Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 86/2003
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I 86/03

Urteil vom 21. April 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Signorell

S.________, 1956, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Silvan Ulrich,
Postgasse 3, 4147 Aesch,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 2. Dezember 2002)

Sachverhalt:
Die IV-Stelle Basel-Stadt, nachdem sie Akten der SUVA und einen Bericht des
behandelnden Arztes Dr. med. K.________, Rheumatologie FMH, vom 28. Juni 2000
und ein Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle X.________ (MEDAS) vom
20. August 2001 beigezogen hatte, sprach dem 1956 geborenen S.________ bei
einem Invaliditätsgrad von 41 % unter Annahme eines Härtefalles mit Wirkung
ab 1. Februar 2000 eine halbe Rente zu (Verfügung vom 3. April 2002).
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt wies mit Entscheid vom
2. Dezember 2002 eine dagegen erhobene Beschwerde ab, mit welcher die
Zusprechung einer ganzen Rente, eventuell die Einholung eines
polydisziplinären Gutachtens durch eine neutrale Stelle und die Abklärung
medizinischer und beruflicher Massnahmen verlangt wurde.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ die vorinstanzlichen
Rechtsbegehren erneuern. Im Weiteren ersucht er um Gewährung der
unentgeltlichen Rechtspflege.

Die IV-Stelle sieht von Antrag und Ausführungen zur Sache ab. Das Bundesamt
für Sozialversicherung verzichtet auf eine Stellungnahme.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Nach Art. 4 Abs. 1 IVG gilt als Invalidität die durch einen körperlichen
oder geistigen Gesundheitsschaden als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit
oder Unfall verursachte, voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde
Erwerbsunfähigkeit.

1.2 Die Bestimmungen und Grundsätze über die Voraussetzungen und den Umfang
des strittigen Rentenanspruches (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG) sowie die
Ermittlung des Invaliditätsgrades bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen
Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG; BGE 104 V 136 Erw. 2a
und b) werden in der streitigen Verfügung vom 25. Mai 2000 zutreffend
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

1.3 Um den Invaliditätsgrad bemessen zu können, ist die Verwaltung (und im
Beschwerdefall das Gericht) auf Unterlagen angewiesen, die ärztliche und
gegebenenfalls auch andere Fachleute zur Verfügung zu stellen haben. Aufgabe
des Arztes oder der Ärztin ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und
dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten
die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Im Weiteren sind die ärztlichen
Auskünfte eine wichtige Grundlage für die Beurteilung der Frage, welche
Arbeitsleistungen der Person noch zugemutet werden können (BGE 125 V 261 Erw.
4, 115 V 134 Erw. 2, 114 V 314 Erw. 3c, 105 V 158 Erw. 1).

1.4 Unter gewissen Umständen können schmerzhafte somatoforme Beschwerden bzw.
Schmerzverarbeitungsstörungen eine Arbeitsunfähigkeit verursachen. Solche
Beschwerden fallen unter die Kategorie der psychischen Leiden, für die
grundsätzlich ein psychiatrisches Gutachten erforderlich ist, wenn es darum
geht, über die durch sie bewirkte Arbeitsunfähigkeit zu befinden (AHI 2000 S.
159 Erw. 4b mit Hinweisen; siehe auch Urteile L. vom 6. Mai 2002 [I 275/01]
Erw. 3a/bb und b sowie Q. vom 8. August 2002 [I 783/01] Erw. 3a). Nach der
Rechtssprechung (BGE 127 V 298 Erw. 4c und 5; AHI 2000 S. 152 Erw. 2c)
besteht die Aufgabe medizinischer Experten bei der Beurteilung des
invalidisierenden Charakters somatoformer Störungen nebst der
Diagnosestellung darin, sich zum Schweregrad der Symptomatik und zur Prognose
zu äussern und darauf abgestützt Aussagen zur Leistungsfähigkeit und
Zumutbarkeit zu machen. In diesem Zusammenhang hat die Gutachterin oder der
Gutachter das Vorliegen invaliditätsbegründender Faktoren wie auffällige
prämorbide Persönlichkeitsstruktur, psychiatrische Komorbidität, chronische
körperliche Begleiterkrankungen, Verlust der sozialen Integration,
ausgeprägter Krankheitsgewinn, mehrjähriger Krankheitsverlauf mit
unveränderter oder progredienter Symptomatik, unbefriedigende
Behandlungsergebnisse und gescheiterte Rehabilitationsmassnahmen zu
beurteilen. Andererseits ist Stellung zu nehmen zu allfälligen
rentenausschliessenden Faktoren.

1.5 Der Sozialversicherungsrichter hat alle Beweismittel, unabhängig davon,
von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden, ob die
verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen
Rechtsanspruches gestatten. Insbesondere darf er bei einander
widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne
das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf
die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt. Hinsichtlich
des Beweiswertes eines Arztberichtes ist also entscheidend, ob der Bericht
für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen
beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der
Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der
medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtet und
ob die Schlussfolgerungen des Experten begründet sind. Ausschlaggebend für
den Beweiswert ist grundsätzlich somit weder die Herkunft eines Beweismittels
noch die Bezeichnung der eingereichten oder in Auftrag gegebenen
Stellungnahme als Bericht oder Gutachten (BGE 122 V 160 f. Erw. 1c mit
Hinweisen).

2.
2.1 Im Gutachten der MEDAS vom 20. August 2001 werden  die Diagnosen (mit
Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit) eines Panvertebralsyndroms mit/bei
spondylogener akzentuierter Symptomatik im Lumbal- und Zervikozephalbereich,
muskulärer Dysbalance bei Dekonditionierung und medianer Diskushernie L3/L4
ohne Neurokompression sowie einer Symptomausweitung bei
Schmerzverarbeitungsstörung gestellt. Weitere Befunde, u.a. eine beginnende
Anpassungsstörung und eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, werden als
ohne Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit dargestellt. Diese Beurteilung steht
im Wesentlichen im Einklang mit den Befunden und Feststellungen des Spitals
Y.________ (Berichte vom 4. Mai und 2. Juli 1999). Die von Dr. K.________ im
Arztbericht vom 28. Juni 2000 als Hauptdiagnose diagnostizierte
generalisierte Fibromyalgie schlossen die Gutachter ausdrücklich aus.

Unter allen an den Ablärungen beteiligten Medizinern ist unbestritten, dass
psychische Komponenten eine erhebliche Rolle spielen. Das  Spital Y.________
äusserte in seinem Bericht vom 2. Juli 1999 den Verdacht auf eine
Schmerzverarbeitungsstörung, Dr. K.________ den dringenden Verdacht auf
psychische Alteration. Im Gutachten werden diese Verdachtsdiagnosen bestätigt
und die Diagnosen einerseits einer Symptomausweitung bei
Schmerzverarbeitungsstörung (mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit) und
andererseits einer beginnenden Anpassungsstörung und einer anhaltenden
somatoformen Schmerzstörung (mit objektiv relativ geringen Beschwerden und
ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit) gestellt.

2.2 Hinsichtlich der Arbeitsfähigkeit gehen die MEDAS-Gutachter davon aus,
dass dem Beschwerdeführer eine rückenschonende, wenig belastende Tätigkeit
mit Heben von Gewichten bis zu 15 kg im Umfang von 70 % zumutbar ist, wobei
länger dauerndes Sitzen oder Stehen sowie stereotype Bewegungen oder
Zwangspositionen vermieden werden sollten. Die Ärzte des Spitals Y.________
(Bericht vom 4. Mai 1999) erachteten den Beschwerdeführer aufgrund der
organischen Befunde im Umfang von 50 % als arbeitsfähig, hielten aber
gleichzeitig fest, dass dieser zur Arbeit motiviert werden sollte. Dr.
K.________ erachtet den Beschwerdeführer aus rein rheumatologischer Sicht zu
mindestens 50 % arbeitsfähig, unter Berücksichtigung des Gesamtzustandes
indessen als vollständig arbeitsunfähig.

Die Einschätzungen der Arbeitsfähigkeit durch die Gutachter weichen von
denjenigen des behandelnden Arztes ab. Die Mediziner sind zwar
übereinstimmend der Ansicht, dass die organischen Befunde nicht die primären
Ursachen dafür sind, dass der Beschwerdeführer keine Arbeit mehr aufgenommen
hat. Dafür machen sie vielmehr die Schmerzproblematik verantwortlich. Die
unterschiedliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit  lässt sich somit damit
erklären, dass die MEDAS-Gutachter einerseits eine generalisierte
Fibromyalgie ausdrücklich ausschlossen und andererseits die psychische
Komponente, welche zwar vorhanden ist, jedoch ohne Einfluss auf die
Arbeitsfähigkeit bleibt, in die Bewertung miteinbezogen haben. Nach dem
psychiatrischen Untergutachten der MEDAS geht das Unvermögen des
Beschwerdeführers, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, überwiegend auf
psychosoziale Umstände zurück. Gemäss der Rechtsprechung (BGE 127 V 299 Erw.
5a) bilden soziokulturelle Umstände keinen im Sinne von Art. 4 Abs. 1 IVG
versicherten Gesundheitsschaden. Es braucht viel mehr in jedem Fall zur
Annahme einer Invalidität ein medizinisches Substrat, das
(fach)ärztlicherseits schlüssig festgestellt ist und nachgewiesenermassen die
Arbeits- und Erwerbsfähigkeit wesentlich beeinträchtigt. Je stärker
psychosoziale oder soziokulturelle Faktoren im Einzelfall in den Vordergrund
treten und das Beschwerdebild mitbestimmen, desto ausgeprägter muss eine
fachärztlich festgestellte psychische Störung von Krankheitswert vorhanden
sein. Die Frage nach dem Vorliegen einer psychischen Störung wurde im
Gutachten genügend geprüft und auch die zentrale Frage beantwortet, ob der
Beschwerdeführer über psychische Ressourcen verfügt, die es ihm erlauben, mit
seinen Schmerzen umzugehen. Ein Widerspruch der Fachärzte liegt auch nicht
darin, dass diese von einer grösseren Tragfähigkeit ausgehen als der
Beschwerdeführer. Entscheidend ist, was medizinisch (hier rheumatologisch,
psychiatrisch) möglich und zumutbar ist, und nicht, was der Versicherte
subjektiv als zumutbar betrachtet. Da das Gutachten widerspruchsfrei und
schlüssig ist, kann darauf abgestellt werden. Weder die Frage der somatisch
begründeten Einschränkung der Arbeitsfähigkeit noch die psychischen Aspekte
bedürfen einer erneuten fachärztlichen Abklärung.

3.
Gegen die vorinstanzliche Bemessung des Invaliditätsgrades, welcher zumindest
im Ergebnis beizupflichten ist, wird bezüglich des Invalideneinkommens
geltend gemacht, einerseits hätten nur die Tabellenlöhne für den
Dienstleistungssektor berücksichtigt werden dürfen und andererseits sei von
diesen ein leidensbedingter Abzug von 25 % und nicht nur von 15 % zu machen.
Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden. Es trifft nicht zu, dass
Arbeitsplätze, die dem Anforderungsprofil des Beschwerdeführers entsprechen,
nur im Dienstleistungssektor vorzufinden wären. Es gibt in der gesamten
Wirtschaft derartige Tätigkeiten. Das Vorgehen der Vorinstanz ist daher nicht
zu beanstanden. Was den vom Tabellenlohn vorzunehmenden Abzug betrifft, so
wird ebenfalls auf die zutreffenden Erwägungen des kantonalen Gerichts
verwiesen.

4.
Soweit der Beschwerdeführer medizinische und/oder berufliche
Eingliederungsmassnahmen geltend macht, ist mit der Vorinstanz festzustellen,
dass in der Verwaltungsverfügung vom 3. April 2002 darüber nicht befunden
worden war. Es fehlt deshalb auch letztinstanzlich insoweit an einem
Anfechtungsgegenstand.

5.
Da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos
zu bezeichnen und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372
Erw. 5b, je mit Hinweisen), kann die unentgeltliche Verbeiständung gewährt
werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG). Es wird indessen
ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten
ist.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Advokat Silvan
Ulrich für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus der
Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2000.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt,
der Ausgleichskasse der Migros-Betriebe und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 21. April 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: