Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 724/2003
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I 724/03

Urteil vom 30. Juni 2004
II. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Schön und Frésard; Gerichtsschreiber Lanz

R.________, 1956, Beschwerdeführerin, vertreten durch Fürsprecher Ulrich
Seiler, Falkenhöheweg 20, 3012 Bern,

gegen

IV-Stelle Bern, Chutzenstrasse 10, 3007 Bern, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Bern

(Entscheid vom 3. Oktober 2003)

Sachverhalt:

A.
Die 1956 geborene R.________ reiste im Jahr 1988 aus ihrer Heimat Jugoslawien
in die Schweiz ein und arbeitete seither als Hausmädchen in einem
Hotelbetrieb. Ab Januar 1999 musste sie wegen seit ca. 1997 aufgetretenen
progredienten Rückenschmerzen ihr Arbeitspensum reduzieren. Im Mai/Juni 2001
meldete sich R.________ bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an.
Nach medizinischen und erwerblichen Abklärungen sprach die IV-Stelle Bern der
Versicherten, welche zwischenzeitlich im Februar 2002 die bisherige Tätigkeit
gesundheitsbedingt aufgegeben hatte, mit Verfügung vom 5. August 2002
rückwirkend ab 1. Juni 2000 eine halbe Invalidenrente (nebst Zusatzrente für
den Ehemann) zu.

B.
Beschwerdeweise beantragte R.________, es sei ihr die halbe Rente bereits ab
1. Mai 2001 (recte: 2000) sowie eine ganze Rente ab 1. Mai 2002 zuzusprechen;
evtl. sei die Verwaltung anzuweisen, weitere Abklärungen zu treffen und über
den Leistungsanspruch neu zu verfügen.

Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern stellte der Versicherten mit
prozessleitender Verfügung eine mögliche reformatio in peius in Aussicht.
Nachdem an der Beschwerde festgehalten wurde, setzte es den Rentenbeginn in
teilweiser Gutheissung des Rechtsmittels auf den 1. Mai 2000 fest, verband
dies aber mit der Feststellung, dass lediglich Anspruch auf eine
Viertelsrente bestehe, wobei die Verwaltung noch den Härtefall zu prüfen habe
(Entscheid vom 3. Oktober 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt R.________ ihre vorinstanzlichen
Rechtsbegehren erneuern.

Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, ohne
sich weiter zur Sache zu äussern. Das Bundesamt für Sozialversicherung hat
sich nicht vernehmen lassen.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Im Beschwerdeverfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von
Versicherungsleistungen ist die Überprüfungsbefugnis des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts nicht auf die Verletzung von Bundesrecht
einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens beschränkt,
sondern sie erstreckt sich auch auf die Angemessenheit der angefochtenen
Verfügung; das Gericht ist dabei nicht an die vorinstanzliche Feststellung
des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden und kann über die Begehren der
Parteien zu deren Gunsten oder Ungunsten hinausgehen (Art. 132 OG).

1.2 Im Verfahren der Verwaltungsgerichtsbeschwerde hat das Eidgenössische
Versicherungsgericht das Recht von Amtes wegen anzuwenden (Art. 114 Abs. 1 in
fine in Verbindung mit Art. 132 OG). Im Rahmen dieser Rechtsanwendung von
Amtes wegen prüft es u.a., ob der angefochtene Entscheid Bundesrecht verletzt
(Art. 104 lit. a in Verbindung mit Art. 132 OG). Es kann eine
Verwaltungsgerichtsbeschwerde aus andern als den vom Beschwerdeführer
vorgetragenen Gründen gutheissen, hat sich also nicht auf die Prüfung der von
jenem erhobenen Rügen zu beschränken (BGE 125 V 500 Erw. 1 mit Hinweisen).

2.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts vom 6. Oktober 2000 (ATSG) in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Da sich der vorliegend rechtsrelevante Sachverhalt indessen vor
In-Kraft-Treten des ATSG verwirklicht hat und die streitige
Verwaltungsverfügung vom 5. August 2002 ebenfalls noch unter dem bis 31.
Dezember 2002 gültig gewesenen Recht ergangen ist, bleibt dieses für die
Beurteilung der Streitsache massgebend (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).
Das wurde vom kantonalen Gericht richtig erkannt. Anzufügen bleibt, dass im
Lichte der dargelegten Grundsätze auch die am 1. Januar 2004 in Kraft
getretene 4. IVG-Revision nicht anwendbar ist.

Die demnach massgebenden Bestimmungen mit der hiezu ergangenen Rechtsprechung
werden im angefochtenen Entscheid richtig dargelegt. Es betrifft dies
namentlich den Invaliditätsbegriff (Art. 4 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember
2002 gültig gewesenen Fassung), die Voraussetzungen und den Umfang des
Anspruchs auf eine Rente der Invalidenversicherung (Art. 28 Abs. 1 und Abs.
1bis IVG), die Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen nach der allgemeinen
Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28 Abs. 2 IVG, gültig gewesen bis 31.
Dezember 2002; BGE 128 V 30 Erw. 1, 104 V 136 Erw. 2a und b) und den Beginn
des Rentenanspruchs (Art. 29 Abs. 1 IVG in der bis 31. Dezember 2002 gültig
gewesenen Fassung). Nicht zu beanstanden sind auch die Erwägungen über die
Aufgabe des Arztes  bei der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 261 Erw. 4 mit
Hinweisen). Darauf wird verwiesen mit der Ergänzung, dass das
Sozialversicherungsverfahren vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht ist;
danach hat die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht von Amtes wegen
für die richtige und vollständige Abklärung des rechtserheblichen
Sachverhaltes zu sorgen (BGE 125 V 195 Erw. 2, 122 V 158 Erw. 1a, je mit
Hinweisen).

3.
Verwaltung und Vorinstanz haben den Invaliditätsgrad der Versicherten anhand
der für Erwerbstätige geltenden allgemeinen Einkommensvergleichsmethode
ermittelt. Dies ist nach Lage der Akten nicht zu beanstanden. Wenn die
Beschwerdeführerin, wie sie letztinstanzlich erstmals geltend macht, während
der ansonsten vollzeitlichen Anstellung als Zimmermädchen jedes Jahr einen
Monat unbezahlte Ferien bezogen hat, rechtfertigt dies entgegen ihrer
offenbaren Auffassung nicht die Anwendung der gemischten
Invaliditätsbemessungsmethode, welche auf ohne Invalidität teilweise
erwerblich und im Übrigen im Aufgabenbereich nach Art. 5 Abs. 1 IVG (in der
bis 31. Dezember 2002 gültig gewesenen Fassung) tätige Versicherte
zugeschnitten ist (Art. 27bis Abs. 1 IVV in der bis 31. Dezember 2002 gültig
gewesenen Fassung).

4.
Das von der Versicherten im Jahr 2000 ohne invalidisierende
Gesundheitsschädigung mutmasslich erzielte Einkommen (Valideneinkommen) hat
die IV-Stelle auf Fr. 33'363.- festgesetzt.

Die Beschwerdeführerin führte hiezu im kantonalen Verfahren aus, dass die
Annahme eines solchen Jahresverdienstes bei einer Fortführung des bisherigen
Arbeitsverhältnisses zutreffen dürfte. Es habe sich aber um einen
unterdurchschnittlichen Lohn gehandelt, welcher daher nicht für den
Einkommensvergleich herangezogen werden könne. Diesen Einwand hat die
Vorinstanz im angefochtenen Entscheid zutreffend für unbegründet erklärt.
Die Festsetzung des Valideneinkommens wirft aber in anderer Hinsicht Fragen
auf. Ausgegangen wurde von der Angabe in der Arbeitgeberbescheinigung vom 10.
August 2001, wonach die Versicherte ohne Invalidität seit 1. Mai 1998 einen
Monatslohn von Fr. 3033.- bezogen hätte. Diesen Betrag hat die Verwaltung mit
11 multipliziert. Die Vorinstanz bestätigte dies mit der Begründung, im
genannten Monatsbetreffnis seien sowohl Ferienlohn als auch ein Anteil 13.
Monatslohn enthalten. Entsprechendes lässt sich der Arbeitgeberbescheinigung
indessen nicht entnehmen. Es geht daraus nur hervor, dass die Versicherte ab
1999, mithin nach der gesundheitsbedingten Reduktion des Arbeitspensums,
während 11 Monaten im Jahr Lohn bezogen hat, in welchem jeweils ein Anteil
13. Monatslohn inbegriffen war. Weder aus diesem Dokument noch aus den
übrigen Akten ist hingegen ersichtlich, was der für den Gesundheitsfall
angegebene Lohn von Fr. 3033.- alles beinhaltet hätte und wie oft pro Jahr er
bis Ende 1998 ausgerichtet wurde resp. im Gesundheitsfalle weiter
ausgerichtet worden wäre. Für die zuverlässige Festlegung des
Valideneinkommens bedarf es somit ergänzender Abklärung.

5.
Gleiches gilt für die Ermittlung des Einkommens, das die Versicherte trotz
gesundheitlicher Beeinträchtigung zumutbarerweise noch zu erzielen vermöchte
(Invalideneinkommen, als zweiter Vergleichsfaktor beim Einkommensvergleich).
Zwingende Voraussetzung hiefür sind gesicherte Erkenntnisse darüber, welche
Arbeitstätigkeiten in welchem Umfang der Beschwerdeführerin in Anbetracht
ihrer Behinderung aus ärztlicher Sicht noch zumutbar sind.

Einig sind sich die Verfahrensbeteiligten - nach Lage der Akten zu Recht -
darin, dass die Versicherte den angestammten, zwischenzeitlich aufgegebenen
Beruf eines Zimmermädchens gesundheitsbedingt nicht mehr ausüben kann.

Frau Dr. med. L.________, Spezialärztin FMH für Neurochirurgie, ist in dem
von der IV-Stelle eingeholten Gutachten vom 22. Januar 2002 zum Ergebnis
gelangt, der Beschwerdeführerin sei in Anbetracht der erheblichen
körperlichen Beeinträchtigungen eine mit häufigem Positionswechsel verbundene
Tätigkeit ohne Heben und Tragen von Gewichten und ohne Verrichtungen in
gebückter Stellung an 4 Stunden pro Tag ohne verminderte Leistungsfähigkeit
zumutbar.
Der Beschwerdeführerin genügt diese, von der Verwaltung übernommene
fachärztliche Einschätzung nicht. Ihr Einwand ist insofern berechtigt, als
Frau Dr. med. L.________ zwar die Berichte des Dr. med. E.________, zunächst
Oberarzt am Spital X.________, Klinik für Rheumatologie und Klinische
Immunologie/Allergologie, danach selbstständig tätiger Facharzt für
Rheumatologie und Innere Medizin FMH, über in den Jahren 1998, 1999 und 2001
durchgeführte ambulante rheumatologische Untersuchungen berücksichtigen
konnte. Darin war noch von einer nur hälftigen Einschränkung der
funktionellen Leistungsfähigkeit im Berufe eines Zimmermädchens gesprochen
(Berichte vom 14. Dezember 1998 und 7. September 1999) resp. aus
psychologischen Gründen auf die Bescheinigung einer höheren
Arbeitsunfähigkeit verzichtet (Bericht vom 2. Juli 2001) worden. Indessen hat
Dr. med. E.________ die Versicherte am 3. April 2002 erneut untersucht und
darüber am 5. April 2002 dem Hausarzt Bericht erstattet. Die Vorinstanz führt
dazu lediglich aus, der Rheumatologe erwähne, dass die Schmerzen stark
belastungsabhängig zunähmen. Es findet sich im angefochtenen Entscheid aber
keinerlei Bezug auf die weitere Aussage des Dr. med. E.________, wonach die
verbleibende Arbeitsfähigkeit aus seiner Sicht für sämtliche inner- und
ausserhäusliche Tätigkeiten nurmehr maximal 30% betrage. Zwar erfüllen der
Bericht des Rheumatologen vom 5. April 2002 und dessen weitere Stellungnahmen
nicht die Anforderungen, welche rechtsprechungsgemäss an ein beweiskräftiges
medizinisches Gutachten zu stellen sind (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit Hinweis).
Es wird dadurch aber in Frage gestellt, ob bei der auf Frau Dr. med.
L.________ gestützten Beurteilung der Restarbeitsfähigkeit durch die
Verwaltung die gesamte gesundheitliche Beeinträchtigung, auch aus
rheumatologischer Sicht, und die Auswirkungen auf die funktionelle
Leistungsfähigkeit der Versicherten im Verlauf bis zum massgebenden Zeitpunkt
der streitigen Verwaltungsverfügung vom 5. August 2002  berücksichtigt
wurden. Die Verwaltung wird hiezu weitere medizinische Abklärungen zu treffen
und das Ergebnis der Invaliditätsbemessung zugrunde zu legen haben. Dabei
wird, unter Berücksichtigung auch des in diesem Verfahren neu aufgelegten
Berichtes des Dr. med. E.________ vom 16. Januar 2004, eine gegebenenfalls
zwischenzeitlich eingetretene rentenrevisionsbegründende gesundheitliche
Entwicklung mit einzubeziehen sein.

6.
Den Beginn eines Rentenanspruchs hat die Vorinstanz, der Beschwerdeführerin
folgend, auf den 1. Mai 2000 festgesetzt. Dabei hat es, nachdem die IV-Stelle
an ihrer abweichenden Auffassung letztinstanzlich nicht mehr festhält, sein
Bewenden.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern vom 3. Oktober 2003 und
die Verfügung vom 5. August 2002 aufgehoben und die Sache wird an die
IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne
der Erwägungen, über den Rentenanspruch der Beschwerdeführerin neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle Bern hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem
Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.-
(einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Verwaltungsgericht des Kantons Bern wird über eine Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu entscheiden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern,
Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse des Kantons Bern
und dem Bundesamt für Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 30. Juni 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der II. Kammer:   Der Gerichtsschreiber: