Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 791/2003
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I 791/03

Urteil vom 18. März 2005

I. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger,
Ursprung und Kernen; Gerichtsschreiber Hadorn

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,

gegen

S.________, 1947, Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 1. Dezember 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 4. Mai 2000 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen
S.________ (geb. 1947) eine ganze IV-Rente ab 1. Oktober 1999 zu. Mit
Schreiben vom 28. Juli 2003 eröffnete ihr die Ausgleichskasse SPIDA die
Verfügung der IV-Stelle, wonach sich ihr Invaliditätsgrad von 90% auf 50%
vermindert habe. Da sie jedoch verwitwet sei und somit Anspruch auf eine
Witwenrente habe, ergebe sich keine Änderung im Rentenbetrag, weshalb
weiterhin Anspruch auf eine ganze Invalidenrente bestehe. Auf die hiegegen
gerichtete Einsprache trat die IV-Stelle mangels schutzwürdigem Interesse mit
Entscheid vom 14. Oktober 2003 nicht ein.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen mit Entscheid vom 1. Dezember 2003 gut. Es wies die Sache an die
IV-Stelle zurück, damit sie die Einsprache materiell behandle.

C.
Die IV-Stelle führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Antrag, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben.

Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen schliesst auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während S.________ und das Bundesamt für
Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung verzichten.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Streitig und zu prüfen ist einzig, ob die Versicherte ein schutzwürdiges
Interesse an der materiellen Prüfung ihrer Einsprache hat und die IV-Stelle
demnach auf diese hätte eintreten müssen.

2.
2.1 Das Rechtsschutzinteresse als Eintretensvoraussetzung für das
Einspracheverfahren ist zwar im ATSG nicht erwähnt. Hingegen wird es in Art.
59 ATSG für das Beschwerdeverfahren ausdrücklich als Legitimationserfordernis
genannt. Sodann verlangt Art. 49 Abs. 2 ATSG für den Erlass einer
Feststellungsverfügung (somit für einen noch vor dem Einspracheverfahren
liegenden Zeitpunkt), dass ein schutzwürdiges Interesse glaubhaft gemacht
wird. Subsidiär ist auf Art. 48 lit. a VwVG zu verweisen, welcher fast gleich
lautet wie Art. 59 ATSG und über Art. 55 Abs. 1 ATSG sinngemäss als
ergänzende Vorschrift beigezogen werden kann (Kieser, ATSG-Kommentar, Rz 1
und 2 zu Art. 59). Daraus, dass das Rechtsschutzinteresse im Zusammenhang mit
der Einsprache nicht eigens geregelt wird, darf nicht gefolgert werden, ein
solches sei für eine materielle Prüfung der Einsprache nicht erforderlich.
Denn das Rechtsschutzinteresse wird allgemein im gesamten
Verwaltungsverfahrensrecht gleich verstanden (Kieser, a.a.O., Rz 4 zu Art.
59; ferner Rz 43 zu Art. 61 und Rz 17 zu Art. 62). Daher ist Art. 59 ATSG im
Einspracheverfahren sinngemäss anzuwenden (Kieser, a.a.O., Rz 2 zu Art. 59).
Zudem hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 130 V 563 Erw. 3.2
festgehalten, dass die Legitimationsvoraussetzungen für die Einsprache - wozu
das Rechtsschutzinteresse gehört - gleich zu bestimmen sind wie im kantonalen
Beschwerdeverfahren. Der Begriff des Rechtsschutzinteresses ist gleich
auszulegen wie für das bundesrechtliche
Verwaltungsgerichtsbeschwerdeverfahren (vgl. auch BGE 130 V 390 f. Erw. 2.2
und 2.3). Demnach ist auch im vorliegenden Fall nach den allgemeinen Regeln
zu prüfen, ob die Beschwerdegegnerin ein rechtsschutzwürdiges Interesse an
der materiellen Beurteilung ihrer Einsprache hat.

2.2 Die Vorinstanz erwog, es gehöre zur umfassenden Prüfungspflicht der
IV-Stelle, unter anderem auch der Frage einer allfälligen reformatio in peius
nachzugehen. Daher müsse sie die Einsprache selbst dann materiell behandeln,
wenn ein höherer Invaliditätsgrad als 50% keine Änderung am Ergebnis bewirken
würde. Sollte sich nämlich erweisen, dass der Invaliditätsgrad auf weniger
als 50% festzusetzen sei, würde an Stelle der bisherigen Invalidenrente die
Witwenrente wieder aufleben. Zudem sei die Versicherte auf eine exakte
Bemessung des Invaliditätsgrades angewiesen, um ihre Ansprüche gegen die
berufliche Vorsorgeeinrichtung geltend machen zu können. Selbst wenn diese
gemäss der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts nicht an
die Feststellungen der Invalidenversicherungsorgane gebunden sein sollte, sei
es erfahrungsgemäss äusserst schwierig, den Beweis darüber zu führen, dass
die Invaliditätsbemessung der IV-Stelle unhaltbar sei.

2.3 Nach der Rechtsprechung ist der im IV-Verfahren im Zusammenhang mit einer
Härtefallrente ermittelte Invaliditätsgrad für die berufsvorsorgliche
Invalidenrente nicht präjudizierend (BGE 118 V 40 Erw. 2b/aa und 43 Erw. 3b,
115 V 212 Erw. 2c und 220 Erw. 4c; Urteile O. vom 11. September 2002, I
185/00, und B. vom 28. September 1998, I 164/98). Dies gilt umso mehr dann,
wenn die Invalidenversicherung den Invaliditätsgrad nur in einem groben
Massstab festgelegt hat, indem sie sich mit der Feststellung begnügte, ob der
für die Zusprechung einer halben Härtefallrente vorausgesetzte
Invaliditätsgrad von mindestens 40% und weniger als 66 2/3% oder aber ein
höherer, zu einer ganzen Rente berechtigender Invaliditätsgrad vorlag (Art.
28 Abs. 1 und 1bis IVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen Fassung). Im
erwähnten Urteil B. ergab sich die Konstellation, dass in Bezug auf den
Invaliditätsgrad einer teilweise erwerbstätigen Person im Erwerbsbereich
jeder beliebige Invaliditätsgrad zwischen 38% und 80% angenommen werden
konnte, ohne dass sich am Ergebnis (Anspruch auf eine halbe Rente) etwas
geändert hätte. Da eine derart grobe Schätzung mit der differenzierteren
Stufenfolge kontrastiert, welche für den Anspruch auf eine Invalidenrente der
obligatorischen beruflichen Vorsorge (Art. 24 Abs. 1 BVG) oder noch mehr der
Unfallversicherung (Art. 18 Abs. 2 UVG in der bis Ende 2003 gültig gewesenen
Fassung) massgebend ist, entfaltete der von der Invalidenversicherung
ermittelte Invaliditätsgrad keine Bindungswirkung auf die berufliche
Vorsorge.

2.4 Vorliegend geht es zwar nicht um eine Invalidenrente im Zusammenhang mit
einer Härtefallrente, sondern um eine solche in Verbindung mit einer
Witwenrente. Hinsichtlich einer allfälligen Bindungswirkung für andere
Sozialversicherungszweige ist die Situation jedoch vergleichbar. Die
Versicherte erhält nämlich bei jedem Invaliditätsgrad von wenigstens 40% eine
ganze IV-Rente, so lange sie parallel einen Anspruch auf eine Witwenrente hat
(Art. 43 Abs. 1 IVG). Die IV-Stelle brauchte daher den Invaliditätsgrad nicht
exakt festzulegen; vielmehr genügte es für die Ausrichtung der ganzen Rente,
dass sie einen Wert von wenigstens 40% ermittelte. Bei jeder andern Stufe
innerhalb von 40% bis 100% bleiben die selben Leistungen geschuldet. Die
IV-Stelle hat sich denn auch mit einer gröberen Schätzung begnügt, setzte sie
doch die medizinisch-theoretische Arbeitsfähigkeit der Invalidität gleich.
Eine solche Schätzung vermag die berufliche Vorsorge im Lichte der erwähnten
Rechtsprechung nicht zu binden. Demzufolge lässt sich ein allfälliges
schutzwürdiges Interesse der Versicherten an einer exakten Festsetzung des
Invaliditätsgrades nicht mit dem Blick auf andere Sozialversicherungszweige
begründen. Die vom kantonalen Gericht angeführten angeblichen
Beweisschwierigkeiten ändern daran nichts, werden doch andere Versicherer den
Invaliditätsgrad von Amtes wegen mit der gebotenen Sorgfalt zu ermitteln
haben.

2.5 Der Auffassung der Vorinstanz, die IV-Stelle müsse wegen der Möglichkeit
einer allfälligen reformatio in peius jede Einsprache materiell prüfen, kann
nicht gefolgt werden. Die Einsprache bzw. Beschwerde wurde von der
Versicherten erhoben, welche allein darüber entscheidet, ob sie ein
Rechtsmittel einlegen will. Zudem ist sie ausschliesslich an einem höheren
Invaliditätsgrad interessiert. Die IV-Stelle ist grundsätzlich gehalten, den
Invaliditätsgrad bereits im Verwaltungsverfahren ausreichend exakt zu
ermitteln. Im Falle einer reformatio in peius stände der Versicherten die
Möglichkeit offen, ihr Rechtsmittel zurückzuziehen, womit es ebenfalls bei
der ganzen IV-Rente bliebe. Zudem ist nach der Rechtsprechung von der -
fakultativen - reformatio in peius zurückhaltend Gebrauch zu machen (BGE 119
V 249 Erw. 5 mit Hinweisen, Urteil H. vom 10. Oktober 2003, U 340/00). Die
Auffassung der Vorinstanz müsste, konsequent zu Ende gedacht, dazu führen,
dass alle Rechtsmittel gegen eine leistungs-zusprechende Verfügung vor jeder
Instanz von Amtes wegen materiell auf eine reformatio in peius hin überprüft
werden müssten. Damit würde der Bogen überspannt.

2.6 Die Vorinstanz begründet das Rechtsschutzinteresse der Versicherten
schliesslich damit, dass diese sich gegebenenfalls wieder verheiraten könnte.
Dabei würde sie den Anspruch auf die Witwenrente verlieren, weshalb es ihr
wichtig sei zu wissen, ob sie allein auf Grund des Invaliditätsgrades
weiterhin eine ganze Rente beziehen könne.

2.6.1 Auch dieses Argument ist nicht stichhaltig. In den Akten weist nichts
darauf hin, dass die Beschwerdegegnerin eine erneute Heirat plant. Daher ist
die Wiederverheiratung zur Zeit lediglich eine theoretische Möglichkeit. Für
eine genaue Überprüfung des Invaliditätsgrades muss jedoch nach der
Rechtsprechung ein unmittelbares und aktuelles Interesse rechtlicher oder
tatsächlicher Natur nachgewiesen sein (BGE 125 V 24 Erw. 1b, 121 V 317 Erw.
4a, je mit Hinweisen). Hinzu kommt, dass die Versicherte an labilen
gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet. Sollte sie dereinst tatsächlich
wieder heiraten, wird ihr Invaliditätsgrad auf Grund des dannzumaligen
Gesundheitszustandes zu bestimmen sein. Dieser kann vom jetzigen abweichen.
Es macht daher keinen Sinn, vorliegend für den hypothetischen Fall der
Wiederverheiratung Rechtsanwendung auf Vorrat zu betreiben. Da jede
verwitwete Person theoretisch erneut heiraten kann, wäre die Verwaltung
ansonsten in allen derartigen Fällen gezwungen, genaue Abklärungen zu
treffen, welche sich oft als überflüssig (keine Wiederverheiratung) oder als
nicht mehr massgebend (bei späterer, tatsächlicher Heirat veränderter
Invaliditätsgrad) erweisen könnten. Solcher administrativer Leerlauf ist zu
vermeiden.

2.6.2 Dies stimmt im Ergebnis mit der bisherigen Rechtsprechung überein.
Bereits im nicht veröffentlichten Urteil G. vom 13. Dezember 1996, I 369/96,
hat das Eidgenössische Versicherungsgericht erkannt, dass eine bloss
theoretische Möglichkeit der Wiederverheiratung kein aktuelles
Rechtsschutzinteresse an der Feststellung eines behaupteten
Invaliditätsgrades begründet. Dabei hat das Gericht auf BGE 106 V 92 und die
seitherige Rechtsprechung hingewiesen, wonach die Versicherte im Falle der
Aufhebung ihrer Rente immer noch die gebotenen Einwendungen gegen die dann zu
Grunde gelegte Invaliditätsbemessung - notfalls im Beschwerdeverfahren - wird
vorbringen können. An dieser Rechtsprechung (zuletzt bestätigt im Urteil Z.
vom 8. März 2004, I 424/03) ist festzuhalten. Die bloss hypothetische
Möglichkeit einer erneuten Heirat verschafft daher für sich allein noch kein
schutzwürdiges Interesse an einer exakten Ermittlung des Invaliditätsgrades.
Soweit im Urteil R. vom 14. Juli 2003, I 307/02, etwas anderes gesagt worden
ist, kann daran nicht festgehalten werden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der Entscheid des
Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 1. Dezember 2003 aufgehoben.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 18. März 2005
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: