechtlich auf die in BGE 101 V 51 umschriebene Dauer.

Nachdem das Gericht im nicht veröffentlichten Urteil B. vom 27. September
1991, I 76/91, erneut an der in BGE 101 V 51 umschriebenen Dauer der
Eingliederungswirksamkeit festgehalten hatte, lehnte es im Jahre 1993 ein
Abgehen von diesen Grundsätzen und die Einholung eines ergänzenden Gutachtens
bei einem Arzt oder einer Klinik mit langjähriger Erfahrung mit zementfrei
implantierten Prothesen erneut ab, dies mit der Begründung, der
Beobachtungszeitraum für die neuen Implantate sei zu kurz, um über
verlässliche, auch statistisch hinreichend untermauerte Angaben zum
Behandlungs- und Eingliederungserfolg zu verfügen (nicht veröffentlichtes
Urteil S. vom 17. Juni 1993, I 333/92). Daran wurde auch in der Folge
festgehalten (nicht veröffentlichtes Urteil D.S. vom 30. Dezember 1993, I
180/93; in RDAT 1994 II Nr. 90 S. 179 publiziertes Urteil S. vom 30. März
1994, I 250/93).

2.
2.1 Im Zeitpunkt der Hüfttotalendoprothesen-Operation (5. Februar 2002) konnte
die Versicherte mit einer mittleren Aktivitätsdauer von 31.39 Jahren rechnen
(Stauffer/Schaetzle, a.a.O., Tafel 43). Streitig und zu prüfen ist, ob in
Bezug auf den Eingriff die Voraussetzung der Dauerhaftigkeit des
Eingliederungserfolges erfüllt ist.

2.2 In ihrer leistungsablehnenden Verfügung verneinte dies die IV-Stelle
unter Hinweis auf das vom BSV herausgegebene - als Verwaltungsweisung für das
Sozialversicherungsgericht nicht verbindliche (vgl. dazu BGE 129 V 205 Erw.
3.2, 127 V 61 Erw. 3a, 126 V 68 Erw. 4b, 427 Erw. 5a, je mit Hinweisen) -
Kreisschreiben über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der
Invalidenversicherung (KSME). In dessen Randziffer 732/932.5 wird in Bezug
auf Coxarthrosen festgehalten, dass das Einsetzen von Endoprothesen
unabhängig vom Alter der Versicherten angesichts der gegenwärtigen
Erfahrungen bezüglich der Dauerhaftigkeit des Erfolges keine medizinische
Eingliederungsmassnahme darstelle; dies gelte auch für die neue Generation
der zementfrei verankerten Prothesen.

2.3 Nach der von der Vorinstanz vertretenen Auffassung drängen sich bezüglich
der Frage der Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges weitere Abklärungen
auf. Zur Begründung wird ausgeführt, dass nach dem sowohl der
Verwaltungsweisung als auch der Rechtsprechung zugrunde liegenden Bericht der
Arbeitsgruppe Schär aus dem Jahre 1979 das Einsetzen von Endoprothesen des
Hüftgelenks nicht in jedem Fall, sondern nur in der Regel ausgeschlossen sei
und sich im Weitern die Frage stelle, ob auf die aus dem Jahr 1979 stammenden
medizinischen Erkenntnisse heute überhaupt noch abgestellt werden könne.

2.4 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertritt die IV-Stelle den
Standpunkt, es seien keine neuen medizinischen Erkenntnisse hinzugekommen,
welche eine Änderung der Rechtsprechung anzeigen würden.

3.
3.1 Dass sich die medizinischen Verhältnisse in Bezug auf
Hüfttotalendoprothesen seit 1975, als gestützt auf das von Prof. Dr. med.
T.________ erstattete Gutachten das in BGE 101 V 43 veröffentlichte Urteil S.
(I 7/73) erging, wesentlich verändert haben dürften, liegt auf der Hand und
kann auch von der IV-Stelle nicht ernsthaft in Abrede gestellt werden. Der im
damaligen Zeitpunkt auf 5 bis 10 Jahre veranschlagte medizinische Erfolg von
Endoprothesen-Operationen (BGE 101 V 51) wird heute offenbar nach
vorsichtigen Schätzungen - namentlich auch nach den vom BSV eingereichten
Unterlagen - mit 10 bis 15 und nach grosszügigeren Schätzungen mit 15 bis 20
Jahren beziffert. Entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
vertretenen Auffassung kann sodann nicht ohne weiteres ausgeschlossen werden,
dass sich auch die invalidenversicherungsrechtlichen Eingliederungschancen
gleichzeitig verbessert haben könnten. Nachdem das von Prof. Dr. med.
T.________ erstattete Gutachten mittlerweile fast dreissig und der Bericht
der Arbeitsgruppe Schär fünfundzwanzig Jahre zurückliegen und anzunehmen ist,
dass heute (anders noch als vor elf Jahren, als das nicht veröffentlichte
Urteil S. vom 17. Juni 1993 [I 333/92] erging) verlässliche, auch statistisch
hinreichend untermauerte Angaben zum Behandlungs- und Eingliederungserfolg
gemacht werden können, ist der Vorinstanz zuzustimmen, wenn sie weitere
medizinische Abklärungen über den invalidenversicherungsrechtlichen
Eingliederungserfolg der neueren Hüftgelenksprothesen für angezeigt hält.

3.2 Selbst wenn indessen die Dauerhaftigkeit des Eingliederungserfolges
gestützt auf die gemäss angefochtenem Entscheid vorzunehmenden medizinischen
Abklärungen grundsätzlich zu bejahen wäre, stellte sich die Frage, ob bei der
Beschwerdegegnerin nicht ein krankhafter Nebenbefund vorliegt, der
seinerseits geeignet ist, die Aktivitätserwartung der Versicherten trotz der
Operation gegenüber dem statistischen Durchschnitt wesentlich herabzusetzen
(vgl. dazu BGE 101 V 48 Erw. 1b mit Hinweisen; AHI 2000 S. 299 Erw. 2b; SVR
2004 IV Nr. 13 S. 40 Erw. 8.1). Denn wie sich aus den Akten ergibt, leidet
die Versicherte nicht nur links, sondern auch rechts an einer Hüftdysplasie
(bei Status nach Osteotomie; Berichte des Dr. med. K.________, Orthopädie,
vom 16. Februar und 10. Juli 2002). Aus diesem Grunde wird die IV-Stelle, an
welche die Sache zurückgeht, unter Umständen zusätzlich zu den bereits von
der Vorinstanz angeordneten Abklärungen ein fachärztliches Gutachten
einzuholen haben, welches darüber Aufschluss ergibt, ob dieser bekannte
Nebenbefund im Februar 2002 einer günstigen Prognose hinsichtlich
Dauerhaftigkeit und Wesentlichkeit des mit der
Hüfttotalendoprothesen-Operation links erreichbaren Eingliederungserfolges
entgegenstand.

4.
4.1 Da vorliegend die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen streitig war, ist das Verfahren kostenfrei (Art. 134
OG).

4.2 Mit Blick darauf, dass sich die obsiegende Beschwerdegegnerin im
vorliegenden Verfahren durch ihren Ehemann anwaltlich vertreten lässt, ist
darauf hinzuweisen, dass ein Verwandtschaftsverhältnis zwischen der
versicherten Person und dem sie im gerichtlichen Verfahren vertretenden
Rechtsanwalt die Zusprechung einer Parteientschädigung zwar grundsätzlich
nicht ausschliesst. Anders verhält es sich aber, wenn der Rechtsvertreter ein
eigenes Interesse am Ausgang des Prozesses hat, z.B. wenn er - wie vorliegend
- im Rahmen der ehelichen Beistandspflicht (Art. 159 Abs. 3 ZGB) für den
Ehepartner handelt (ZAK 1985 S. 472 Erw. 4; nicht veröffentlichtes Urteil T.
vom 21. Juni 1999, I 601/98). Die besonderen Voraussetzungen, unter welchen
selbst in diesem Fall ausnahmsweise eine Entschädigung für den Arbeitsaufwand
und die Umtriebe zugesprochen werden kann (komplizierte Sache mit hohem
Streitwert; Erforderlichkeit eines hohen Arbeitsaufwandes; vernünftiges
Verhältnis zwischen dem betriebenen Aufwand und dem Ergebnis der
Interessenwahrung; vgl. dazu BGE 110 V 134 Erw. 4d), sind im Falle der
Beschwerdegegnerin nicht erfüllt, weshalb ihr keine Parteientschädigung
zuzusprechen ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird im Sinne der Erwägungen abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons
Thurgau, der Ausgleichskasse des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 25. Mai 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: