Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 711/2003
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I 711/03

Urteil vom 9. November 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Ursprung;
Gerichtsschreiberin Weber Peter

K.________, 1955, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Rémy
Wyssmann, Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 2. Oktober 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Verfügung vom 24. Juni 2002 lehnte die IV-Stelle des Kantons Solothurn
nach Einholung eines Arbeitgeberberichts vom 25. Juli 2001 und verschiedener
ärztlicher Berichte, insbesondere eines polydisziplinären Gutachtens der
Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) der  Klinik Y.________ vom 14. Mai
2002, und nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren, einen Anspruch des 1955
geborenen K.________ auf eine Invalidenrente ab.

B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn ab (Entscheid vom 2. Oktober 2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Versicherte beantragen, in
Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheids sei ihm eine Invalidenrente nach
Massgabe einer Arbeitsunfähigkeit von mindestens 50 % zuzusprechen;
eventualiter sei die Sache zu ergänzenden Abklärungen und erneuter
Beurteilung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Ferner ersucht er um Gewährung
der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung.

Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde,
während das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine Vernehmlassung
verzichtet.

D.
Mit Eingabe vom 5. Juli 2004 lässt der Versicherte eine Kopie des
Austrittsberichts des Psychiatrischen Dienstes X.________ vom 26. Mai 2004
auflegen.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Wie das kantonale Gericht richtig erkannt hat, findet das auf den 1.
Januar 2003 und somit nach Erlass der Verwaltungsverfügung vom 24. Juni 2002
in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 keine Anwendung (BGE 129
V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen).
Zu ergänzen ist, dass auch die Bestimmungen der auf den 1. Januar 2004 in
Kraft getretenen 4. IVG-Revision nicht anwendbar sind, da nach dem
massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (24. Juni 2002)
eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt werden (BGE 129 V 4 Erw. 1.2
mit Hinweisen; RKUV 2001 Nr. U 419 S. 101).

1.2 Zutreffend dargelegt hat die Vorinstanz zudem die gesetzlichen
Bestimmungen und Grundsätze über den Invaliditätsbegriff (Art. 4 Abs. 1 IVG),
die Voraussetzungen und den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28 Abs. 1 und
1bis IVG ) und die Invaliditätsbemessung bei Erwerbstätigen nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG). Richtig sind ferner die
Ausführungen zur Aufgabe des Arztes und der Ärztin im Rahmen der
Invaliditätsbemessung (vgl. auch BGE 125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2 mit
Hinweisen) sowie zur Zulässigkeit einer antizipierten Beweiswürdigung unter
dem Gesichtspunkt des rechtlichen Gehörs (BGE 124 V 94 Erw. 4b, 122 V 162
Erw. 1d, je mit Hinweisen; SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b). Darauf wird
verwiesen.

2.
Strittig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Rente der
Invalidenversicherung und mithin die Höhe des Invaliditätsgrades.

3.
3.1 Die Vorinstanz stützte sich bei der Beurteilung des verbliebenen
Leistungsvermögens in erster Linie auf das MEDAS-Gutachten vom 14. Mai 2002,
basierend auf einem rheumatologischen und einem psychiatrischen Fachgutachten
(je vom 4. Februar 2002). Darin wurden folgende Diagnosen mit Einfluss auf
die Arbeitsfähigkeit gestellt:

"1. Diskrete Periarthropathia humeroscapularis tendopathica rechts
  (ICD-10 M75.0)
- anamnestisch beginnende AC-Gelenksarthrose
- lumbospondylogenes Syndrom links bei Wirbelsäulenfehlhaltung
- muskulärer Dysbalance/Dekonditionierung
- klinisch DD: Meralgia paraesthetica ohne Nachtschmerz
- Verdacht auf Symptomausweitung bei psychosozialer
Problem-   konstellation
2.  Mittelschwere depressive Episode (ICD-10 F32.11);
3.  Alkoholabusus mit aktuell episodischem Substanzgebrauch (ICD- 10
F10.26)".
In der abschliessenden Gesamtbeurteilung, welche im Rahmen einer
multidisziplinären Konsens-Konferenz erarbeitet wurde, gelangten die Ärzte
zum Schluss, dass aufgrund der somatischen Befunde und der psychiatrischen
Diagnose für jede leichte bis mittelschwere Tätigkeit von einer
Arbeitsfähigkeit von aktuell 70 % auszugehen sei. Als zumutbar bezeichneten
sie alle Tätigkeiten, die maximal mittelschwer sind, keine Zwangspositionen
beinhalten sowie keine Überkopfarbeiten und keine repetitiven Belastungen des
rechten Arms umfassen; repetitive Hebebelastungen von 15 kg oder maximale
Hebebelastungen von 25 kg sollten vermieden werden. Insgesamt schätzten sie
die objektivierbaren Befunde als eher diskret ein. In der Untersuchung des
Bewegungsapparates stellten sie eine Diskrepanz zwischen den geklagten
Beschwerden und den objektivierbaren Befunden fest, die gemäss den Experten
auf eine Symptomausweitung und Verdeutlichungstendenz schliessen lässt,
welche am ehesten mit den psychosozialen Problemen in Zusammenhang steht.

3.2 Dem kantonalen Gericht ist darin beizupflichten, dass dieses
interdisziplinäre Gutachten die nach der Rechtsprechung für den Beweiswert
medizinischer Expertisen geltenden Anforderungen (BGE 125 V 352 Erw. 3a mit
Hinweisen) erfüllt und ihm volle Beweiskraft zukommt. Es ist umfassend,
beruht auf einer polydisziplinären Untersuchung inklusive psychiatrischer
Begutachtung, berücksichtigt die geklagten Beschwerden, ist in Kenntnis der
Vorakten (Anamnese), insbesondere auch der vom Beschwerdeführer angeführten
Berichte der Dres. med. M.________, Spezialarzt FMH für Innere Medizin,
speziell Rheumaerkrankungen (vom 16. Juni und 24. August 1999), und
B.________, Arzt für Allgemeine Medizin FMH (vom 17. Juni 2001), abgegeben
worden, stellt die medizinischen Zusammenhänge dar und ist in den
Schlussfolgerungen überzeugend. Der rechtserhebliche medizinische Sachverhalt
ist hinreichend abgeklärt und es wurden bei der Einschätzung der
Arbeitsfähigkeit die psychisch und physisch bedingten Einschränkungen gehörig
berücksichtigt. Die vorhandene Dokumentation der erhobenen Befunde und die
dazu ärztlicherseits abgegebenen Stellungnahmen ermöglichen eine zuverlässige
Beurteilung der gesundheitlichen Situation. Mit der Vorinstanz ist darauf
abzustellen. Von zusätzlichen medizinischen Abklärungen, insbesondere der
Einholung eines Berichts des behandelnden Psychiaters, wie von Seiten des
Beschwerdeführers beantragt, sind keine relevanten neuen Erkenntnisse zu
erwarten, weshalb darauf verzichtet wird (antizipierte Beweiswürdigung; BGE
124 V 94 Erw. 4b; SVR 2001 IV Nr. 10 S. 28 Erw. 4b).

3.3 Vor diesem Hintergrund ist nicht zu beanstanden, dass Vorinstanz und
Verwaltung von der im MEDAS-Gutachten auf 30 % geschätzten Arbeitsfähigkeit
ausgingen. Was dagegen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vorgebracht wird,
vermag die einzelne medizinische Disziplinen übergreifende gesamthafte
Einschätzung der Experten der MEDAS nicht ernsthaft in Frage zu stellen. Zwar
ist aus rein psychiatrischer Sicht tatsächlich von einer Arbeitsunfähigkeit
von rund 30 bis 40 % die Rede. Hingegen lässt sich daraus nicht eine
Ungenauigkeit in der Beurteilung ableiten, kamen doch die Gutachter im Rahmen
der Konsensfindung, bei der das Zusammenwirken der physischen und psychischen
Beschwerden berücksichtigt wurde, zu einer klaren Gesamtbewertung der
verbleibenden Arbeitsfähigkeit von 70 %. Der Beschwerdeführer macht weiter
geltend, dem MEDAS-Bericht komme in formeller Hinsicht kein Beweiswert zu, da
das psychiatrische Untergutachten von 4. Februar 2002 nicht von den Experten
selbst, sondern lediglich in Vertretung unterzeichnet worden war. Indessen
lässt der Umstand, dass ein medizinischer Bericht i.V. unterzeichnet wurde,
an dessen Authentizität keinen Zweifel aufkommen. Zudem trägt der besagte
Bericht nebst den Unterschriften der stellvertretenden Ärzte zusätzlich die
Unterschrift des leitenden Arztes Dr. med. S.________, der damit seinerseits
die Begründetheit der Beurteilung aus psychiatrischer Sicht bestätigt. Auch
der Einwand, dass im Rahmen der Begutachtung durch die MEDAS weder die
rheumatologische noch die psychiatrische Untersuchung in der Muttersprache
des Versicherten (Türkisch) durchgeführt worden sei, ist unbehelflich.
Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers kann nicht davon ausgegangen
werden, dass psychiatrische Untersuchungen auf jeden Fall in der
Muttersprache zu erfolgen haben. Vielmehr hat die Frage, ob eine medizinische
Abklärung in der Muttersprache der versicherten Person oder unter Beizug
eines Dolmetschers im Einzelfall geboten ist, grundsätzlich der Gutachter im
Rahmen sorgfältiger Auftragserfüllung zu entscheiden. Dabei kommt bei der
psychiatrischen Begutachtung dem Kriterium der bestmöglichen Verständigung
zwar besonderes Gewicht zu, wozu vertiefte Sprachkenntnisse notwendig sind.
Vorliegend bestehen jedoch keine Anhaltspunkte dafür, dass dieses Erfordernis
nicht in genügendem Umfange erfüllt war. Im rheumatologischen Fachgutachten
vom 4. Februar 2002 wurde dem Beschwerdeführer eine ordentliche
Kommunikationsfähigkeit in der deutschen Sprache attestiert, weshalb die
Untersuchung gemäss Experte ohne Dolmetscher erfolgte. Zudem konnten auch bei
der psychiatrischen Begutachtung offenbar keine entsprechenden
Schwierigkeiten festgestellt werden, fehlt doch im Bericht jeglicher Hinweis
in diese Richtung. Auch ist den Akten nirgends zu entnehmen, dass der
Beschwerdeführer eine Abklärung in der Muttersprache beantragt, noch je
sinngemäss mangelnde genügende Sprachkenntnisse geltend gemacht hat, indem er
beispielsweise einen Bekannten oder Familienangehörigen aufgrund sprachlicher
Schwierigkeiten beizog. Vielmehr fällt auf, dass die sprachliche
Unzulänglichkeit erstmals im letztinstanzlichen Verfahren angeführt wird.
Soweit im Übrigen Zweifel an der Unabhängigkeit der Administrativgutachter
geäussert wird, ist daran zu erinnern, dass es sich bei der MEDAS um eine
unabhängige, unparteiliche Gutachterstelle handelt (BGE 123 V 175).

Was die weiteren Einwendungen in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde angeht,
insbesondere zum fehlenden Beizug eines Berichts des behandelnden Psychiaters
Dr. med. L.________ kann auf die zutreffenden Ausführungen im angefochtenen
Entscheid verwiesen werden. Schliesslich vermag auch der im Laufe des
letztinstanzlichen Verfahrens eingereichte Austrittsbericht des
Psychiatrischen Dienstes  X.________ vom 26. Mai 2004, wo der
Beschwerdeführer vom 5. bis 17. Mai 2004 hospitalisiert war, an der
Beurteilung der Restarbeitsfähigkeit nichts zu ändern. Dieser betrifft nicht
den Zeitraum bis zum Erlass der streitigen Verfügung, was jedoch die Grenze
richterlicher Überprüfungsbefugnis darstellt (RKUV 2001 Nr. U 419 S. 101).

4.
Nicht zu beanstanden ist ferner der vom kantonalen Gericht im Rahmen der
Invaliditätsbemessung durchgeführte Einkommensvergleich, basierend auf den
vom Bundesamt für Statistik anlässlich der Lohnstrukturerhebung für das Jahr
2000 (LSE 2000) erhoben Tabellenlöhne, woraus ein rentenausschliessender
Invaliditätsgrad von gerundet 37 % resultierte. Mit der Vorinstanz
rechtfertigt es sich, von dem auf Durchschnittswerten beruhenden
Jahreseinkommen einen leidensbedingten Abzug (BGE 126 V 78 ff. Erw. 5; AHI
2002, S. 67 ff. Erw. 4) vorzunehmen, der mit 10 % im Rahmen der
Angemessenheitskontrolle (Art. 132 lit. a OG) zu bestätigen ist. Der vom
Beschwerdeführer mit Verweis auf den Entscheid des Eidgenössischen
Versicherungsgerichts vom 20. Juni 2003 (I 344/02) geltend gemachte höhere
Abzug von 20 % ist vorliegend nicht gerechtfertigt. Der vorhandenen
psychischen Beeinträchtigung wurde mit der Anerkennung einer auf 70 %
reduzierten Arbeitsfähigkeit bereits gehörig Rechnung getragen. Als
zusätzliche leidensbedingte Einschränkung fällt einzig ins Gewicht, dass
repetitive oder schwere Hebebelastungen über einer bestimmten Gewichtslimite,
sowie Zwangspositionen und Überkopfarbeiten zu vermeiden sind. Dass der
Versicherte somatisch bedingt nur noch körperlich leichte, vorwiegend sitzend
auszuübende Tätigkeiten wahrnehmen kann, wie vorgetragen wird, ist nicht
aktenkundig. Wegen der Ausländereigenschaft ist kein Abzug zu gewähren, da
der Versicherte die Niederlassungsbewilligung C besitzt. Er gehört somit
einer Ausländerkategorie an, für welche der monatliche Männer-Bruttolohn
sogar über dem entsprechenden, nicht nach dem Merkmal der Nationalität
differenzierenden Totalwert liegt (LSE 2000, S. 47 Tabelle TA 12,
Anforderungsniveau 4; BGE 126 V 79 Erw. 5a/cc; Urteil P. vom 27. Februar 2003
Erw. 5.2.2, I 107/02). Unter Berücksichtigung aller Umstände besteht mithin
keinen Anlass, letztinstanzlich in das Ermessen der Vorinstanz einzugreifen
(BGE 126 V 81 Erw. 6).

5.
Da es um Versicherungsleistungen geht, sind gemäss Art. 134 OG keine
Gerichtskosten zu erheben. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne
der Befreiung von den Gerichtskosten ist daher gegenstandslos. Die
unentgeltliche Verbeiständung kann hingegen gewährt werden (Art. 152 in
Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig ist, die
Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung geboten
war (BGE 125 V 202 Erw. 4a und 372 Erw. 5b, je mit Hinweisen). Es wird
indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die
begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie
später dazu im Stande ist.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Rémy
Wyssman für das Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht aus
der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich
Mehrwertsteuer) ausgerichtet.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der Ausgleichskasse Berner Arbeitgeber und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 9. November 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Die Gerichtsschreiberin:
i.V.