Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 738/2003
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I 738/03

Urteil vom 15. Juni 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiberin
Fleischanderl

S.________, 1970, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno
Häfliger, Schwanenplatz 7, 6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 29. Oktober 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1970 geborene, seit 1. August 1999 als Vorsorgeberater bei der Firma
R.________ in B.________ angestellte S.________ meldete sich am 26. November
2001 unter Hinweis auf seit 1. Dezember 2000 die Arbeitsfähigkeit
beeinträchtigende Rückenbeschwerden bei der Invalidenversicherung zum
Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Aargau klärte die Verhältnisse
in medizinischer sowie beruflich- erwerblicher Hinsicht ab, wobei sie u.a.
Berichte der Arbeitgeberin vom 7. Dezember 2001, 2. September und 5. November
2002 (samt monatlichen Lohnabrechnungen vom 1. Januar bis 31. Dezember 2001)
beizog. Gestützt darauf verneinte sie nach Durchführung des
Vorbescheidverfahrens mit Verfügung vom 13. Januar 2003 eine
rentenbegründende Invalidität. Daran hielt sie auf Einsprache hin fest
(Einspracheentscheid vom 16. Mai 2003). Auf den 31. Juli 2003 erfolgte die
Kündigung des Anstellungsverhältnisses durch die Arbeitgeberin; seither geht
S.________ keiner Erwerbstätigkeit mehr nach.

B.
Die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 29. Oktober 2003).

C.
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in
Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihm ab 1. Dezember 2001 eine
ganze IV-Rente zuzusprechen.

Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung - Erstere unter
Verweis auf die Erwägungen im kantonalen Entscheid - verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) und die Verordnung über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV) vom 11. September
2002 in Kraft getreten. Mit ihnen sind unter anderem auch im
Invalidenversicherungsrecht verschiedene materiellrechtliche Bestimmungen
geändert worden. In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben, und das Sozialversicherungsgericht stellt bei der
Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses
des streitigen Einspracheentscheides (hier: 16. Mai 2003) eingetretenen
Sachverhalt ab (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit
Hinweisen).

1.2 Vorliegend kann offen bleiben, ob auf Grund von Art. 2 ATSG in Verbindung
mit Art. 1 Abs. 1 IVG die ATSG-Normen zur Arbeitsunfähigkeit (Art. 6),
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7), Invalidität (Art. 8) und zur Bestimmung des
Invaliditätsgrades (Art. 16) zu berücksichtigen sind. Im zur Publikation in
der Amtlichen Sammlung bestimmten Urteil A. vom 30. April 2004, I 626/03, hat
das Eidgenössische Versicherungsgericht erkannt, dass es sich bei den in Art.
3-13 ATSG enthaltenen Legaldefinitionen in aller Regel um eine
formellgesetzliche Fassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den
entsprechenden Begriffen vor In-Kraft-Treten des ATSG handelt und sich
inhaltlich damit keine Änderung ergibt, weshalb die hiezu entwickelte
Rechtsprechung übernommen und weitergeführt werden kann (vgl. Erw. 3.1, 3.2
und 3.3). Auch die Normierung des Art. 16 ATSG bewirkt, wie in Erw. 3.5 des
erwähnten Urteils ausgeführt wird, keine Modifizierung der bisherigen
Judikatur zur Invaliditätsbemessung bei erwerbstätigen Versicherten, welche
weiterhin nach der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs vorzunehmen
ist (BGE 128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 f. Erw. 2a und b).

1.3 Im angefochtenen Entscheid werden ferner die Bestimmungen und Grundsätze
zu den Voraussetzungen und zum Umfang des Anspruchs auf eine Invalidenrente
(Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG, je in den bis 31. Dezember 2003 in Kraft
gestandenen Fassungen), zur Aufgabe des Arztes oder der Ärztin bei der
Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit Hinweisen) sowie zum
Beweiswert und zur Beweiswürdigung ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 125
V 352 Erw. 3a mit Hinweis; AHI 2000 S. 152 Erw. 2b mit Hinweisen) richtig
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Die Vorinstanz hat gestützt auf die detailliert wiedergegebene medizinische
Aktenlage einlässlich und in allen Teilen zutreffend erwogen, dass der
Beschwerdeführer gesundheitsbedingt seine bisherige Tätigkeit als
Vorsorgeberater seit 1. Dezember 2000 nurmehr zu 50 % auszuüben in der Lage
ist. Dagegen wird in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde zu Recht nichts
Grundsätzliches vorgebracht. Der Versicherte macht einzig geltend, dass das
kantonale Gericht zwar eine eingeschränkte Arbeitsfähigkeit festgestellt, im
Ergebnis - anlässlich des Einkommensvergleichs - aber nicht darauf abgestellt
habe. Diesem Einwand wird hiernach Rechnung zu tragen sein.

3.
Zu prüfen bleiben die erwerblichen Auswirkungen der verminderten
Leistungsfähigkeit.

In diesem Zusammenhang gilt es - und insofern ist dem Beschwerdeführer
zuzustimmen - zu berücksichtigen, dass für den Einkommensvergleich nach Art.
28 Abs. 2 IVG (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) wie
auch nach Art. 16 ATSG (vgl. Erw. 1.2 in fine hievor) die Verhältnisse im
Zeitpunkt des möglichen Beginns des Rentenanspruchs massgebend sind, wobei
Validen- und Invalideneinkommen auf zeitidentischer Grundlage zu ermitteln
und allfällige rentenwirksame Änderungen der Vergleichseinkommen bis zum -
seit Einführung des Einspracheverfahrens durch das ATSG auch in der
Invalidenversicherung zeitlich relevanten - Erlass des Einspracheentscheides
zu berücksichtigen sind (BGE 129 V 222, 128 V 174; SVR 2003 IV Nr. 11 S. 33
Erw. 3.1.1 mit Hinweisen). Vorliegend ist der frühest mögliche Beginn eines
allfälligen Rentenanspruchs angesichts der seit 1. Dezember 2000
ausgewiesenen 50 %igen Arbeitsunfähigkeit gemäss Art. 29 Abs. 1 lit. b in
Verbindung mit Abs. 2 IVG auf den 1. Dezember 2001 festzusetzen.

3.1 Bei der Bemessung des Valideneinkommens ist entscheidend, was die
versicherte Person im massgebenden Zeitpunkt nach dem Beweisgrad der
überwiegenden Wahrscheinlichkeit als Gesunde tatsächlich verdienen würde (BGE
129 V 224 Erw. 4.3.1 mit Hinweis). Die Einkommensermittlung hat so konkret
wie möglich zu erfolgen, weshalb in der Regel vom letzten Lohn auszugehen
ist, den die versicherte Person vor Eintritt der Gesundheitsschädigung
erzielt hat (ZAK 1980 S. 593 mit Hinweisen; Urteil R. vom 15. Juli 2003, I
793/02, Erw. 4.1 mit Hinweisen). Dabei ist indes auch die berufliche
Weiterentwicklung zu berücksichtigen, wenn konkrete Anhaltspunkte dafür
bestehen, dass die versicherte Person einen beruflichen Aufstieg und ein
entsprechend höheres Einkommen auch tatsächlich realisiert hätte, wenn sie
nicht invalid geworden wäre (RKUV 1993 Nr. U 168 S. 100 Erw. 3b;
Meyer-Blaser, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, Zürich 1997, S. 206
mit Hinweisen).

3.2
3.2.1Den Berichten der ehemaligen Arbeitgeberin vom 7. Dezember 2001, 2.
September und 5. Dezember 2002, deren Lohnangaben der Aufstellung "Einkommen
1999-2002 durch die Firma R.________" des Beschwerdeführers entsprechen, ist
zu entnehmen, dass der Versicherte im Jahr 2000 - noch weitgehend
beschwerdefrei (vgl. Erw. 2 hievor) - Fr. 65'755.15 verdient hat. Trotz einer
bereits um 50 % verminderten Arbeitsfähigkeit erzielte er im Jahre 2001
sodann ein Einkommen von insgesamt Fr. 75'643.95. Entgegen den Vorbringen in
der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erscheint es angesichts dieser Zahlen nicht
glaubhaft, dass der Beschwerdeführer auch bei voller Gesundheit knapp zwei
Jahre nach Beginn seiner Tätigkeit als Vorsorgeberater im Jahre 2001 bereits
ein Einkommen in Höhe von jährlich Fr. 110'000.- bis 120'000.-, d.h. doppelt
soviel wie im Jahr zuvor, zu generieren in der Lage gewesen wäre. Ihm ist
zwar insofern beizupflichten, als er sich auf Grund seiner gesundheitlichen
Probleme 2001 wohl nurmehr beschränkt um Neuaquisitionen hatte kümmern können
und seine Tätigkeit zur Hauptsache im "Verwalten" der bereits vorhandenen
Kundenverbindungen bestanden haben dürfte. Daraus ist indessen zu schliessen,
dass er im Jahre 2001 gleichsam die Früchte seiner Bemühungen der Jahre 1999
und 2000 ernten konnte und sich die auf den angeschlagenen Gesundheitszustand
zurückzuführende mangelnde aktive Geschäftstätigkeit während des Jahres 2001
erst später auswirkte. Angesichts eines Invalideneinkommens in gleicher Höhe
(vgl. BGE 129 V 475 Erw. 4.2.1 mit Hinweisen) ist für das Jahr 2001 keine
rentenerhebliche Erwerbseinbusse ausgewiesen.

3.2.2 In Bezug auf das Jahr 2002, in welchem der Beschwerdeführer ein
Einkommen von lediglich noch Fr. 71'907.15 realisierte, kann  davon
ausgegangen werden, dass sich die gesundheitlichen Beeinträchtigungen in
dessen Verdienstverhältnissen niedergeschlagen haben. Auch in diesem
Zeitpunkt erscheint es jedoch mehr als zweifelhaft, dass ohne
Gesundheitsschädigung ein Einkommen von Fr. 119'000.- - und nur ein solches
vermöchte den Rentenanspruch zu begründen (zur Rundung vgl. BGE 130 V 121) -
hätte erzielt werden können. Soweit der Versicherte sodann vor- wie
letztinstanzlich eine Reduktion des Invalideneinkommens mit dem Argument
behauptet, von einer im Jahre 2002 erzielten Provision von Fr. 37'000.- hätte
er Fr. 22'000.- bzw. Fr. 25'000.- an seinen Vater zurückzahlen müssen, kann
daraus, wie bereits das kantonale Gericht zutreffend erkannt hat, nichts zu
seinen Gunsten abgeleitet werden. Auch wenn es sich bei der vom Vater des
Versicherten getätigten Transaktion (Abschluss einer Lebensversicherung) um
eine Gefälligkeitshandlung gegenüber seinem krankheitsbedingt in seiner
beruflichen Tätigkeit behinderten Sohn gehandelt haben sollte, was indes
allein aus dem Umstand der Rückzahlung der besagten Summe nicht hervorgeht,
ist letztlich, sofern für die Bestimmung des Invalideneinkommens auf den
tatsächlich erzielten Verdienst abgestellt wird, in erster Linie massgeblich,
dass es sich dabei nicht um sogenannten - unbeachtlichen - Soziallohn handelt
(zu den anderen, hier nicht strittigen Voraussetzungen: BGE 129 V 475 Erw.
4.2.1, 117 V 18 mit Hinweisen). Dafür liegen nicht genügend Anhaltspunkte
vor, dürfte doch gerade in der Vorsorgeversicherungsbranche der verwandt- und
bekanntschaftliche Hintergrund oft eine wichtige Rolle bei
Geschäftsabschlüssen spielen. Dahinter jedesmal einen Verdienst mit
"Soziallohncharakter" zu vermuten, ginge zu weit und hiesse, da stets der
Ursprung bzw. die Motivation eines Einkommenszuflusses zu prüfen wäre, die
Bemessung des Invalideneinkommens zu überstrapazieren.

3.2.3 Was die Einkommensverhältnisse des Jahres 2003 anbelangt, welche bis
zum 16. Mai 2003 zu berücksichtigen sind (vgl. Erw. 3 hievor), ist auf Grund
der Akten, insbesondere der Auflistung der "Einkommen 1999-2003 durch die
Firma R.________", ersichtlich, dass ein massiver Verdiensteinbruch erfolgt
war (Einkommen vom 1. Januar bis 31. Mai 2003: Fr. 10'280.50), der
schliesslich in die Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch die
Arbeitgeberin per 31. Juli 2003 mündete. Die Höhe der in den Vorjahren trotz
gesundheitlicher Probleme erzielten Einkommen sowie der Umstand, dass sich
der Durchschnittslohn eines mit selbstständigen und qualifizierten bzw.
höchst anspruchsvollen und schwierigsten Arbeiten betrauten männlichen
Arbeitnehmers (Anforderungsniveau 1 und 2 des Arbeitsplatzes) im
Versicherungsgewerbe bereits im Jahre 2000 gemäss den vom Bundesamt für
Statistik herausgegebenen Tabellen auf Fr. 111'720.- (Fr. 9310.- x 12; Die
Schweizerische Lohnstrukturerhebung [LSE] 2000, S. 31, Tabelle TA1) und in
Berücksichtigung einer betriebsüblichen Arbeitszeit von 41,5 Stunden
wöchentlich (Die Volkswirtschaft, 5/2004, S. 94, Tabelle B9.2) auf Fr.
115'909.50 belaufen hat, lassen, verbunden mit der Tatsache, dass der
Versicherte im Jahre 2003 schon seit vier Jahren im
Vorsorgeversicherungsbereich tätig war, durchaus die Annahme eines sich bei
ca. Fr. 120'000.- bewegenden Valideneinkommens zu. Die Sache ist
diesbezüglich jedoch noch abklärungsbedürftig und daher an die Verwaltung
zurückzuweisen, welche es bisher - ebenso wie die Vorinstanz - unterlassen
hat, die hypothetischen Einkommensverhältnisse des Jahres 2003 zu prüfen. Bei
rechtserheblicher Veränderung der finanziellen Gegebenheiten, für welche
starke Indizien sprechen, müsste in Berücksichtigung der um 50 % verminderten
Arbeitsfähigkeit ein erneuter Einkommensvergleich angestellt werden.

4.
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Prozessausgang entsprechend
hat der Beschwerdeführer Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs.
2 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 29. Oktober 2003
sowie der Einspracheentscheid vom 16. Mai 2003 aufgehoben werden und die
Sache an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen wird, damit diese,
nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erw. 3.2.3, neu über den Rentenanspruch
des Beschwerdeführers befinde.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 15. Juni 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: