Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 66/2003
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I 66/03

Urteil vom 27. Mai 2003
III. Kammer

Präsident Borella, Bundesrichter Meyer und Kernen; Gerichtsschreiberin Hofer

D.________, 1944, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Roland
Ilg, Rämistrasse 5, 8001 Zürich,

gegen

IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, St. Gallen

(Entscheid vom 31. Oktober 2002)

Sachverhalt:

A.
Der 1944 geborene D.________ meldete sich am 30. Dezember 1991 unter Hinweis
auf ein seit März 1991 bestehendes Lumbovertebralsyndrom zum Bezug von
Leistungen der Invalidenversicherung, namentlich Berufsberatung, Umschulung
auf eine neue Tätigkeit und Arbeitsvermittlung an. Nach Abklärungen in
medizinischer und beruflich-erwerblicher Hinsicht, worunter insbesondere
Berichte des Spitals X.________, des Dr. med. M.________ und der Klinik
Y.________ (über die beruflichen Eingliederungsmöglichkeiten) sowie ein
Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (Medas) am Kantonsspital
Z.________ vom 23. Mai 1995 mit Zusatzbericht vom 2. Juli 1996, lehnte die
IV-Stelle das Leistungsbegehren mit Verfügung vom 19. Juli 1996 ab. Das
Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wies die dagegen erhobene
Beschwerde mit Entscheid vom 20. Januar 1998 ab. Das Eidgenössische
Versicherungsgericht bestätigte diesen Entscheid mit Urteil vom 25. November
1998.

Mit Schreiben vom 16. August 1999 ersuchte Dr. med. M.________ die
Invalidenversicherung um erneute Überprüfung des Leistungsanspruchs. Die
IV-Stelle veranlasste eine Expertise durch die Medas, welche am 24. August
2000 erstattet wurde und prüfte die erwerbliche Situation. Nach
durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach sie dem Versicherten bei einem
Invaliditätsgrad von 42% mit Wirkung ab 1. August 1998 eine halbe
Invalidenrente zu (Verfügung vom 20. Dezember 2001).

B.
Die dagegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons
St. Gallen mit Entscheid vom 31. Oktober 2002 ab.

C.
D.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, in
Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides sei ihm eine unbefristete ganze
Invalidenrente zuzusprechen; eventuell seien berufliche Massnahmen wie
Umschulung und Arbeitsvermittlung zu gewähren.
Die IV-Stelle beantragt Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Im angefochtenen Entscheid werden die Bestimmungen über den Begriff der
Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), die Voraussetzungen und den Umfang des
Rentenanspruches (Art. 28 Abs. 1 und 1bis IVG), die Bemessung des
Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der
Einkommensvergleichsmethode (Art. 28 Abs. 2 IVG) und die Aufgabe des Arztes
im Rahmen der Invaliditätsbemessung (vgl. auch BGE 125 V 261 Erw. 4 mit
Hinweisen) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.

Ob eine anspruchsbegründende Änderung in den für den Invaliditätsgrad
erheblichen Tatsachen eingetreten ist, beurteilt sich im
Neuanmeldungsverfahren - analog zur Rentenrevision nach Art. 41 IVG - durch
den Vergleich des Sachverhalts, wie er im Zeitpunkt der ersten
Ablehnungsverfügung bestanden hat, mit demjenigen zur Zeit der streitigen
neuen Verfügung (BGE 117 V 198 Erw. 3a; AHI 1999 S. 84 Erw. 1b).

Das am 1. Januar 2003 in Kraft getretene Bundesgesetz über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 ist im
vorliegenden Fall nicht anwendbar, da nach dem massgebenden Zeitpunkt des
Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 20. Dezember 2001) eingetretene
Rechts- und Sachverhaltsänderungen vom Sozialversicherungsgericht nicht
berücksichtigt werden (BGE 127 V 467 Erw. 1, 121 V 366 Erw. 1b).

2.
Nach Lage der Akten, insbesondere dem Gutachten der Medas vom 24. August
2000, welches alle rechtsprechungsgemässen (BGE 125 V 352 Erw. 3 mit
Hinweisen) Kriterien für beweiskräftige ärztliche Entscheidungsgrundlagen
erfüllt und dem somit voller Beweiswert zukommt, hat sich der
Gesundheitszustand des Beschwerdeführers seit der rentenablehnenden Verfügung
vom 19. Juli 1996 insofern erheblich verändert, als eine psychische
Erkrankung im Sinne einer Depression mit hypochondrischer Selbstbeobachtung
und Festhalten an den somatischen Leiden (ICD-10 F32.11) zum früher
diagnostizierten - praktisch unverändert gebliebenen - Lumbovertebralsyndrom
hinzugetreten ist. Damit ist eine für den Rentenanspruch relevante Änderung
der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten. Aus orthopädischer Sicht können
Tätigkeiten im Baugewerbe nicht mehr verrichtet werden. Hinsichtlich einer
leichten adaptierten Tätigkeit mit der Möglichkeit zur Lageveränderung und
ohne längerem Verharren in der gleichen Position oder Heben von Lasten
besteht indes unter Mitberücksichtigung der psychiatrischen Erkrankung eine
Arbeitsfähigkeit von 75%.

3.
Streitig sind die erwerblichen Auswirkungen der verbleibenden
Arbeitsfähigkeit.

3.1 Für die Ermittlung des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität
(Valideneinkommen) ist mit Verwaltung und Vorinstanz vom Verdienst
auszugehen, den der Beschwerdeführer im Jahre 1995 bei der Firma B.________
erzielt hätte (Fr. 53'105.-), woraus für das 2001 (Erlass der strittigen
Verfügung) unter Berücksichtigung der Nominallohnentwicklung (vgl. die vom
Bundesamt für Statistik veröffentlichte Lohnentwicklung 2001, T1.93, S. 31)
ein Verdienst von Fr. 56'351.80 resultiert.

3.2 Bei der Bestimmung des trotz Gesundheitsschädigung zumutbarerweise noch
realisierbaren Einkommens (Invalideneinkommen) ist primär von der
beruflich-erwerblichen Situation auszugehen, in welcher die versicherte
Person konkret steht. Ist - wie im hier zu beurteilenden Fall - kein
tatsächlich erzieltes Erwerbseinkommen gegeben, können rechtsprechungsgemäss
Tabellenlöhne beigezogen werden (BGE 126 V 76 Erw. 3b/aa und bb mit
Hinweisen), wobei sich unter Zugrundelegung eines Pensums von 100% ein
jährliches, der Lohnentwicklung angepasstes Einkommen für 2001 von Fr.
56'894.54 (Tabelle A1 der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung [LSE] 2000,
Anforderungsniveau 4, monatlich Fr. 4437.- umgerechnet auf 41.7
Wochenstunden, Teuerung 2001: 2.5%) errechnet. Bei 75%iger Arbeitsfähigkeit
resultiert ein Verdienst von Fr. 42'670.90

Die Frage, ob und in welchem Ausmass Tabellenlöhne herabzusetzen sind, hängt
von sämtlichen persönlichen und beruflichen Umständen des konkreten
Einzelfalles ab (leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre,
Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad) (BGE 126 V 79 Erw.
5b/aa-cc). Die Vorinstanz hat den Abzug vom Tabellenlohn, der eine Schätzung
darstellt (BGE 126 V 81 Erw. 6), auf 23% festgesetzt, wobei sie nebst
leidensbedingten Einschränkungen in einer körperlich leichten manuellen
Verweisungstätigkeit insbesondere die langjährige Arbeitsabsenz und das
fortgeschrittene Alter als lohnmindernd qualifizierte. Der Beschwerdeführer
bringt keine triftigen Gründe vor, welche eine nach den Grundsätzen über die
richterliche Ermessenskontrolle abweichende Ermessensausübung als
naheliegender erscheinen liesse (vgl. Art. 132 lit. a OG; BGE 123 V 152 Erw.
2). Abgesehen davon vermöchte auch die Berücksichtigung des in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemachten, maximal zulässigen Abzugs
von 25% (vgl. BGE 126 V 80 Erw. 5b/cc) keinen höheren Rentenanspruch zu
begründen. Um 23% gekürzt ergibt sich ein Invalideneinkommen von Fr.
32'856.60.

3.3 Bei der Gegenüberstellung der hypothetischen Einkommen resultiert für das
Jahr 2001 bei einem Valideneinkommen von Fr. 56'351.80 und einem
Invalideneinkommen von Fr. 32'856.60 ein Invaliditätsgrad von 41.69%.

4.
4.1 Bezüglich der eventualiter beantragten Massnahmen beruflicher Art,
namentlich Umschulung und Arbeitsvermittlung, ist vom Grundsatz auszugehen,
dass im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren in Invalidenversicherungssachen
betreffend Leistungen nur über Anspruchsberechtigungen zu entscheiden ist,
hinsichtlich derer die IV-Stelle eine Verfügung erlassen hat (BGE 125 V 414
Erw. 1a) und/oder bezüglich derer sie es - in Verletzung des
Untersuchungsgrundsatzes sowie des Prinzips der Rechtsanwendung von Amtes
wegen - unterlassen hat, eine Verfügung zu treffen, obwohl dazu nach der
Aktenlage oder den Parteivorbringen hinreichender Anlass bestanden hat (BGE
116 V 26 Erw. 3c und d, 111 V 264 Erw. 3b; Urteile V. vom 20. August 2002, I
347/00, und G. vom 17. Mai 2002, I 535/01).

Bei Beschwerden, welche sich gegen Verfügungen über die Zusprechung einer
Rente der Invalidenversicherung richten, besteht im Umfange der von der
Verwaltung anerkannten Erwerbsunfähigkeit materiellrechtlich zudem in allen
Fällen die Möglichkeit, die Priorität der Eingliederungsberechtigung vor dem
Rentenanspruch zu prüfen. Eine solche - im Rahmen des
Untersuchungsgrundsatzes und der Rechtsanwendung von Amtes wegen in
Anbetracht des materiellrechtlichen Zusammenhangs zwischen Eingliederung und
Rente zulässigerweise einsetzende - gerichtliche Prüfung darf jedoch nur
unter Berücksichtigung der prozessualen Regeln erfolgen, welche die
Rechtsprechung (BGE 122 V 36 Erw. 2a mit Hinweisen) für die Ausdehnung des
Beschwerdeverfahrens über den verfügten Gegenstand hinaus aufgestellt hat
(Urteile V. vom 20. August 2002, I 347/00 und S. vom 14. April 2003, I
704/01).

4.2 Aus dem Verlauf des Administrativverfahrens und insbesondere aus dem
Verfügungstext geht hervor, dass nur der Rentenanspruch Gegenstand der
Verfügung vom 20. Dezember 2001 gebildet hat. Aufgrund der Aktenlage, wie sie
sich nach Eingang des Gutachtens der Medas vom 24. August 2000 und der
Stellungnahme des Berufsberaters vom 13. September 2000 darbot, hatte die
Verwaltung keinen Anlass, (erneut) berufliche Massnahmen in die Wege zu
leiten. Aus der erwähnten Expertise erhellt, dass
Wiedereingliederungsmassnahmen wegen der starken Fixierung auf das
Rückenleiden und das Schmerzerlebnis sowie dem subjektiven - durch die Ärzte
nicht beeinflussbaren - Gefühl, vollständig arbeitsunfähig zu sein, nicht
durchführbar waren. Damit sind die Voraussetzungen der (subjektiven)
Eingliederungsfähigkeit nicht erfüllt (AHI 2002 S. 108; ZAK 1991 S. 178, 1992
S. 366 Erw. 2b). Hinzu kommt, dass im Anschluss an die erste Anmeldung des
Beschwerdeführers vom 30. Dezember 1991 durchgeführte
Eingliederungsmassnahmen erfolglos verliefen (vgl. Urteil vom 25. November
1998, I 207/98). Weitere Abklärungen in dieser Richtung erübrigten sich
somit. Der Vorinstanz ist beizupflichten, dass es sich unter diesen Umständen
nicht beanstanden lässt, wenn die IV-Stelle nicht gesondert über den
Eingliederungsanspruch verfügt hat, zumal auch die Anmeldung vom 16. August
1999 und die Vorbringen im Vorbescheidverfahren - der entsprechende Antrag
wurde lediglich mit der fehlenden Angabe von konkreten Verweisungstätigkeiten
begründet - keinen Anlass gaben, zusätzlich zur Rentenverfügung eine formelle
Verfügung über die Eingliederungsberechtigung zu erlassen. Das
letztinstanzlich erneuerte Begehren um Durchführung beruflicher Massnahmen
vermag daran nichts zu ändern. Dem Beschwerdeführer stehen auf dem - für alle
erwerblich orientierten Leistungen der Invalidenversicherung massgebenden
(Meyer-Blaser, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, Zürich 1997, S. 8
unten) - ausgeglichenen hypothetischen Arbeitsmarkt genügend zumutbare
Stellen offen, zu deren Finden die spezifischen Fachkenntnisse der mit der
Invalidenversicherung betrauten Behörden nicht notwendig sind.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St.
Gallen, der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 27. Mai 2003
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der III. Kammer:   Die Gerichtsschreiberin: