Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 667/2003
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I 667/03

Urteil vom 9. Februar 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichterin Widmer und Bundesrichter Meyer;
Gerichtsschreiber Flückiger

Bundesamt für Sozialversicherung, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
Beschwerdeführer,

gegen

L.________, 1997, Beschwerdegegner, vertreten durch seine Mutter V.________,
und diese vertreten durch den Procap, Schweizerischer Invaliden-Verband,
Froburgstrasse 4, 4600 Olten,

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 19. August 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1997 geborene L.________ leidet seit Geburt am Prader-Willi-Syndrom (auch
Prader-Labhart-Willi-Syndrom, nachfolgend PWS) und wurde aus diesem Grund -
nach einer vorangegangenen früheren Anmeldung - am 10. Februar 1999 bei der
Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle des
Kantons Aargau sprach dem Versicherten unter anderem medizinische Massnahmen
zur Behandlung des Geburtsgebrechens Nr. 462, einen Pflegebeitrag und die
Rückvergütung von Kosten für die Hauspflege sowie Sonderschulmassnahmen zu.
Ausserdem übernahm sie gemäss Mitteilung vom 17. April 2000 Physiotherapie
nach ärztlicher Verordnung im Zusammenhang mit dem Geburtsgebrechen Nr. 462
für die Zeit vom 4. Juni 1999 bis vorderhand 30. Juni 2001.

Im Anschluss an eine Intervention des Bundesamtes für Sozialversicherung
(BSV) lehnte es die Verwaltung - nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens
und Einholung einer weiteren Stellungnahme des BSV vom 26. Februar 2002 - mit
Verfügung vom 11. März 2002 ab, weiterhin medizinische Massnahmen in Form von
Physiotherapie zu gewähren.

B.
In Gutheissung der dagegen erhobenen Beschwerde hob das Versicherungsgericht
des Kantons Aargau die Verfügung vom 11. März 2002 auf und sprach dem
Beschwerdeführer Physiotherapie nach ärztlicher Verordnung im Zusammenhang
mit dem Geburtsgebrechen Nr. 462 für die Zeit vom 1. Juli 2001 bis 30. Juni
2003 sowie vom 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2005 zu (Entscheid vom 19. August
2003).

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das BSV die Aufhebung des
vorinstanzlichen Entscheids.

L. ________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen.
Die IV-Stelle verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
1.1 Mit der Verwaltungsverfügung vom 11. März 2002 wurde über den Anspruch
auf Physiotherapie für die Zeit ab 1. Juli 2001 entschieden. Im gerichtlichen
Beschwerdeverfahren sind grundsätzlich nur Rechtsverhältnisse zu überprüfen,
zu welchen die Verwaltung vorgängig verbindlich - mittels Verfügung -
Stellung genommen hat. Die Verwaltungsverfügung bestimmt somit den
beschwerdeweise weiterziehbaren Anfechtungsgegenstand (BGE 125 V 415 Erw. 2a,
122 V 36 Erw. 2a, je mit Hinweisen). In zeitlicher Hinsicht beschränkt sich
die gerichtliche Prüfung praxisgemäss in der Regel auf den Sachverhalt, wie
er sich bis zum Erlass der streitigen Verwaltungsverfügung, vorliegend also
bis zum 11. März 2002, entwickelt hat (BGE 121 V 366 Erw. 1b mit Hinweisen;
vgl. auch BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 Erw. 1, 356 Erw. 1).

1.2 Das kantonale Gericht hat dem Beschwerdeführer Physiotherapie für die
Zeit vom 1. Juli 2001 bis 30. Juni 2003 und 1. Juli 2003 bis 30. Juni 2005
zugesprochen. Damit hat es das Rechtsmittelverfahren, soweit es den Zeitraum
nach dem Erlass der Verfügung vom 11. März 2002 in die Beurteilung einbezog,
über den durch diese bestimmten Anfechtungsgegenstand hinaus ausgedehnt. Ein
derartiges, durch prozessökonomische Überlegungen motiviertes Vorgehen ist
zulässig, wenn die ausserhalb des Anfechtungsgegenstandes liegende Frage
spruchreif ist und mit dem bisherigen Streitgegenstand derart eng
zusammenhängt, dass von einer Tatbestandsgesamtheit gesprochen werden kann,
sowie sich die Verwaltung zu dieser Streitfrage mindestens in Form einer
Prozesserklärung geäussert hat (BGE 122 V 36 Erw. 2a mit Hinweisen). Diese
primär mit Blick auf die Konstellation einer sachlichen Verfahrensausdehnung
entwickelten Grundsätze gelten auch, wenn im verwaltungsgerichtlichen
Verfahren über einen Gegenstand entschieden werden soll, der in zeitlicher
Hinsicht nicht durch die streitige Verfügung erfasst wird (zur Publikation in
der Amtlichen Sammlung vorgesehenes Urteil R. vom 10. November 2003, C 90/03,
Erw. 2.1).
1.3 Im vorliegenden Fall spricht einiges für die Annahme, dass die
Anspruchsbeurteilung für die Periode bis 30. Juni 2005 nicht grundsätzlich
anders ausfallen wird als für den durch die Verwaltungsverfügung geregelten
Zeitraum bis 11. März 2002. Es erscheint aber nicht als ausgeschlossen, dass
sachverhaltliche Änderungen eingetreten sind oder noch eintreten werden,
welche für den Leistungsanspruch relevant sind. Ausserdem haben die
gesetzlichen Grundlagen zwischenzeitlich gewisse Änderungen erfahren.
Schliesslich haben sich IV-Stelle und BSV bisher nicht zur Frage geäussert,
ob relevante Entwicklungen vorliegen. Unter diesen Umständen war die
Ausdehnung des Beschwerdeverfahrens im Lichte der vorgenannten Prinzipien
nicht zulässig. Über den Anspruch ab 12. März 2002 wird zunächst durch eine
Verfügung der IV-Stelle zu befinden sein. Beizufügen bleibt, dass sich das
kantonale Gericht nach der Ausdehnung des Verfahrens auf die Zeit bis Mitte
2005 konsequenterweise nicht auf die bis Ende 2002 gültig gewesenen
Gesetzesbestimmungen hätte beschränken dürfen.

2.
2.1 Wie das kantonale Gericht zutreffend dargelegt hat, sind die
materiellrechtlichen Bestimmungen des Bundesgesetzes über den Allgemeinen
Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 nicht
anwendbar, da die Verwaltungsverfügung vom 11. März 2002 vor dessen
Inkrafttreten (1. Januar 2003) erging (BGE 129 V 4 Erw. 1.2, 169 V Erw. 1,
356 Erw. 1).

2.2 Gemäss Art. 13 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20.
Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen
medizinischen Massnahmen. Die Geburtsgebrechen werden in einer Liste im
Anhang zur vom Bundesrat gestützt auf Art. 13 Abs. 2 IVG erlassenen
Verordnung über Geburtsgebrechen (GgV) aufgeführt (Art. 1 Abs. 2 Satz 1 GgV).
Ziffer 462 Anhang GgV nennt das Geburtsgebrechen "angeborene Störungen der
hypothalamohypophysären Funktion (hypophysärer Kleinwuchs, Diabetes
insipidus, Prader-Willi-Syndrom und Kallmann-Syndrom)".

2.3 Als medizinische Massnahmen, die für die Behandlung eines
Geburtsgebrechens notwendig sind, gelten sämtliche Vorkehren, die nach
bewährter Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt sind und den
therapeutischen Erfolg in einfacher und zweckmässiger Weise anstreben (Art. 2
Abs. 3 GgV). Die Massnahmen umfassen gemäss Art. 14 Abs. 1 IVG die
Behandlung, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische
Hilfspersonen in Anstalts- oder Hauspflege vorgenommen wird (lit. a) und die
Abgabe der vom Arzt verordneten Arzneien (lit. b). Die versicherte Person hat
in der Regel nur Anspruch auf die dem jeweiligen Eingliederungszweck
angemessenen, notwendigen Massnahmen, nicht aber auf die nach den gegebenen
Umständen bestmöglichen Vorkehren (vgl. Art. 8 Abs. 1 IVG); denn das Gesetz
will die Eingliederung lediglich so weit sicherstellen, als diese im
Einzelfall notwendig, aber auch genügend ist. Ferner muss der
voraussichtliche Erfolg einer Eingliederungsmassnahme in einem vernünftigen
Verhältnis zu ihren Kosten stehen (BGE 124 V 110 Erw. 2a, 122 V 214 Erw. 2c,
je mit Hinweisen; SVR 2003 IV Nr. 12 S. 35 Erw. 1.1, Nr. 16 S. 48 Erw. 2.3).
2.4 Der Leistungsanspruch bei Geburtsgebrechen gemäss Art. 13 IVG besteht -
anders als nach der allgemeinen Bestimmung des Art. 12 IVG - unabhängig von
der Möglichkeit einer späteren Eingliederung in das Erwerbsleben (Art. 8 Abs.
2 IVG). Eingliederungszweck ist die Behebung oder Milderung der als Folge
eines Geburtsgebrechens eingetretenen Beeinträchtigung (BGE 115 V 205 Erw.
4e/cc; SVR 2003 IV Nr. 12 S. 35 Erw. 1.2, Nr. 16 S. 48 Erw. 2.3).

3.
3.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die IV-Stelle dem Beschwerdegegner im
Rahmen des Geburtsgebrechens Nr. 462 medizinische Massnahmen in Form von
Physiotherapie zur Behandlung der muskulären Hypotonie zu gewähren hat. Dies
hängt, wie die Vorinstanz ebenfalls zutreffend erwogen hat, davon ab, ob die
muskuläre Hypotonie eine direkte Auswirkung des Geburtsgebrechens Nr. 462
darstellt sowie ob es sich bei der Physiotherapie um eine nach bewährter
Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigte Vorkehr handelt, welche
es erlaubt, die muskuläre Hypotonie in einfacher und zweckmässiger Weise zu
behandeln.

3.2 Das Eidgenössische Versicherungsgericht erachtete im Urteil R. vom 29.
Januar 2004 (I 19/03) gestützt auf ein der dortigen Vorinstanz erstattetes
Gerichtsgutachten als mit dem erforderlichen Beweisgrad der überwiegenden
Wahrscheinlichkeit (BGE 126 V 360 Erw. 5b, 125 V 195 Erw. 2, je mit
Hinweisen) erstellt, dass die muskuläre Hypotonie beim PWS eine direkte
Auswirkung der hypothalamohypophysären Funktion und damit des
Geburtsgebrechens Nr. 462 bildet. Die mit der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
eingereichten Unterlagen enthalten verschiedene medizinische
Meinungsäusserungen. Daraus wird deutlich, dass der entsprechende direkte
Zusammenhang nicht zweifelsfrei erwiesen ist, das Gegenteil nicht völlig
ausgeschlossen werden kann und bezüglich der diesbezüglichen Bedeutung des
Hormons Leptin noch Fragen offen sind. Diese Aussagen bieten jedoch keinen
Anlass, auf die Beurteilung zurückzukommen, der direkte Zusammenhang zwischen
der Störung der hypothalamo-hypophysären Funktion beim PWS und der muskulären
Hypotonie sei mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit
erstellt. Vielmehr weisen auch die meisten der mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde und der Vernehmlassung eingereichten
Stellungnahmen in diese Richtung.

3.3 Im erwähnten Urteil R. vom 29. Januar 2004 wurde ausserdem erkannt, die
Physiotherapie sei zur Behandlung der muskulären Hypotonie nach bewährter
Erkenntnis der medizinischen Wissenschaft angezeigt und erlaube es
grundsätzlich, den Eingliederungszweck, die Behebung oder Milderung der als
Folge des Geburtsgebrechens eingetretenen Beeinträchtigung (Erw. 2.4 hievor)
in einfacher und zweckmässiger Weise anzustreben. Die Voraussetzungen eines
entsprechenden Leistungsanspruchs seien daher - im Rahmen der
Verhältnismässigkeit - erfüllt. Die Akten des hierortigen Verfahrens bieten
keinen Anlass, auf diese Einschätzung zurückzukommen. Der Beschwerdegegner
hat daher für den vorliegend zu prüfenden Zeitraum bis zum Erlass der
Verfügung vom 11. März 2002 Anspruch auf Physiotherapie zur Behandlung der
muskulären Hypotonie.

3.4 Was den Umfang des Anspruchs anbelangt, hat die Vorinstanz durch das
Anknüpfen an die ärztliche Verordnung dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit
in angemessener Weise Rechnung getragen.

4.
4.1 Nach dem Gesagten ist die Ausdehnung des kantonalen Beschwerdeverfahrens
auf den Zeitraum nach dem Erlass der Verwaltungsverfügung zu Unrecht erfolgt.
Der vorinstanzliche Entscheid ist insoweit aufzuheben, und die Sache ist zum
Erlass einer diesbezüglichen Verfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen. Die
grundsätzliche materielle Anspruchsprüfung durch das kantonale Gericht ist
dagegen zu bestätigen.

4.2 Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Der bezüglich des
grundsätzlichen Leistungsanspruchs obsiegende Beschwerdegegner hat Anspruch
auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 135 OG).

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 19. August 2003
insoweit aufgehoben, als dem Versicherten Leistungen für die Zeit ab 12. März
2002 zugesprochen wurden, und es wird die Sache zum Erlass einer
diesbezüglichen Verfügung an die IV-Stelle des Kantons Aargau zurückgewiesen.
Im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Das Bundesamt für Sozialversicherung hat dem Beschwerdegegner für das
Verfahren vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine
Parteientschädigung von Fr. 1000.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu
bezahlen.

4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und der IV-Stelle des Kantons Aargau
zugestellt.

Luzern, 9. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: