Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 662/2003
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I 662/03

Urteil vom 19. März 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Schmutz

D.________, 1966, Beschwerdeführer, vertreten durch Advokat Dr. Daniel Riner,
Steinentorstrasse 13, 4051 Basel,

gegen

IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel, Beschwerdegegnerin

Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt, Basel

(Entscheid vom 10. September 2003)

Sachverhalt:

A.
Mit Urteil vom 28. Juni 2002, I 495/01, hob das Eidgenössische
Versicherungsgericht in teilweiser Gutheissung der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde des 1966 geborenen D.________ den Entscheid der
Kantonalen Rekurskommission für die Ausgleichskassen und die IV-Stellen,
Basel (heute: Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt), vom 6. April 2001 auf,
weil die im Rahmen des Verwaltungsverfahrens eingeholten und die im Verlauf
des vorinstanzlichen Prozesses eingereichten medizinischen Gutachten einander
in den Schlussfolgerungen widersprachen. Es wies die Sache an das
Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt zurück, damit es ein Obergutachten
veranlasse. Dieses sollte sich mit den Widersprüchen zwischen den verfügbaren
Berichten befassen und dazu Stellung nehmen, inwiefern sich ein beim
Versicherten vorliegender psychischer Gesundheitsschaden mit Krankheitswert
auf dessen Arbeitsfähigkeit auswirkte. Dabei waren auch die möglichen
Ursachen eines psychischen Gesundheitsschadens näher zu beleuchten. Hernach
hatte das Gericht über die Beschwerde gegen die den Rentenanspruch ablehnende
Verfügung der IV-Stelle Basel-Stadt vom 15. November 1999 neu zu entscheiden.

B.
Nach Wiederaufnahme des Verfahrens bestimmte das kantonale
Sozialversicherungsgericht Dr. med. X.________, Facharzt FMH für Psychiatrie
und Psychotherapie, zum Obergutachter (Verfügung vom 27. September 2002).
Dieser reichte seine Expertise am 17. Dezember 2002 ein. Er attestierte dem
Versicherten eine Leistungseinschränkung von nicht mehr als 30 %. Am 10.
September 2003 wies das Sozialversicherungsgericht die Beschwerde gegen die
Verfügung der IV-Stelle vom 15. November 1999 ab, wobei es einen
Invaliditätsgrad von 30 % festlegte.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Versicherte beantragen, der
vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung der IV-Stelle seien aufzuheben
und es sei ihm eine halbe Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter sei die
Sache zur Zusprechung einer halben Invalidenrente und subeventualiter zur
Prüfung des Härtefalls an die Vorinstanz zurückzuweisen.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 15.
November 1999) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar (BGE 129
V 4 Erw. 1.2).

2.
Der Obergutachter Dr. med. X.________ kam am 17. Dezember 2002 zum Schluss,
gesamthaft hätten die Beschwerden des Versicherten aus psychiatrischer Sicht
sicher einen gewissen Krankheitswert. Das Ausmass der psychischen Störungen
könne aber höchstens als leicht bezeichnet werden. Es sei eine leichte
depressive Symptomatik im Rahmen einer Anpassungsstörung vorhanden. Diese
bewirke, dass der Versicherte emotional weniger stark belastbar sei. Auf
Grund der somatoformen Schmerzstörung könne ihm nicht mehr zugemutet werden,
einer körperlichen Schwerarbeit nachzugehen, da er sonst die Körperschmerzen
unverhältnismässig stark provoziere, was die Leistungsfähigkeit zusätzlich
einschränke. Es sei ihm aber jede leichte bis mittelschwere Tätigkeit
zumutbar. Bedingt durch die Anpassungsstörung und die dadurch verminderte
Belastbarkeit dürfte er bei einer ganztägigen Arbeit etwas verlangsamt sein,
was gesamthaft sicher nicht mehr als eine 30-prozentige
Leistungseinschränkung rechtfertige. Diese Herabsetzung der Arbeitsfähigkeit
bestehe seit Juni 1998.

3.
3.1 Die ärztlichen Stellungnahmen zur Arbeits(un)fähigkeit und die Darlegungen
zu den einer versicherten Person aus medizinischer Sicht noch zumutbaren
Arbeitsfähigkeit weisen, von der Natur der Sache her, Ermessenszüge auf. Für
- oft depressiv überlagerte - Schmerzverarbeitungsstörungen gilt dies in
besonderem Masse. Dem begutachtenden Psychiater obliegt hier die Aufgabe,
durch die ihm zur Verfügung stehenden diagnostischen Möglichkeiten
fachkundiger Exploration der Verwaltung (und im Streitfall dem Gericht)
aufzuzeigen, ob und inwiefern eine versicherte Person über psychische
Ressourcen verfügt, die es ihr erlauben, mit ihren Schmerzen umzugehen.
Massgebend ist, ob die betroffene Person, von ihrer psychischen Verfasstheit
her besehen, an sich die Möglichkeit hat, trotz ihrer subjektiv erlebten
Schmerzen einer Arbeit nachzugehen (Urteile vom 11. November 2002 [I 368/01]
Erw. 2.3, Y. vom 5. Juni 2001 [I 266/00] Erw. 1c, S. vom 2. März 2001 [I
650/99] Erw. 2c, B. vom 8. Februar 2001 [I 529/00] Erw. 3c und A. vom 19.
Oktober 2000 [I 410/00] Erw. 2b). Die zumutbarerweise verwertbare
Arbeitsfähigkeit ist dabei nach einem weitgehend objektivierten Massstab zu
beurteilen (vgl. BGE 127 V 298 Erw. 4c mit Hinweisen; AHI 2001 S. 228 Erw.
2b). Nicht zu berücksichtigen sind Einschränkungen der Leistungsfähigkeit,
die nach ärztlicher Einschätzung allein durch Aggravation von psychischen
oder körperlichen Beschwerden verursacht sind, da aggravierendes Verhalten
als solches als nicht krankheitswertig und damit invaliditätsfremder Faktor
gilt (SVR 2003 IV Nr. 1 S. 1).

3.2 Wie die Vorinstanz zu Recht erwägt, erfüllt das Gutachten vom 17.
Dezember 2002 die von der Rechtsprechung bezüglich des Beweiswertes
ärztlicher Berichte aufgestellten Kriterien (BGE 125 V 352 Erw. 3a). Dies
wird auch in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde anerkannt.

3.3 Nach der Beurteilung durch Dr. med. X.________ ist dem Beschwerdeführer
durch die somatoforme Schmerzstörung eine körperliche Schwerarbeit nicht mehr
zumutbar, hingegen theoretisch jede leichte bis mittelschwere Tätigkeit. Die
Vorinstanz interpretiert in diesem Punkt das Gutachten richtig. Dagegen ist
der in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gezogene Schluss nicht korrekt, dem
Beschwerdeführer sei nach der Expertise nur noch eine leichte Tätigkeit
zumutbar. Wie die Vorinstanz in diesem Punkt ebenfalls genauer als der
Beschwerdeführer angibt, veranschlagte der Gutachter die Arbeitsfähigkeit auf
mindestens 70 %, und nicht auf genau 70 %, wie der Beschwerdeführer vorgibt.
Es ist damit davon auszugehen, dass die Arbeitsunfähigkeit höchstens 30 % in
einer leichten bis mittelschweren Tätigkeit beträgt, und nicht (mindestens)
30 % in einer bloss leichten Beschäftigung.

3.4 Die unterschiedliche Interpretation und Gewichtung der gutachterlichen
Aussagen ist deshalb von Relevanz, weil die Vorinstanz dem Beschwerdeführer
keinen zusätzlichen leidensbedingten Abzug auf dem auf der Basis einer
30-prozentigen Arbeitsunfähigkeit festgelegten statistischen Lohn zugesteht.
Dies, weil sie die vom Experten attestierte 30-prozentige Einschränkung
angesichts der Ausführungen im Obergutachten als grosszügig bemessen
erachtet. Sie beruft sich zudem auf die höchstrichterliche Rechtsprechung,
wonach ein leidensbedingter Abzug vom Tabellenlohn im Sinne von BGE 126 V 75
praxisgemäss dann Platz greift, wenn der Versicherte selbst bei leichteren
Tätigkeiten erheblich beeinträchtigt ist und somit im Vergleich mit einem
voll einsatzfähigen Teilzeitbeschäftigten mit geringeren Einkünften rechnen
muss (Urteil M. vom 7. Juli 2003 [I 627/02], Erw. 2.1.2 in fine).

3.5 Der Beschwerdeführer rügt die Verweigerung des leidensbedingten Abzuges
als bundesrechtswidrig. Er beantragt, auf dem um 30 % reduzierten
statistischen Lohn zusätzlich mindestens den nach der Rechtsprechung maximal
zulässigen Abzug von 25 % vorzunehmen. Die dazu vorgebrachten Gründe sind
jedoch nicht stichhaltig. Der Entscheid, ob bei der Festsetzung des
Invalideneinkommens ein leidensbedingter Abzug zu gewähren ist, obliegt der
Verwaltung und (im Streitfall) dem Gericht. Vorliegend hat der Gutachter aber
bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit bereits mitberücksichtigt, dass der
Beschwerdeführer bei der ihm zumutbaren leichten bis mittelschweren
Vollzeittätigkeit etwas verlangsamt sein dürfte. Auf Grund dieser
verminderten Leistungsfähigkeit hat er den Grad der Arbeitsfähigkeit auf
mindestens 70 % festgesetzt und dadurch bereits einbezogen, dass durch das
leidensbedingt eingeschränkte Rendement der in einer 100-Prozent-Stelle
erzielbare Lohn tiefer ausfällt. Ein zusätzlicher Abzug aus dem selben Grund
rechtfertigt sich nicht.

3.6 Die übrigen nach BGE 126 V 75 möglichen Gründe für einen Abzug vom
statistischen Lohn (Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und
Beschäftigungsgrad) sind vorliegend nicht gegeben. Da dem Beschwerdeführer
nach dem Obergutachter eine leichte oder mittelschwere Tätigkeit in einer
Vollzeitstelle zumutbar ist, rechtfertigt sich insbesondere kein Abzug wegen
Teilzeitbeschäftigung. Die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde gemachten
Vorbringen über die Schwierigkeiten psychisch kranker Personen bei der Suche
nach einem angemessen entlöhnten Arbeitsplatz sind nicht zu erörtern, weil
der Beschwerdeführer nach der überzeugenden Expertise von Dr. med. X.________
ganz offensichtlich nicht diesem Patientenkreis angehört, wenn der Arzt das
Ausmass der psychischen Störungen als höchstens leicht bezeichnet.

3.7 Dass das Sozialversicherungsgericht den von der Rekurskommission
gewährten leidensbedingten Abzug von 15 % nicht bestätigt hat, ist nach dem
Erörterten ebenfalls korrekt. Der durch das Eidgenössische
Versicherungsgericht aufgehobene Entscheid der Rekurskommission bindet das
Sozialversicherungsgericht nicht. Das Eidgenössische Versicherungsgericht hat
im Rückweisungsentscheid auch keine in diesem Zusammenhang das
Sozialversicherungsgericht verpflichtenden Feststellungen getroffen. Dieses
war frei, den Einkommensvergleich von Grund auf neu vorzunehmen, und zwar
umso mehr, als nun im Gegensatz zum Stadium des früheren Verfahrens die
medizinische Sachverhaltsbasis geklärt ist. Im Übrigen weicht das
Sozialversicherungsgericht auch in einem weiteren Punkt von der Berechnung
der Rekurskommission ab, wenn es den für das Jahr 1998 ermittelten effektiven
Validenlohn um rund Fr. 12'500.- auf den statistischen Durchschnittswert
anhebt, was sich im Einkommensvergleich erheblich zu Gunsten des
Beschwerdeführers auswirkt. Andernfalls würde der korrekt auf 30 %
festgesetzte Invaliditätsgrad bei weitem nicht erreicht.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht Basel-Stadt,
der Ausgleichskasse Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherung
zugestellt.

Luzern, 19. März 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: