Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 755/2003
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I 755/03

Urteil vom 10. Mai 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiberin
Amstutz

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdeführerin,

gegen

F.________, 1946, Beschwerdegegner, vertreten durch Fürsprecher Marc F.
Suter, Zentralstrasse 47, 2502 Biel

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 6. November 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1946 geborene, seit 1972 als Sekundarlehrer am Oberstufenzentrum
A.________ tätig gewesene F.________ meldete sich am 30. November 1998 unter
Hinweis auf psychosomatische Beschwerden bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an, nachdem ihn die Bernische Lehrerversicherungskasse per 1.
November 1998 aus gesundheitlichen Gründen vorzeitig hatte pensionieren
lassen. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens sprach ihm die IV-Stelle
Bern im Wesentlichen gestützt auf das Gutachten des Dr. med. H.________,
Spezialarzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 12. November 2002
sowie den Bericht des Dr. med. Z.________, Spezialarzt FMH für Psychiatrie
und Psychotherapie, Spitalzentrum Q.________, vom 12. Juli 2002 rückwirkend
ab 1. November 1998 eine halbe Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad 60 %
zu (Verfügung vom 12. März 2003). Dies bestätigte sie mit Einspracheentscheid
vom 2. Juni 2003.

B.
Die von F.________ dagegen erhobene Beschwerde mit dem Antrag auf Zusprechung
einer ganzen Invalidenrente ab 1. November 1998 hiess das Verwaltungsgericht
des Kantons Bern mit Entscheid vom 6. November 2003 gut.

C.
Die IV-Stelle Bern führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem
Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.

F. ________ schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung hat auf eine Vernehmlassung verzichtet.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmungen über die Voraussetzungen
und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG) und die
Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen Methode des
Einkommensvergleichs (Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 2 ATSG und Art. 1
Abs. 1 IVG; BGE 128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 Erw. 2a und b) zutreffend
dargelegt. Richtig wiedergegeben hat das kantonale Gericht namentlich auch
die Rechtsprechung, wonach bei der Ermittlung des - nach Durchführung
allfälliger Eingliederungsmassnahmen - bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage
trotz Gesundheitsschadens zumutbarerweise erzielbaren Einkommens
(Invalideneinkommen) nur dann auf das nach Eintritt der Invalidität
tatsächlich erzielte Einkommen abzustellen ist, wenn die versicherte Person
eine Tätigkeit ausübt, bei der - kumulativ - besonders stabile
Arbeitsverhältnisse gegeben sind und anzunehmen ist, dass sie die ihr
verbliebene Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, sowie das
Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn
erscheint (BGE 129 V 475 Erw. 4.2.1, 117 V 18, mit Hinweisen). Darauf wird
verwiesen. Zu ergänzen ist, dass die Bestimmungen der auf den 1. Januar 2004
in Kraft getretenen 4. IVG-Revision im hier zu beurteilenden Fall nicht
anwendbar sind, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der
streitigen Verfügung (hier: 12. März 2003) eingetretene Rechts- und
Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt
werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).

2.
Streitig und zu prüfen ist letztinstanzlich einzig das für die Ermittlung des
Invaliditätsgrades massgebende Invalideneinkommen.

2.1 Ausser Frage steht, dass der Beschwerdegegner infolge einer protrahiert
verlaufenden Anpassungsstörung (ICD-10: F.43.25) im Sinne einer reaktiven
Störung von Gefühlen und Sozialverhalten bei seit Jahren persistierender
Belastungssituation (mit Symptomen wie Schlafstörungen, Albträumen, sozialem
Rückzug) in seinem angestammten Beruf als Lehrer nicht mehr einsetzbar ist,
ihm dagegen ein 50 %iges Arbeitspensum in leidensangepassten Tätigkeiten -
namentlich solchen ohne hohe Stressbelastung, ohne Lehrerfunktion und ohne
hierarchisch strukturierte Teamarbeit - zumutbar ist.

2.2 Seit 1999 arbeitet der Beschwerdegegner im Rahmen des Projekts
"Regionales Gedächtnis" insgesamt zu rund 20 % in der Firma G.________ AG.
Die Parteien sind sich darin einig, dass die Restarbeitsfähigkeit von 50 %
(Erw. 2.1 hievor) damit nicht voll ausgeschöpft wird. Obwohl es sich um eine
geeignete Nischentätigkeit handelt, ist - was letztinstanzlich nicht
bestritten wird - eine Steigerung des Arbeitspensums im Rahmen dieses
Anstellungsverhältnisses unwahrscheinlich. Wie das kantonale Gericht
zutreffend erwogen hat und nunmehr auch von der Beschwerdeführerin anerkannt
wird, ist bei der Ermittlung des Invalideneinkommens daher nicht auf den nach
Invaliditätseintritt tatsächlich erzielten, auf ein 50 %-Pensum
aufgerechneten Verdienst bei der Firma G.________ AG abzustellen (vgl. Erw. 1
hievor), sondern von den Tabellenlöhnen gemäss der vom Bundesamt für
Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung (LSE) auszugehen (BGE 129 V
475 Erw. 4.2.1, 126 V 76 Erw. 3b mit Hinweisen).

2.3 Als statistischer Ausgangswert für die Bestimmung des Invalideneinkommens
hat die Vorinstanz den von Männern mit Berufs- und Fachkenntnissen (=
Anforderungsniveau 3) im Dienstleistungssektor erzielten
(Brutto-)Durchschnittslohn gemäss TA1/LSE 1998 (Privater Sektor) herangezogen
und unter Berücksichtigung der bloss 50 %igen Arbeitsfähigkeit, einer
betriebsüblichen wöchentlichen Arbeitszeit von 41,9 Stunden sowie eines sog.
leidensbedingten Abzugs von 15 % (BGE 126 V 78 ff. Erw. 5; AHI 2002 S. 67 ff.
Erw. 4) für das Jahr 1998 - dem massgebenden Zeitpunkt des Rentenbeginns
(vgl. BGE 129 V 223 f. Erw. 4.1 und 4.2 [= SVR 2003 IV Nr. 24 S. 73] - ein
zumutbares Jahreseinkommen von Fr. 27'235.- ermittelt. Die IV-Stelle hält dem
unter Verweis auf die bei der Firma G.________ AG tatsächlich ausgeübte
Tätigkeit  entgegen, der Beschwerdegegner sei durchaus in der Lage, im
Dienstleistungssektor selbstständige und qualifizierte Tätigkeiten zu
verrichten. Das Invalideneinkommen sei daher auf der Basis der
Durchschnittslöhne für Tätigkeiten mit Anforderungsniveau 1 und 2 zu
berechnen. Ferner rechtfertige es sich in Würdigung der Umstände nicht, einen
leidensbedingten Abzug vorzunehmen.

2.4
2.4.1Mit Vorinstanz und Verwaltung ist davon auszugehen, dass der
Beschwerdegegner seine verbleibende Arbeitskraft im Produktionssektor
erwerblich kaum voll auszuschöpfen vermag und für ihn angesichts seiner
Fähigkeiten und Kenntnisse sowie seiner langjährigen Erfahrung im
Bildungsbereich daher praktisch nur Tätigkeiten im Dienstleistungssektor in
Betracht fallen. Dabei besteht kein Anlass, den möglichen Wirkungsbereich auf
den privaten Sektor zu beschränken. Entgegen den vorinstanzlichen Erwägungen
ist daher nicht von den Durchschnittslöhnen gemäss Tabelle TA1/LSE 1998,
sondern von den monatlichen Bruttolöhnen (Zentralwert) für die in
öffentlichen und privaten Dienstleistungen beschäftigten Männer gemäss
Tabelle TA7/LSE 1998 auszugehen.

2.4.2 Hinsichtlich des in Betracht fallenden Anforderungsniveaus ist der
Beschwerdeführerin beizupflichten, dass das universitäre Ausbildungsniveau
des Versicherten, seine intellektuellen Fähigkeiten und sein
Erfahrungsreichtum ihm - objektiv betrachtet - die Verrichtung einer Vielzahl
selbstständiger und qualifizierter Tätigkeiten im Dienstleistungssektor
(Anforderungsniveau 2) erlauben würden, selbst wenn nicht verkannt wird, dass
(etwa) bestimmte Büro- oder andere kaufmännische Arbeiten mitunter besondere
Kenntnisse im Geschäftsverkehr, Computerwesen, in Buchhaltungsangelegenheiten
oder sonstigen administrativen Belangen voraussetzen. Das vorinstanzlich
nicht näher begründete Abstellen auf das Anforderungsniveau 3 (= berufliche
und fachliche Kenntnisse vorausgesetzt) lässt sich daher nur mit der als
krankheitswertig anerkannten psychischen Verfassung des Beschwerdegegners
rechtfertigen. Der Versicherte leidet an tiefer innerpsychischer
Verunsicherung und kann sich nach seinen eigenen, glaubhaften Angaben selbst
im Rahmen seiner aktuellen Nischentätigkeit bei der Firma G.________ AG nicht
vorstellen, seine Arbeit "nach aussen" zu vertreten. Da besondere psychische
Druck- und Stresssituationen nach ärztlicher Einschätzung generell zu
vermeiden sind, kann nicht angenommen werden, dass der Beschwerdegegner den
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt herrschenden Anforderungen einer
qualifizierten und selbstständigen Arbeit - mit erhöhtem individuellem
Verantwortungsbereich und entsprechenden Effizienzerwartungen - mittel- und
längerfristig psychisch standzuhalten vermöchte. In der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird das Abstellen auf das Anforderungsniveau 2
denn auch einzig mit dem Verweis auf die vom Beschwerdegegner seit Eintritt
des Gesundheitsschadens tatsächlich ausgeübten Tätigkeiten im kulturellen
Bereich (nebst der Beschäftigung in der Firma G.________ AG eine
vorübergehende Tätigkeit im Kunsthaus Y.________) begründet, wo er aufgrund
einer nebenberuflich absolvierten Ausbildung zum Museologen sowie seiner
Erfahrungen in Projektarbeit spezifische Qualifikationen ausweist und für ihn
aufgrund geringer Stressbelastung optimal geeignete Nischenfunktionen
übernehmen konnte. Mit Blick auf die verlangte volle Ausschöpfung der
Restarbeitsfähigkeit sowie im Lichte der Schademinderungspflicht kann und
muss dem Beschwerdegegner aber zugemutet werden, dass er sein verbleibendes
Leistungsvermögen auch im weiteren Dienstleistungssegment erwerblich
verwertet.

Ist unter Mitberücksichtigung der psychischen Beeinträchtigungen des
Beschwerdegegners bei der Bestimmung des Invalideneinkommens das Abstellen
auf die Durchschnittslöhne gemäss Anforderungsniveau 3 (= Berufs- und
Fachkenntnisse vorausgesetzt) nicht zu beanstanden, ergibt sich bei einer
betriebsüblichen wöchentlichen Arbeitszeit im Dienstleistungssektor von 42
Stunden im Jahre 1998 (vgl. TA B9.2, in: Die Volkswirtschaft 2002/Heft12, S.
88) für den Zeitpunkt des Rentenbeginns ein Invalideneinkommen von Fr.
34'253.10 (Fr. 5437.- [= LSE 1998/TA7 [S. 33]/Zentralwert Männer) x 42/40 x
12 x 0.5).
2.4.3 Nach dem unter Erw. 2.4 hievor Gesagten wird dem Umstand, dass der
Beschwerdeführer nur Tätigkeiten ohne erhöhte Stressbelastung
(einschliesslich Vermeidung hierarchischer Strukturen) verrichten sollte und
daher die fachlichen und persönlichen Anforderungen an den Arbeitsplatz
gemessen an den beruflichen Qualifikationen des Beschwerdegegners eher
bescheiden ausfallen müssen, mit der Bezugnahme auf das Anforderungsniveau 3
des statistischen Ausgangslohnes Rechnung getragen. Daneben bleibt kein Raum,
die - auch bei einem 50 %igen Arbeitspensum gegebene - Stressempfindlichkeit
und verminderte Belastbarkeit des Versicherten im Rahmen eines
leidensbedingten Abzugs vom statistischen Durchschnittslohn (vgl. Erw. 2.3)
ein weiteres Mal zu berücksichtigen. Soweit das kantonale Gericht die
Gewährung eines leidensbedingten Abzugs von 15 % (ausdrücklich) mit den
gesundheitlichen Einschränkungen begründet, ist damit ein hinreichend
triftiger Grund (BGE 126 V 81 Erw. 6, 123 V 152 Erw. 2) für eine
letztinstanzliche Korrektur der Ermessensausübung (Art. 132 lit. a und 104
lit. a OG) gegeben. Da von den rechtsprechungsgemäss zugelassenen Abzügen mit
Einfluss auf das Invalideneinkommen (siehe AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc) einzig
die bloss teilzeitliche Einsatzfähigkeit als lohnmindernder Umstand ins
Gewicht fällt, muss ein Abzug von 5 % (vgl. LSE 1998, Tabelle 6*, S. 20) als
angemessen gelten. Entsprechend ist das Invalideneinkommen auf Fr. 32'540.40
festzusetzen (Fr. 34'253.10 x 0.95).

2.5 Mit der Vorinstanz erübrigt sich eine Anpassung des sich im Jahre 1996
nach den unbestritten gebliebenen Erwägungen der Vorinstanz  auf Fr.
118'149.- belaufenden Valideneinkommens an die Lohnentwicklung bis 1998,
zumal bereits aus dem Vergleich dieses Betrages mit dem Invalideneinkommen
von Fr. 32'540.40 ein Invaliditätsgrad von rund 72 % (vgl. zur Publikation in
der Amtlichen Sammlung bestimmtes Urteil R. vom 19. Dezember 2003 [U 27/02]
Erw. 3.3) resultiert. Aus der Lohnentwicklung bis 2003 (Verfügungszeitpunkt)
geht keine rechtserhebliche Änderung des Invaliditätsgrades hervor, womit die
vorinstanzliche Zusprechung einer ganzen Invalidenrente ab 1. November 1998
standhält.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 10. Mai 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: