Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 756/2003
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I 756/03

Urteil vom 3. Mai 2004

I. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Lustenberger,
Ursprung und Kernen; Gerichtsschreiber Hochuli

B.________, 1996, Beschwerdeführer, handelnd durch seine Eltern A.________
und C.________

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 14. Oktober 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 12. März 2003 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau
(nachfolgend: IV-Stelle) das Gesuch des 1996 geborenen B.________ um
medizinische Massnahmen zur Behandlung eines angeborenen
Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms mit Hyperaktivität ab. Daran hielt sie mit
Einspracheentscheid vom 17. Juli 2003 fest.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde des durch seine Eltern vertretenen
B.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom
14. Oktober 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt B.________ sinngemäss beantragen, die
zur Behandlung des angeborenen Psychoorganischen Syndroms (POS) notwendigen
medizinischen Massnahmen seien unter Aufhebung des kantonalen Gerichts- und
des Einspracheentscheids durch die Invalidenversicherung zu übernehmen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) verzichten auf
eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen zum Anspruch auf medizinische
Massnahmen bei Geburtsgebrechen (Art. 13 Abs. 1 und 2 IVG; Art. 1 Abs. 1 und
2 GgV) richtig dargelegt. Korrekt wiedergegeben ist sodann Ziff. 404 GgV
Anhang mit den Voraussetzungen, unter welchen die Invalidenversicherung die
Behandlung eines angeborenen POS zu übernehmen hat, sowie die dazu ergangene
Rechtsprechung (BGE 122 V 113). Darauf wird verwiesen. Zu ergänzen ist, dass
die Bestimmungen der auf den 1. Januar 2004 in Kraft getretenen 4.
IVG-Revision im hier zu beurteilenden Fall nicht anwendbar sind, da nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Erlasses des streitigen Einspracheentscheides
(hier: vom 17. Juli 2003) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2
mit Hinweisen).

2.
Vorweg zu prüfen ist, ob die unter der bisherigen Gesetzesordnung ergangene
Rechtsprechung auch nach dem Inkrafttreten (1. Januar 2003) des ATSG und des
revidierten Art. 13 Abs. 1 IVG massgebend bleibt. Die zuletzt erwähnte
Bestimmung lautet seit 1. Januar 2003 wie folgt:
"Versicherte haben bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur
Behandlung von Geburtsgebrechen (Art. 3 Abs. 2 ATSG) notwendigen
medizinischen Massnahmen."
Im Vergleich zu der bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung wurde neu einzig
der Klammer-Verweis auf die entsprechende ATSG-Bestimmung in Art. 13 Abs. 1
IVG eingefügt. Nach Art. 3 Abs. 2 ATSG gelten als Geburtsgebrechen
"diejenigen Krankheiten, die bei vollendeter Geburt bestehen." Krankheit ist
gemäss Art. 3 Abs. 1 ATSG "jede Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen
oder psychischen Gesundheit, die nicht Folge eines Unfalles ist und die eine
medizinische Untersuchung oder Behandlung erfordert oder eine
Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat." Der Wortlaut von Art. 3 Abs. 1 ATSG ist
identisch mit demjenigen von Art. 2 Abs. 1 KVG in der bis Ende 2002 gültig
gewesenen Fassung (vgl. Eugster, ATSG und Krankenversicherung: Streifzug
durch Art. 1-55 ATSG, in: SZS 2003 S. 216). Art. 1 GgV blieb über das
Inkrafttreten des ATSG hinaus unverändert. Demnach gelten als
Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG solche Gebrechen, die bei
vollendeter Geburt bestehen; die blosse Veranlagung zu einem Leiden gilt
nicht als Geburtsgebrechen; der Zeitpunkt, in dem ein Geburtsgebrechen als
solches erkannt wird, ist unerheblich (Art. 1 Abs. 1 GgV). Die
Geburtsgebrechen sind in der Liste im Anhang aufgeführt; das Eidgenössische
Departement des Innern kann eindeutige Geburtsgebrechen, die nicht in der
Liste im Anhang enthalten sind, als Geburtsgebrechen im Sinne von Art. 13 IVG
bezeichnen (Art. 1 Abs. 2 GgV). Art. 3 Abs. 2 ATSG wurde anlässlich der
ständerätlichen Sitzung vom 22. März 2000 auf Antrag der Kommission in der
heute geltenden Fassung in den Entwurf aufgenommen. Nach dem ausdrücklichen
Willen der Kommission handelt es sich bei dieser Begriffsdefinition "nicht um
eine materielle Änderung", sondern sie "entspricht vielmehr dem geltenden
Recht; sie ist heute in Artikel 1 der Verordnung vom 9. Dezember 1985 über
Geburtsgebrechen [GgV] enthalten" (Amtl. Bull. 2000 S 176; Kieser,
ATSG-Kommentar, Zürich 2003, Art. 3 Rz 19). Der Nationalrat stimmte diesem
Beschluss des Ständerats anlässlich seiner Differenzbereinigung vom 13. Juni
2000 diskussionslos zu (Amtl. Bull. 2000 N 650). Obwohl sich die
Begriffsumschreibung in Art. 3 Abs. 2 ATSG nicht mehr auf den bisher
verwendeten Terminus "Gebrechen" (vgl. demgegenüber erster Teilsatz von Art.
1 Abs. 1 GgV), sondern auf denjenigen der Krankheit bezieht, und Art. 3 Abs.
2 ATSG sowohl die in der GgV eingeschlossenen als auch die davon
ausgenommenen Geburtsgebrechen (Art. 13 Abs. 2 Satz 2 IVG) umfasst (Eugster,
a.a.O., S. 217), führt diese terminologische Anpassung nicht zu materiellen
Änderungen (Kieser, a.a.O., Art. 3 Rz 24). Denn welche Geburtsgebrechen
gegenüber der Invalidenversicherung einen Leistungsanspruch begründen, ergibt
sich nicht aus Art. 3 Abs. 2 ATSG, sondern aus der einzelgesetzlichen
Normierung, die insbesondere hinsichtlich der Gesetzesdelegation an den
Bundesrat und in Bezug auf die Grundlage für den Leistungsausschluss
betreffend Gebrechen von geringfügiger Bedeutung (Art. 13 Abs. 2 IVG)
unverändert geblieben ist (vgl. Kieser, a.a.O., Art. 3 Rz 21). Ist demzufolge
mit dem Inkrafttreten des ATSG und der revidierten, seit 1. Januar 2003
gültigen Fassung von Art. 13 Abs. 1 IVG keine materielle Änderung des
Anspruchs auf medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen verbunden, bleibt
die bisher - unter der Herrschaft der bis Ende 2002 gültig gewesenen
Gesetzesordnung - ergangene Rechtsprechung weiterhin massgebend.

3.
Streitig ist, ob die Invalidenversicherung unter Ziff. 404 GgV Anhang
medizinische Massnahmen zu erbringen hat.

3.1 Ziff. 404 GgV Anhang umschreibt folgendes Geburtsgebrechen: Kongenitale
Hirnstörungen mit vorwiegend psychischen und kognitiven Symptomen bei
normaler Intelligenz (kongenitales infantiles Psychosyndrom, kongenitales
hirndiffuses psychoorganisches Syndrom, kongenitales hirnlokales
Psychosyndrom), sofern sie mit bereits gestellter Diagnose als solche vor
Vollendung des 9. Altersjahres behandelt worden sind. Nach der
Verwaltungspraxis gelten die Voraussetzungen von Ziff. 404 GgV Anhang als
erfüllt, wenn vor Vollendung des 9. Altersjahres mindestens Störungen des
Verhaltens im Sinne krankhafter Beeinträchtigung der Affektivität oder der
Kontaktfähigkeit, des Antriebes, des Erfassens (perzeptive, kognitive oder
Wahrnehmungsstörungen), der Konzentrationsfähigkeit sowie der Merkfähigkeit
ausgewiesen sind. Diese Symptome müssen kumulativ nachgewiesen sein, wobei es
genügt, wenn sie nicht alle gleichzeitig, sondern erst nach und nach
auftreten. Werden bis zum 9. Geburtstag nur einzelne der erwähnten Symptome
ärztlich festgestellt, sind die Voraussetzungen für Ziff. 404 GgV Anhang
nicht erfüllt (Rz 404.5 des vom BSV herausgegebenen Kreisschreibens über die
medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung [KSME] in
der ab 1. Januar 1994 gültigen Fassung [gleichbedeutend: Rz 404.5 in der ab
1. Januar 2003 gültigen Fassung]). Das Eidgenössische Versicherungsgericht
hat gestützt auf die ständige Rechtsprechung zu den früher gültigen
Verordnungsbestimmungen und Verwaltungsweisungen einerseits die
Gesetzmässigkeit der Ziff. 404 GgV Anhang (in der seit 1. Januar 1986
geltenden Fassung) und anderseits die Verordnungskonformität der seit 1. Juni
1986 im Wesentlichen unveränderten Verwaltungsweisungen (Rz 404.5 KSME)
bestätigt (BGE 122 V 114 f. Erw. 1b).

3.2 Verwaltung und Vorinstanz verneinten, trotz rechtzeitig vor Vollendung
des 9. Altersjahres diagnostiziertem POS, die Voraussetzungen des Anspruchs
auf medizinische Massnahmen unter Ziff. 404 GgV Anhang, weil es beim
Versicherten gemäss den Ergebnissen des am 5. August 2002 durchgeführten
K-ABC-Tests (Kaufmann-Assessment-Battery for Children) an einer Störung der
Wahrnehmung und Merkfähigkeit fehle. Unter anderem sei die Feststellung
dieser Krankheitszeichen für die Bejahung eines Leistungsanspruchs gestützt
auf Ziff. 404 GgV Anhang praxisgemäss kumulativ erforderlich.

3.3 Demgegenüber lässt der Beschwerdeführer geltend machen, beim K-ABC-Test
handle es sich um einen Intelligenztest. Nicht nur der behandelnde Facharzt
für Allgemeinmedizin und Psychotherapeutische Medizin Dr. med. N.________
(Bericht vom 1. Dezember 2002), sondern auch die Ärzte des Spitals
X.________, Prof. Dr. med. D.________ und Dr. med. I.________ (Bericht vom
19. August 2003), bestätigten die Diagnose "attention deficit hyperactivity
disorder (ADHD)", welche einem POS im Sinne von Ziff. 404 GgV Anhang
entspreche. Der Versicherte verweist auf den Bericht des Dr. med. N.________
vom 17. März 2003, worin dieser ausführte, dass die K-ABC-Testanordnung nicht
geeignet sei, ein POS zu diagnostizieren. Ein POS sei keine Erkrankung, die
mit einem niedrigen Intelligenzquotienten verbunden sein müsse. Die
internationalen Diagnosekriterien für das POS richteten sich nach dem DSM IV
(diagnostisches und statistisches Manual für psychische Störungen der
American Psychiatric Association) und der ICD-10 (internationale
Klassifikation der Krankheiten). Für beide Diagnosestandards seien hier die
Voraussetzungen erfüllt. Zudem nehme der seit Oktober 2001 in seiner
Behandlung stehende Beschwerdeführer gerade zum Zwecke der Verbesserung der
Konzentrations- und Merkfähigkeit entsprechende Medikamente ein (vgl. Bericht
des Dr. med. N.________ vom 1. Dezember 2002 S. 4).

3.4 Mit überzeugender Begründung, worauf verwiesen wird, gelangte das
kantonale Gericht unter umfassender Würdigung der vorhandenen medizinischen
Akten zur Auffassung, weder die Ausführungen des Dr. med. N.________ noch der
Bericht des Spitals X.________ lasse auf eine (signifikante) Störung der
Merkfähigkeit schliessen. Der behandelnde Arzt habe diesbezüglich in seinem
Bericht vom 1. Dezember 2002 S. 5 festgehalten, es komme auf die Tagesform
an, ob die angebotenen Themen B.________ interessierten. Für ihn wichtige
Dinge wisse er sofort und nachhaltig; langweilige Lerninhalte und Gebote
könne er sich schlecht einprägen. Die Vorinstanz wies zu Recht darauf hin,
dass das Phänomen einer umständehalber schwankenden Merkfähigkeit auch bei
gesunden Menschen zu beobachten sei, weshalb diese Feststellung nicht
geeignet sei, eine eigentliche Störung der Merkfähigkeit zu begründen. Auch
liessen sich dem Bericht des Kinderspitals vom 19. August 2003 keine
Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Merkfähigkeitsstörung entnehmen. Statt
dessen zeigten die diesem Bericht zugrunde liegenden Untersuchungsergebnisse
ausdrücklich, dass beim Beschwerdeführer die "auditive Merkfähigkeit nach
Mottier [...] altersentsprechend normal" ist. Liegt demnach keine
(signifikante) Störung der Merkfähigkeit vor, fehlt es an diesem kumulativ
erforderlichen - in beweisrechtlicher Hinsicht (BGE 122 V 117 Erw. 2f mit
Hinweis) für die Frage, ob die Diagnose POS zutrifft oder nicht,
entscheidenden  -  Symptom (Erw. 3.1 hievor). Folglich verneinten Verwaltung
und Vorinstanz - trotz rechtzeitig gestellter Diagnose eines POS - den
Anspruch auf medizinische Massnahmen zu Recht.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 3. Mai 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der I. Kammer: Der Gerichtsschreiber: