Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 728/2003
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I 728/03

Urteil vom 3. Februar 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Jancar

A.________, 1973, Beschwerdeführerin,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 14. Oktober 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1973 geborene A.________ leidet seit September 1999 an Encephalomyelitis
disseminata (Multiple Sklerose) mit schubförmigem Verlauf mit/bei zunehmender
beinbetonter spastischer Tetraparese, beinbetonten generalisierten
ataktischen Störungen, psychischer Labilität, vermehrter Müdigkeit,
Konzentrationsstörungen sowie neurogenen Blasen- und Darmfunktionsstörungen
(Bericht des Dr. med. B.________, prakt. Arzt, vom 28. April 2001). Am 20.
März 2001 meldete sie sich bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau holte diverse Arztberichte ein und liess die
Leistungsfähigkeit der Versicherten im Aufgabenbereich als Hausfrau ein
erstes Mal am 19. Juni 2001 an Ort und Stelle abklären. Mit Verfügung vom 25.
Oktober 2001 sprach sie ihr ab 1. September bis 30. November 2000 eine
Viertelsrente bei einem Invaliditätsgrad von 41 % und ab 1. Dezember 2000
eine halbe Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 57 % zu. Hiegegen
erhob die Versicherte beim Versicherungsgericht des Kantons Aargau
Beschwerde, worauf die IV-Stelle am 12. Dezember 2001 die Verfügung vom 25.
Oktober 2001 zwecks Vornahme zusätzlicher Abklärungen pendente lite aufhob.
Das kantonale Gericht schrieb dieses Verfahren mit Beschluss vom 18. Dezember
2001 als gegenstandslos von der Kontrolle ab. Nach Einholung einer
Stellungnahme ihres Medizinischen Dienstes, Dr. med. Wälchli, vom 4. Dezember
2001 liess die IV-Stelle ein zweites Mal die Leistungsfähigkeit der
Versicherten im Aufgabenbereich als Hausfrau an Ort und Stelle abklären. Mit
Verfügung vom 5. Juni 2002 sprach sie ihr ab 1. März 2001 eine
Hilflosenentschädigung leichten Grades zu. Mit weiterer Verfügung vom 4. Juli
2002 sprach sie ihr ab 1. September 2000 eine ganze Invalidenrente bei einem
Invaliditätsgrad von 69 % zu.

B.
Die gegen die Verfügung vom 5. Juni 2002 mit dem Antrag auf Zusprechung einer
Entschädigung für Hilflosigkeit mittelschweren Grades erhobene Beschwerde
wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 14.
Oktober 2003 ab.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt die Versicherte eine Neuabklärung
und die Zusprechung einer Entschädigung für Hilflosigkeit schweren Grades.
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherung verzichten auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen über die
Hilflosenentschädigung (Art. 42 IVG; Art. 36 f. IVV) in der hier anwendbaren,
vor In-Kraft-Treten des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) am 1. Januar 2003 geltenden Fassung (BGE 129
V 4 Erw. 1.2) zutreffend wiedergegeben. Gleiches gilt für die dazu ergangene
Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts, insbesondere zu den
für die Bemessung der Hilflosigkeit massgebenden sechs alltäglichen
Lebensverrichtungen (Ankleiden, Auskleiden; Aufstehen, Absitzen, Abliegen;
Essen; Körperpflege; Verrichten der Notdurft; Fortbewegung [im oder ausser
Haus], Kontaktaufnahme; BGE 127 V 97 Erw. 3c mit Hinweisen), zu den Graden
der Hilflosigkeit und zur erforderlichen Anzahl betroffener
Lebensverrichtungen (BGE 121 V 90 Erw. 3b), zum Vorgehen bei mehrere
Teilfunktionen umfassenden Lebensverrichtungen (BGE 121 V 91 Erw. 3c) sowie
zur indirekten Dritthilfe (BGE 121 V 91 Erw. 3c, 107 V 149 Erw. 1c mit
Hinweisen). Weiter ist mit der Vorinstanz festzuhalten, dass sich das
Erfordernis der dauernden persönlichen Überwachung als zusätzliche oder als
alternative Anspruchsvoraussetzung gemäss Art. 42 Abs. 2 IVG und Art. 36 IVV
nicht auf die alltäglichen Lebensverrichtungen bezieht und deshalb von der
indirekten Dritthilfe zu unterscheiden ist (ZAK 1984 S. 357 Erw. 2c). Es
handelt sich hier vielmehr um eine Art medizinischer oder pflegerischer
Hilfeleistung, welche infolge des physischen, geistigen oder psychischen
Zustandes der versicherten Person notwendig ist (BGE 107 V 139 Erw. 1b mit
Hinweisen; ZAK 1990 S. 46 Erw. 2c). Richtig sind schliesslich die
Ausführungen der Vorinstanz zur Zusammenarbeit zwischen Arzt und Verwaltung
bei der Erarbeitung der Grundlagen für die Bemessung der Hilflosigkeit (AHI
2000 S. 317 ff.). Darauf wird verwiesen.

1.2 Zu ergänzen ist, dass einem Abklärungsbericht an Ort und Stelle gemäss
Art. 69 Abs. 2 IVV (in der bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung)
bei der Beurteilung der Hilflosigkeit im Sinne des Art. 36 IVV voller
Beweiswert zukommt, wenn er folgenden Anforderungen genügt: Als
Berichterstatter wirkt eine qualifizierte Person, welche Kenntnis der
örtlichen und räumlichen Verhältnisse sowie der aus den seitens der Mediziner
gestellten Diagnosen sich ergebenden Beeinträchtigungen und
Hilfsbedürftigkeiten hat. Bei Unklarheiten über physische oder psychische
Störungen und/oder deren Auswirkungen auf alltägliche Lebensverrichtungen
sind Rückfragen an die medizinischen Fachpersonen nicht nur zulässig, sondern
notwendig. Weiter sind die Angaben der Hilfe leistenden Personen zu
berücksichtigen, wobei divergierende Meinungen der Beteiligten im Bericht
aufzuzeigen sind. Der Berichtstext muss plausibel, begründet und detailliert
bezüglich der einzelnen alltäglichen Lebensverrichtungen sowie der
tatbestandsmässigen Erfordernisse der dauernden persönlichen Überwachung und
der Pflege gemäss Art. 36 IVV sein. Schliesslich hat er in Übereinstimmung
mit den an Ort und Stelle erhobenen Angaben zu stehen. Das Gericht greift,
sofern der Bericht eine zuverlässige Entscheidungsgrundlage im eben
umschriebenen Sinne darstellt, in das Ermessen der die Abklärung tätigende
Person nur ein, wenn klar feststellbare Fehleinschätzungen vorliegen. Das
gebietet insbesondere der Umstand, dass die fachlich kompetente
Abklärungsperson näher am konkreten Sachverhalt ist als das im Beschwerdefall
zuständige Gericht (noch nicht in der Amtlichen Sammlung veröffentlichtes
Urteil M. vom 27. Oktober 2003 Erw. 6.2, I 138/02).

Die am 1. Januar 2004 in Kraft getretenen Änderungen des Bundesgesetzes über
die Invalidenversicherung vom 21. März 2003 und der Verordnung über die
Invalidenversicherung vom 21. Mai 2003 sind nicht anwendbar (BGE 129 V 4 Erw.
1.2).

2.
2.1 Anlässlich der Abklärung im Haushalt vom 20. März 2002 wurde festgestellt,
die Versicherte könne sich die Kleider selber anziehen und brauche nur hie
und da Dritthilfe. Das Aufstehen, Absitzen und Abliegen sei ihr erschwert
selber möglich. Essen und Schneiden könne sie grundsätzlich selber. Harte
Sachen könne sie nicht selber schneiden. Dritthilfe sei hie und da nötig. Bei
der Körperpflege benötige sie trotz eines Duschbretts beim Einsteigen in die
Badewanne und beim Aussteigen Dritthilfe. Seit März 2000 sei sie
stuhlinkontinent. Sie trage Pampers, die sie selber auswechsle. Seit März
2000 könne sie nicht mehr selber zum Arzt gehen, weshalb dieser zu ihr nach
Hause komme. Gestützt hierauf ging die IV-Stelle davon aus, die Versicherte
sei regelmässig in den Bereichen Körperpflege und Fortbewegung auf erhebliche
Dritthilfe angewiesen, weshalb leichte Hilflosigkeit vorliege.

2.2 Die Versicherte macht geltend, sie sei in allen sechs Lebensverrichtungen
fast vollständig eingeschränkt und auf volle Hilfe Dritter angewiesen. Zudem
sei ihre psychische Situation nicht berücksichtigt worden. Sie leide an einer
schweren unheilbaren Depression. Sie suche Isolation, Alleinsein und
Einsamkeit. Ihre labile Psyche könne sie leicht zu einer Tragödie führen.
Deshalb brauche sie dauernd persönliche Überwachung.

Im Bericht vom 28. April 2001 führte Dr. med. B.________ unter anderem aus,
die Versicherte leide an psychischer Labilität. Die psychische Belastung
(recte: Belastbarkeit) sei massiv reduziert. Zusammen mit den körperlichen
Problemen sei ihre Leistungsfähigkeit zu ca. 70 % herabgesetzt. Zudem sei sie
auf Hilfe ihres Ehemannes angewiesen (intermittierend Blasen- und
Stuhlinkontinenz). Im Bericht vom 7. November 2001 legte der die Versicherte
betreuende Neurologe Dr. med. C.________, Oberarzt, Spital Z.________, dar,
sie sei wegen einer schwer verlaufenden Systemerkrankung des zentralen
Nervensystems mit erheblicher Behinderung aus neurologischer Sicht seit
mindestens Dezember 1999 zu 100 % arbeitsunfähig. Seit einem Jahr sei sie in
den eigenen Verrichtungen nicht mehr selbstständig und könne den Haushalt
nicht mehr führen, weshalb sie seiner Meinung nach Anspruch auf
Hilflosenunterstützung habe. Im Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle
vom 20. März 2002 wurde festgehalten, auf Grund ihrer Krankheit leide die
Versicherte an Depressionen und sie sei seit November 2001 beim Psychiater
Dr. med. D.________, in Behandlung.

Diese Umstände hätten für die Verwaltung Anlass sein müssen, zu untersuchen,
wie es um den psychischen Gesundheitszustand der Versicherten steht. Ein
entsprechender fachärztlicher Bericht wurde indessen nicht eingeholt.
Abgesehen davon enthalten die vorhandenen medizinischen Unterlagen in Bezug
auf die Frage, inwieweit die Beschwerdeführerin in den einzelnen
Lebensverrichtungen beeinträchtigt ist, keine rechtsgenüglichen Angaben.

Aus dem Gesagten folgt, dass die von der IV-Stelle durchgeführten
medizinischen Abklärungen nicht genügen, um die Hilflosigkeit zu bemessen.
Unter diesen Umständen kann nicht ohne weiteres auf das Ergebnis der
Haushaltabklärung abgestellt werden. Die Sache ist demnach an die Verwaltung
zurückzuweisen, damit sie eine Erkundigung beim behandelnden Psychiater und
erforderlichenfalls weitere medizinische Erhebungen vornehme. Die IV-Stelle
wird weiter zu entscheiden haben, ob eine neue Abklärung an Ort und Stelle
durchgeführt werden soll oder aber der Bericht vom 20. März 2002 unter Beizug
eines Arztes daraufhin zu überprüfen ist, inwieweit er den medizinisch
festgestellten Beeinträchtigungen und Hilfsbedürftigkeiten hinreichend
Rechnung trägt. Danach wird die IV-Stelle über das Leistungsbegehren neu
befinden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. Oktober 2003
und die Verfügung vom 5. Juni 2002 aufgehoben, und es wird die Sache an die
IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen, damit diese, nach erfolgter
Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch auf
Hilflosenentschädigung neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 3. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: