Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 736/2003
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I 736/03

Urteil vom 4. Juni 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Kernen; Gerichtsschreiberin
Fleischanderl

E.________, 1960, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Urs
Schaffhauser, Kapellplatz 1, 6004 Luzern,

gegen

IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Luzern

(Entscheid vom 14. Oktober 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1960 geborene E.________ war vom 1. Oktober 1997 bis zur Kündigung durch
die Arbeitgeberin per 30. Juni 2000 bei der Firma V.________ AG tätig
gewesen. Seit 17. November 1999 durchgehend arbeitsunfähig geschrieben,
meldete sie sich am 3. Juli 2001 unter Hinweis auf "Komplikationen mit
rechter Hand" bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Hilfsmittel,
Rente) an. Die IV-Stelle Luzern holte u.a. Auskünfte der ehemaligen
Arbeitgeberin vom 11. Juli 2001 sowie einen Bericht des Hausarztes Dr. med.
A.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 1. September 2001 (samt Bericht des
Dr. med. W.________, Neurologie FMH, vom 3. Juli 2000) ein. Ferner
veranlasste sie eine interdisziplinäre Begutachtung durch die Medizinische
Abklärungsstelle (MEDAS) (Expertise vom 15. Oktober 2002). Gestützt darauf
verfügte die IV-Stelle am 22. Oktober 2002 die Zusprechung von beruflichen
Massnahmen in Form von Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche durch
die interne Stellenvermittlung. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens
verneinte sie mit Verfügung vom 9. Januar 2003, bestätigt durch den
Einspracheentscheid vom 15. April 2003, sowohl den Anspruch auf Hilfsmittel
wie auch denjenigen auf eine Rente, da keine rechtsgenügliche Invalidität
vorliege.

B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons
Luzern ab (Entscheid vom 14. Oktober 2003).

C.
E.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in
Aufhebung des angefochtenen Entscheides sei ihr eine ganze, eventuell eine
halbe Invalidenrente zuzusprechen; subeventuell sei die Angelegenheit an die
Verwaltung zur Aktenergänzung und Neubeurteilung zurückzuweisen.

Während das kantonale Gericht und die IV-Stelle auf Abweisung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen, verzichtet das Bundesamt für
Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Am 1. Januar 2003 sind das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) und die Verordnung über
den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSV) vom 11. September
2002 in Kraft getreten. Mit ihnen sind unter anderem auch im
Invalidenversicherungsrecht verschiedene materiellrechtliche Bestimmungen
geändert worden. In zeitlicher Hinsicht sind grundsätzlich diejenigen
Rechtssätze massgebend, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben, und das Sozialversicherungsgericht stellt bei der
Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf den bis zum Zeitpunkt des Erlasses
des streitigen Einspracheentscheides (hier: 15. April 2003) eingetretenen
Sachverhalt ab (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1, je mit
Hinweisen).

1.2 Vorliegend kann offen bleiben, ob auf Grund von Art. 2 ATSG in Verbindung
mit Art. 1 Abs. 1 IVG die ATSG-Normen zur Arbeitsunfähigkeit (Art. 6),
Erwerbsunfähigkeit (Art. 7), Invalidität (Art. 8) und zur Bestimmung des
Invaliditätsgrades (Art. 16) zu berücksichtigen sind. Im zur Publikation in
der Amtlichen Sammlung bestimmten Urteil A. vom 30. April 2004, I 626/03, hat
das Eidgenössische Versicherungsgericht erkannt, dass es sich bei den in Art.
3-13 ATSG enthaltenen Legaldefinitionen in aller Regel um eine
formellgesetzliche Fassung der höchstrichterlichen Rechtsprechung zu den
entsprechenden Begriffen vor In-Kraft-Treten des ATSG handelt und sich
inhaltlich damit keine Änderung ergibt, weshalb die hiezu entwickelte
Rechtsprechung übernommen und weitergeführt werden kann (vgl. das erwähnte
Urteil A. vom 30. April 2004, Erw. 3.1, 3.2 und 3.3). Auch die Normierung des
Art. 16 ATSG führt nicht zu einer Modifizierung der bisherigen Judikatur zur
Invaliditätsbemessung bei erwerbstätigen Versicherten, welche weiterhin nach
der allgemeinen Methode des Einkommensvergleichs vorzunehmen ist (Urteil A.
vom 30. April 2004, Erw. 3.4; BGE 128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 f. Erw. 2a und
b).

1.3 Das kantonale Gericht hat ferner die Bestimmungen und Grundsätze zu den
Voraussetzungen und zum Umfang des Anspruchs auf eine Invalidenrente (Art. 28
Abs. 1 und 1bis IVG, je in den bis 31. Dezember 2003 in Kraft gestandenen
Fassungen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

2.
Streitig ist der Rentenanspruch der Beschwerdeführerin, wohingegen der mit
Verfügung vom 9. Januar 2003 ebenfalls verneinte Anspruch auf Hilfsmittel
bereits einspracheweise nicht (mehr) geltend gemacht wurde.

3.
Zu prüfen ist vorab die noch verbliebene Arbeitsfähigkeit.

3.1 Nach Lage der medizinischen Akten, insbesondere gestützt auf das
interdisziplinäre MEDAS-Gutachten vom 15. Oktober 2002, in welchem - mit
wesentlicher Einschränkung der zumutbaren Arbeitsfähigkeit - ein
Halbseitenschmerzsyndrom rechts im Sinne eines Complex regional pain syndrome
(CRPS) des rechten Armes bei Status nach einer Karpaltunnelsyndromoperation
im Februar 2000 sowie eines lumbospondylogenen Syndroms rechts bei
Adipositas, Fehlstatik und kleiner Diskushernie L4/5 rechts diagnostiziert
wurde, ist davon auszugehen, dass die Beschwerdeführerin in ihrer bisherigen
Tätigkeit als Flaschensortiererin, wie in jeder anderen stereotypen
repetitiven Beschäftigung, nicht mehr arbeitsfähig ist. Eine körperlich
leichte und nicht stereotype repetitive Arbeit ist ihr indes noch zu 80 %
zumutbar, wobei sich auch hier vor allem die rheumatologischen Befunde
limitierend auswirken.

3.2 Die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde dagegen erhobenen Einwände
vermögen zu keinem anderen Schluss zu führen. Bereits die Vorinstanz hat mit
einlässlicher und überzeugender Begründung erwogen, dass der MEDAS-Expertise
(vom 15. Oktober 2002) voller Beweiswert zuzuerkennen ist (BGE 125 V 352 Erw.
3a mit Hinweis). Für ergänzende medizinische Abklärungen, wie sie die
Beschwerdeführerin beantragt, bleibt kein Raum, zumal die Gutachter die
gesundheitlichen Beeinträchtigungen sowohl aus rheumatologischer wie auch aus
psychiatrischer Sicht untersuchten.

3.2.1 Soweit geltend gemacht wird, die Diagnose des Morbus Sudeck, enthalten
u.a. in den Berichten des Dr. med. W.________ vom 3. Juli 2000 und des Dr.
med. A.________ vom 1. September 2001, fehle im Gutachten, ist der
Versicherten zu entgegnen, dass das Sudeck-Syndrom anamnestisch mehrmals
erwähnt wurde, weshalb davon ausgegangen werden kann, dass die MEDAS-Ärzte
sich dieses Krankheitsbildes durchaus bewusst waren. Im Übrigen gilt es zu
beachten, dass die korrekte Diagnosestellung eines Gesundheitsschadens keinen
Einfluss auf den für die Invaliditätsbemessung relevanten, allein auf Grund
der Auswirkungen des Leidens ermittelten Grad der Arbeitsunfähigkeit hat. In
jedem Einzelfall muss eine Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit unabhängig
von der Diagnose und grundsätzlich unbesehen der Ätiologie ausgewiesen und in
ihrem Ausmass bestimmt sein (BGE 127 V 298 Erw. 4c mit Hinweisen).
Entscheidend ist die nach einem weitgehend objektivierten Massstab zu
erfolgende Beurteilung, ob und inwiefern der versicherten Person trotz ihres
Leidens die Verwertung ihrer Restarbeitsfähigkeit auf dem ihr nach ihren
Fähigkeiten offen stehenden ausgeglichenen Arbeitsmarkt noch sozialpraktisch
zumutbar und für die Gesellschaft tragbar ist (BGE 127 V 298 Erw. 4c mit
Hinweisen).

3.2.2 Nicht stichhaltig ist sodann das Vorbringen, die restliche
Arbeitsfähigkeit sei auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nicht verwertbar,
weshalb eine vollständige Invalidität angenommen werden müsse. Wohl dürfen
von versicherten Personen im Rahmen der Selbsteingliederung nicht
realitätsfremde, unzumutbare Massnahmen verlangt werden. Wer eine an sich
zumutbare Tätigkeit nicht ausübt, weil der ausgeglichene Arbeitsmarkt sie
praktisch nicht kennt (vgl. zum Begriff des ausgeglichenen Arbeitsmarktes:
BGE 110 V 276 Erw. 4b), verletzt die Selbsteingliederungspflicht nicht, wenn
er die Restarbeitsfähigkeit erwerblich nicht verwertet. Es wäre sinnwidrig
und unsachgerecht, einen Arbeitsmarkt zu unterstellen, der praktisch nicht
existiert - oder dann nur als "absolut einmaliger Glücksfall" (ZAK 1989 S.
321 Erw. 4a; Rudolf Rüedi, Im Spannungsfeld zwischen Schadenminderungspflicht
und Zumutbarkeitsgrundsatz bei der Invaliditätsbemessung nach einem
ausgeglichenen Arbeitsmarkt, in: René Schaffhauser/Franz Schlauri [Hrsg.],
Rechtsfragen der Invalidität in der Sozialversicherung, St. Gallen 1999, S.
42). Davon kann vorliegend jedoch nicht die Rede sein. Als mögliche
Tätigkeiten, welche nach dem von den MEDAS-Ärzten geschilderten Arbeitsprofil
noch zu 80 % zumutbar sind (körperlich leichte, nicht stereotype repetitive
Beschäftigungen), kämen beispielsweise industrielle visuelle
Kontrolltätigkeiten, Aufsichts- und Überwachungsfunktionen, die Annahme und
Abgabe von Textilien in einem Textilreinigungsgeschäft, das Vertragen von
Drucksachen, die Mithilfe in einer Cafeteria oder auch - sofern nicht
gleichförmig auszuführen - die Fabrikarbeit an voreingestellten Maschinen in
Frage. Auf dem allgemeinen (ausgeglichenen) Arbeitsmarkt stehen der
Beschwerdeführerin somit genügend Stellen offen, die ihren gesundheitlichen
Anforderungen zu genügen vermögen. Nicht einzustehen hat die
Invalidenversicherung demgegenüber dafür, dass eine versicherte Person - wie
von der Beschwerdeführerin geltend gemacht - auf Grund mangelhafter
Ausbildung oder sprachlicher Verständigungsschwierigkeiten keine
entsprechende Arbeit findet, weil das Stellenangebot aus Gründen der
Wirtschaftslage knapp ist. Wesentlich ist einzig, dass geeignete
Arbeitsmöglichkeiten grundsätzlich vorhanden sind. Insoweit vermag
Erwerbslosigkeit aus invaliditätsfremden Gründen keinen Rentenanspruch zu
begründen (BGE 107 V 21 Erw. 2c; AHI 1999 S. 238 f. Erw. 1 mit Hinweisen).

4.
4.1 Hinsichtlich der erwerblichen Auswirkungen der festgestellten
Arbeitsunfähigkeit hat es, mit dem kantonalen Gericht und der IV-Stelle, sein
Bewenden damit, dass jedenfalls kein für die Zusprechung einer Invalidenrente
erforderlicher Erwerbsunfähigkeitsgrad resultiert.

4.2 Was dagegen eingewendet wird, ändert an diesem Ergebnis nichts. Zum einen
hält die Beschwerdeführerin richtig fest, dass ihr auf der Grundlage der
Arbeitgeberauskünfte vom 11. Juli 2001 auf Fr. 36'000.- veranschlagtes
Valideneinkommen aus invaliditätsfremden Gründen weit unter dem
tabellarischen Durchschnittsverdienst liegt. Diesem Umstand hat die IV-Stelle
indes bereits dadurch vollumfänglich Rechnung getragen, dass sie den
zumutbarerweise zu erzielenden Invalidenlohn ebenfalls um 30 % gesenkt hat
(vgl. zum Ganzen BGE 129 V 225 Erw. 4.4 mit Hinweis auf RKUV 1993 Nr. U 168
S. 104 Erw. 5b und ZAK 1989 S. 458 Erw. 3b). Davon unabhängig bestimmt sich
die Frage, ob und gegebenenfalls in welchem Ausmass Tabellenlöhne
herabzusetzen sind, auf Grund sämtlicher persönlicher und beruflicher
Umstände des konkreten Einzelfalles (leidensbedingte Einschränkung, Alter,
Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad),
welche nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen sind, wobei der
maximal zulässige Abzug 25 % beträgt (BGE 126 V 78 ff. Erw. 5). Im
vorliegenden Fall sind die Voraussetzungen für einen leidensbedingten Abzug
grundsätzlich gegeben, weil sich die Beschwerdeführerin wegen des bestehenden
Gesundheitsschadens auch im Rahmen einer angepassten Tätigkeit möglicherweise
mit einem geringeren Lohn zu begnügen hat. Erfüllt ist sodann auch das
Kriterium der Nationalität/Aufenthaltskategorie, da die über eine
Aufenthaltsbewilligung der Kategorie B (Jahresaufenthalterin) verfügende
Beschwerdeführerin im Vergleich zum Durchschnittslohn aller Schweizer- und
Ausländerinnen (Total) mit einer Lohneinbusse von rund 13 % rechnen muss (Die
Schweizerische Lohnstrukturerhebung [LSE] 2000, S. 47, Tabelle TA12).
Demgegenüber wirkt sich der Umstand, dass die 1995 in die Schweiz eingereiste
und seit 1997 erwerbstätige Versicherte zur Zeit des allfälligen
Rentenbeginns im Jahr 2000 (BGE 129 V 222; vgl. Art. 48 Abs. 2 Satz 1 IVG) 40
Jahre alt gewesen wäre, eher lohnerhöhend aus (LSE 2000, S. 43, Tabelle TA9
[rund 3 %]). Hinsichtlich des Faktors Teilzeit weist die LSE 2000 in ihrer
Tabelle 9 (S. 24) für Teilzeitlerinnen mit einem Beschäftigungsgrad zwischen
75 und 89 % ein im Vergleich zu in Vollzeit angestellten Frauen sogar um rund
5 % höheres Lohnniveau aus (vgl. dazu auch AHI 2002 S. 70 Erw. 4b/cc). In
Würdigung der gesamten persönlichen und beruflichen Umstände lässt sich der
von Vorinstanz und Verwaltung in Höhe von 15 % vorgenommene Abzug vom
statistischen Lohn folglich nicht beanstanden und gibt insbesondere im Rahmen
der richterlichen Ermessenskontrolle keinen Anlass zu abweichender
Ermessensausübung (vgl. Art. 132 lit. a OG; BGE 123 V 152 Erw. 2).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 4. Juni 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin: