Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 709/2003
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I 709/03

Urteil vom 19. März 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber Lanz

G.________, 1970, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Rémy
Wyssmann, Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Solothurn, Solothurn

(Entscheid vom 29. September 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1970 geborene G.________ war bis 1995 erwerbstätig und ist seither
arbeitslos. Im November/Dezember 1998 meldete er sich unter Hinweis auf seit
einem am 23. Oktober 1997 erlittenen Unfall bestehende gesundheitliche
Beschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug (Berufsberatung;
Umschulung; Rente) an. Die IV-Stelle des Kantons Solothurn holte Arztberichte
ein und traf Abklärungen durch ihre Berufsberatung. Am 27. September 2000
ersuchte der Versicherte darum, es sei ihm als berufliche Massnahme - im
Sinne einer Umschulung - die am 14. August 2000 begonnene KV-Ausbildung an
der Schule Y.________ in X.________ zuzusprechen und hiefür Taggeld
auszurichten. Mit Verfügung vom 14. Februar 2001 verneinte die IV-Stelle
einen Anspruch des G.________ auf Umschulung und auf eine Invalidenrente.
Hiegegen führte der Versicherte Beschwerde. Dieses Rechtsmittelverfahren
wurde, nachdem die Verwaltung die angefochtene Verfügung lite pendente
aufgehoben hatte, vom kantonalen Gericht am 10. September 2001 für erledigt
erklärt. In der Folge sah die IV-Stelle eine medizinische Abklärung durch die
MEDAS Z.________ vor, welche auf den 19. November 2001 anberaumt wurde.
G.________ erschien nicht zu der Untersuchung. Nach weiterer Korrespondenz
stellte die Verwaltung mit Verfügung vom 9. Januar 2002 eine Verletzung der
Mitwirkungspflicht durch den Versicherten fest, und sie eröffnete ihm die auf
die vorhandenen Akten gestützte Entscheidung, wonach die begonnene Umschulung
an der Schule Y.________ nicht unterstützt und hiefür auch kein Taggeld
ausgerichtet werde; zudem bestehe kein Anspruch auf eine Invalidenrente.

B.
Die von G.________ hiegegen eingereichte Beschwerde wies das
Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 29. September
2003 ab.

C.
G.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen mit dem Rechtsbegehren,
in Aufhebung des angefochtenen kantonalen Entscheides seien ihm die
gesetzlichen Leistungen der Invalidenversicherung zuzusprechen; eventualiter
sei die Sache zur weiteren Abklärung und neuen Verfügung an die Verwaltung
zurückzuweisen. Sodann wird die Sistierung des letztinstanzlichen Verfahrens
bis zur rechtskräftigen Beendigung des bei der Vorinstanz hängigen Verfahrens
betreffend die Leistungspflicht des für das Ereignis vom 23. Oktober 1997
zuständigen obligatorischen Unfallversicherers resp. bis zum Vorliegen des
dort vom kantonalen Gericht in Auftrag gegebenen medizinischen Gutachtens
beantragt.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Nach dem massgebenden Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier:
9. Januar 2002) eingetretene Rechts- und Sachverhaltsänderungen werden vom
Sozialversicherungsgericht nicht berücksichtigt (BGE 129 V 4 Erw. 1.2 mit
Hinweisen, auch zum Folgenden). Daher ist, wie die Vorinstanz zutreffend
erkannt hat, das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den
Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000
entgegen der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde vertretenen Auffassung im
vorliegenden Fall nicht anwendbar, was auch für die Verordnung hiezu (ATSV)
gilt.

2.
Streitig ist der Anspruch auf berufliche Massnahmen, gegebenenfalls verbunden
mit der Ausrichtung von Taggeldern, sowie auf eine Rente der
Invalidenversicherung. Dabei stellt sich vorab die Frage, ob die Verwaltung
über das Leistungsbegehren verfügen durfte, obwohl gemäss der inzwischen
einhelligen und nach Lage der Akten zutreffenden Auffassung sämtlicher
Verfahrensbeteiligten in Bezug auf den für die Beurteilung der
Anspruchsberechtigung relevanten medizinischen Sachverhalt ein zusätzlicher
Abklärungsbedarf besteht.

IV-Stelle und kantonales Gericht bejahen diese Frage und führen zur
Begründung an, der Versicherten habe im Zusammenhang mit der angeordneten
MEDAS-Begutachtung seine Mitwirkungspflicht verletzt. Deshalb habe aufgrund
der vorhandenen Akten entschieden werden dürfen. Der Beschwerdeführer
vertritt den gegenteiligen Standpunkt.

3.
Nach Art. 73 IVV kann die IV-Stelle unter Ansetzung einer angemessenen Frist
und Darlegung der Säumnisfolgen auf Grund der Akten beschliessen, wenn
Versicherte schuldhaft eine Begutachtung (Art. 69 Abs. 2 IVV) verweigern (BGE
111 V 222 Erw. 1, 107 V 28 Erw. 3; siehe auch BGE 125 V 407 Erw. 4c und das
zur Veröffentlichung in der Amtlichen Sammlung bestimmte Urteil D. vom 16.
Oktober 2003 Erw. 5.2.4, I 249/01; zum Mahn- und Bedenkzeitverfahren bei
Widersetzlichkeit gegenüber einer Eingliederungsmassnahme vgl. BGE 122 V 219
Erw. 4b mit Hinweisen). Wer Leistungen der Invalidenversicherung beansprucht,
hat sich jeder zumutbaren Massnahme zu unterziehen. Bei der Beurteilung der
Zumutbarkeit sind die gesamten (objektiven und subjektiven) Umstände des
Einzelfalles zu berücksichtigen (Urteile Z. vom 25. März 2003 Erw. 3.1, I
589/02, und B. vom 25. Oktober 2001 Erw. 2b, I 214/01). Bei medizinischen
Massnahmen, die einen starken Eingriff in die persönliche Integrität der
versicherten Person darstellen können, ist an die Zumutbarkeit kein strenger
Massstab anzulegen (ZAK 1985 S. 325 Erw. 1 mit Hinweisen und S. 327 Erw. 1).
Diese Grundsätze gelten sinngemäss auch für Massnahmen, die der
Sachverhaltsabklärung dienen (Urteil B. vom 25. Oktober 2001 Erw. 2b, I
214/01).

4.
4.1 Die IV-Stelle eröffnete dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 22. August
2001, für die Prüfung des Leistungsanspruches sei eine medizinische Abklärung
notwendig, welche durch die MEDAS Z.________ durchgeführt werde. Diese lud
den Versicherten in der Folge auf den 19. November 2001 zur Begutachtung ein
(Schreiben vom 13. September 2001). Es folgte ein Briefwechsel zwischen
Verwaltung und Beschwerdeführer. Am 21. November 2001 teilte die MEDAS der
Verwaltung schliesslich mit, der Versicherte sei am 19. November 2001 nicht
zur Untersuchung erschienen, weshalb der Auftrag zur medizinischen Abklärung
annulliert werde. Die Säumnisfolgen des Art. 73 IVV waren dem
Beschwerdeführer bis dahin nicht angedroht worden.

4.2 Nach dem nicht wahrgenommenen Untersuchungstermin forderte die IV-Stelle
den Versicherten mit Schreiben vom 5. Dezember 2001 auf, ihr bis 21. Dezember
2001 schriftlich mitzuteilen, ob er mit einer MEDAS-Begutachtung
einverstanden sei. Im Unterlassungsfall werde aufgrund der Akten entschieden,
wobei von einer erneuten Ablehnung des Leistungsbegehrens auszugehen sei.

Der Beschwerdeführer antwortete innert der gesetzten Frist mit Schreiben vom
19. Dezember 2001. Er äusserte darin die Empfehlung, die medizinische
Abklärung erst im Anschluss an die laufende Ausbildung an der Schule
Y.________ vorzunehmen, um diese nicht zu gefährden. Weiter sei zu beachten,
dass im hängigen Gerichtsverfahren betreffend die Leistungspflicht des
obligatorischen Unfallversicherers ein medizinisches Obergutachten angeordnet
worden sei. Auch hier gelte es, Doppelspurigkeiten zu vermeiden.
Abschliessend stellte er den Antrag, von einer medizinischen Beurteilung "bis
auf Weiteres" abzusehen und gestützt auf die bisherigen Akten IV-Taggelder
auszurichten.

Willenserklärungen sind auch im Verhältnis Sozialversicherungsträger -
versicherte Person praxisgemäss so aufzufassen, wie sie der Empfänger in
guten Treuen verstehen durfte und verstehen musste (Vertrauensschutzprinzip;
BGE 108 V 88 Erw. 3a in fine mit Hinweisen). Die erwähnte Erklärung des
Versicherten ist in diesem Lichte durchaus nicht als Verletzung der
Mitwirkungspflicht, sondern dahingehend zu verstehen, dass er, wie von ihm
verlangt, sein Einverständnis mit einer medizinischen Abklärung durch die
MEDAS kundtat und lediglich hinsichtlich der zeitlichen Ansetzung dieser
Untersuchungsmassnahme dafür plädierte, die Beendigung der Ausbildung an der
Schule Y.________ und das Vorliegen einer bereits eingeleiteten Begutachtung
abzuwarten. Auf eine nach erfolgter Androhung der Säumnisfolgen
manifestierte, schuldhafte Weigerung des Versicherten, sich einer
angeordneten medizinischen Untersuchung zu unterziehen, kann unter diesen
Umständen, entgegen Verwaltung und Vorinstanz, nicht geschlossen werden. Die
IV-Stelle durfte daher nicht mit der Begründung, der Beschwerdeführer habe
seine Mitwirkungspflicht verletzt, trotz gegebenem Abklärungsbedarf einzig
gestützt auf die vorhandenen Akten das Leistungsbegehren abweisen. Dies führt
zur Aufhebung der Verfügung vom 9. Januar 2002 und des diese bestätigenden
vorinstanzlichen Entscheides vom 29. September 2003. Die Verwaltung, an
welche die Sache zurückgewiesen wird, hat die Akten zu vervollständigen und
über den Leistungsanspruch neu zu verfügen. Eine Sistierung des vorliegenden
Verfahrens ist, entgegen dem entsprechenden Antrag in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde, nicht angezeigt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 29. September
2003 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Solothurn vom 9. Januar 2002
aufgehoben und die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Solothurn
zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen,
über den Leistungsanspruch neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Solothurn hat dem Beschwerdeführer für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wird über eine
Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des
letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons
Solothurn, der Ausgleichskasse des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 19. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: