Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 639/2003
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I 639/03

Urteil vom 27. Februar 2004
III. Kammer

Präsidentin Leuzinger, Bundesrichter Rüedi und Lustenberger;
Gerichtsschreiber Schmutz

B.________, 1960, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Dr. Andreas
Edelmann, Bahnhofstrasse 1, 5330 Zurzach,

gegen

IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
Beschwerdegegnerin

Versicherungsgericht des Kantons Aargau, Aarau

(Entscheid vom 13. August 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1960 geborene B.________ war seit 1990 bei der Firma R.________ AG,
Unterendingen, als angelernter Dachdecker angestellt. Ab 1999 traten vermehrt
Rückenbeschwerden auf, weshalb er als Bauspengler eingesetzt wurde. Nach drei
mehrwöchigen krankheits- und unfallbedingten Arbeitsunterbrüchen stellte
B.________ die Arbeit im März 2001 ein. Am 9. November 2001 meldete er sich
bei der Invalidenversicherung zum Bezug von Leistungen an und beantragte
insbesondere die Umschulung auf eine neue Tätigkeit. Durch den behandelnden
Arzt Dr. med. U.________, Spezialarzt FMH für Allgemeine Innere Medizin,
reichte er Arztberichte der Neurochirurgischen Klinik des Spitals X.________
(vom 29. August 2001, 19. Oktober 2001 und 25. Oktober 2001) und der Rheuma-
und Rehabilitationsklinik Y.________ (vom 11. Juli 2001) ein. Dr. med.
U.________ erstattete der IV-Stelle des Kantons Aargau am 23. November 2001
und 29. April 2002 ebenfalls Bericht.

Übereinstimmend wurden therapieresistente Rückenbeschwerden, die in der
angestammten Tätigkeit zu einer vollständigen Arbeitsunfähigkeit führten,
diagnostiziert. Dr. med. U.________ gab an, es müsse durch die
Invalidenversicherung abgeklärt werden, ob dem Versicherten eine andere
Tätigkeit zumutbar sei. Bei einer Beschäftigung (während acht Stunden) sei
besonders zu beachten der Wechsel von sitzender und stehender Tätigkeit und
das Vermeiden von Heben von Gewichten über 20 Kilo (Bericht vom 23. November
2001). Im Hinblick auf eine Berufserprobung meldete die IV-Berufsberatung den
Versicherten zu einer Vorstellung in der Rehaklinik Q.________ an. Nach dem
Bericht des IV-Berufsberaters vom 26. März 2002 soll die Klinik die Aufnahme
auf Grund des gewonnenen Eindrucks über die Eingliederungsbereitschaft von
B.________ abgelehnt haben. Im Verlaufsbericht vom 29. April 2002 gab Dr.
med. U.________ an, es müsse in einem Arbeitsversuch ausgetestet werden, in
welchem Grad dem Versicherten eine leichte wechselbelastende Tätigkeit
zumutbar sei. Da die Schmerzen sich in ihrem Ausmass veränderten, sehe eine
Eingliederung wenig Erfolg versprechend aus.

Mit Verfügung vom 11. November 2002 verneinte die IV-Stelle den Anspruch auf
eine Invalidenrente, da bei einer geeigneten Tätigkeit aus medizinischer
Sicht keine Einschränkung bestehe und bei einer Erwerbseinbusse von 21 % der
erforderliche Invaliditätsgrad nicht erreicht werde. Am 10. Dezember 2002
verfügte sie zudem die Ablehnung des Gesuches um berufliche Massnahmen
(wogegen der Versicherte keine Beschwerde erhob).

B.
Die von B.________ gegen die Ablehnung des Rentenanspruchs erhobene
Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom
13. August 2003 ab. Dabei legte es den Invaliditätsgrad auf 34 % fest.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt der Versicherte beantragen, der
kantonale Entscheid sei aufzuheben; die Sache sei zurückzuweisen mit dem
Auftrag, ein ärztliches Gutachten über die Arbeitsunfähigkeit erstellen zu
lassen; es sei ihm die (vorinstanzlich) beantragte (volle) Invalidenrente
zuzusprechen. Zudem ersucht er um die Gewährung der unentgeltlichen
Verbeiständung.

Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde
schliesst, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherung auf eine
Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Am 1. Januar 2003 ist das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des
Sozialversicherungsrechts (ATSG) vom 6. Oktober 2000 in Kraft getreten. Mit
ihm sind zahlreiche Bestimmungen im Invalidenversicherungsbereich geändert
worden. Weil in zeitlicher Hinsicht grundsätzlich diejenigen Rechtssätze
massgebend sind, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden
Tatbestandes Geltung haben (BGE 127 V 467 Erw. 1), und weil ferner das
Sozialversicherungsgericht bei der Beurteilung eines Falles grundsätzlich auf
den bis zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Verfügung (hier: 11.
November 2002) eingetretenen Sachverhalt abstellt (BGE 121 V 366 Erw. 1b),
sind die bis zum 31. Dezember 2002 geltenden Bestimmungen anwendbar (BGE 129
V 4 Erw. 1.2).

2.
Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff
der Invalidität (Art. 4 Abs. 1 IVG), den Umfang des Rentenanspruchs (Art. 28
Abs. 1 und 1bis IVG in der hier anwendbaren, bis Ende 2003 gültig gewesenen
Fassung), die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen
Versicherten (Einkommensvergleichsmethode [Art. 28 Abs. 2 IVG in der hier
anwendbaren, bis Ende 2002 gültig gewesenen Fassung; BGE 104 V 136 Erw. 2a
und b]) sowie zur Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE
125 V 261 Erw. 4, 115 V 134 Erw. 2, 105 V 158 Erw. 1) und zum Beweiswert
ärztlicher Berichte (BGE 125 V 352 f. Erw. 3 mit Hinweisen) richtig
dargelegt. Darauf wird verwiesen.

3.
Es steht fest, dass der Beschwerdeführer auf Grund seiner Rückenbeschwerden
in seiner angestammten Tätigkeit als Dachdecker nicht mehr arbeitsfähig ist.
Hingegen ist streitig die Art und der Umfang der ihm verbleibenden
Beschäftigungsmöglichkeiten.

3.1 Dazu erwog das kantonale Gericht, der behandelnde Arzt Dr. med.
U.________ habe in seinem Bericht vom 23. November 2001 eine klare Diagnose
gestellt und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit dahingehend
beurteilt, dass der Beschwerdeführer in einer leidensangepassten Tätigkeit
ohne Leistungseinbusse voll arbeitsfähig sei. Dies sei plausibel und
nachvollziehbar und finde eine Stütze im Bericht der Rheumaklinik Y.________
vom 11. Juli 2001. Die Folgerung von Dr. med. U.________ im zweiten Bericht
vom 29. April 2002, die Arbeitsfähigkeit in einer angepassten Tätigkeit sei
ohne Austestung in einem Arbeitsversuch nicht zu beurteilen, sei hingegen
nicht nachvollziehbar. Der Arzt habe dieselbe Diagnose gestellt wie im ersten
Bericht und den Gesundheitszustand als stationär bezeichnet. Es sei nicht
schlüssig, warum nach einer bestätigten vollen Arbeitsfähigkeit nur knapp ein
halbes Jahr später eine tendenziell 100- prozentige Arbeitsunfähigkeit in
einer leidensangepassten Tätigkeit resultiere. Um zu einer derart anderen
Beurteilung zu gelangen, bedürfe es mindestens einer weiteren medizinisch
feststellbaren und damit objektivierbaren Ursache. Diese sei jedoch nicht
gegeben und es seien keine Gründe für ein Abweichen von der ursprünglichen
Beurteilung der Arbeitsfähigkeit ersichtlich.

3.2 Der Beschwerdeführer rügt, Verwaltung und Vorinstanz hätten die Aussagen
in den Berichten von Dr. med. U.________ falsch interpretiert und den
Gesundheitszustand ungenügend ärztlich abklären lassen. In der mit der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde eingelegten Stellungnahme vom 22. September
2003 zum kantonalen Entscheid bringt Dr. med. U.________ vor, er habe dem
Beschwerdeführer auch in einer angepassten Tätigkeit nie eine volle
Arbeitsfähigkeit attestiert. Bei seinen Angaben habe es sich lediglich um
Rahmenbedingungen für die von ihm empfohlene IV-Abklärung gehandelt. Dass der
Beschwerdeführer als angelernter Dachdecker bei der Vorstellung in der
Rehaklinik Q.________ eine Arbeit am Computer abgelehnt haben soll, sei ihm
nicht als renitentes Verhalten gegenüber angebotenen Tätigkeiten anzurechnen,
sondern es sei die Überforderungssituation zu beachten. Zudem erfülle eine
nur sitzende Tätigkeit am Computer die geforderten Rahmenbedingungen in
keiner Weise. Es entbehre auch jeder medizinischen Grundlage, dass Schmerzen
immer eine medizinisch feststellbare und damit objektivierbare Ursache
hätten.

3.3 Die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde und in der eingereichten
Stellungnahme von Dr. med. U.________ erhobenen Einwände gegen die Würdigung
des medizinischen Sachverhalts durch Verwaltung und Vorinstanz sind
stichhaltig. Es trifft zu, dass die IV-Stelle selber keine eigentliche
medizinische Abklärung getroffen hat. Die bereits mit der Anmeldung zum
Leistungsbezug eingereichten Arztberichte der Neurochirurgischen Klinik des
Spitals X.________ und der Rheuma- und Rehabilitationsklinik Y.________ waren
im Zeitpunkt des Verfügungserlasses mindestens ein Jahr alt und damit nicht
geeignet, den Verlauf der Arbeitsunfähigkeit im massgeblichen Zeitraum
abzubilden. Die einzigen jüngeren ärztlichen Aussagen finden sich in den
beiden Berichten von Dr. med. U.________, die dieser im November 2001 und
April 2002 - auch bereits ein Jahr bzw. sieben Monate vor Verfügungserlass -
erstattete. Wie der Betreffende zu Recht anführt, attestierte er dem
Beschwerdeführer in dem im kantonalen Entscheid als relevant bezeichneten
ersten Bericht nie eine volle Arbeitsfähigkeit in einer angepassten
Tätigkeit, sondern er machte seine Angaben im Zusammenhang mit der Forderung
nach einer Abklärung durch die Invalidenversicherung. Durch die dabei
verwendete Formulierung ("Dies muss durch eine IV-Abklärung geklärt werden")
drückte er deutlich aus, dass auch für ihn noch ein Klärungsbedarf bestand.
Hätte er ausdrücken wollen, dass die Abklärung lediglich noch die von ihm
bereits gemachten Angaben zu bestätigen hat, hätte er dies entsprechend
anders artikuliert.

3.4 Warum die Rehaklinik Q.________ die Aufnahme des Beschwerdeführers in die
Berufserprobung ablehnte, ist nicht ersichtlich. Laut Bericht des
IV-Berufsberaters soll der Beschwerdeführer bei der Vorstellung angegeben
haben, er würde die Arbeiten, die man ihm gezeigt habe, nicht ausführen
können, und die Tätigkeit am Computer sei nichts für ihn. Daraus lässt sich
indes nicht auf eine fehlende Eingliederungsbereitschaft schliessen. Zudem
soll der Beschwerdeführer bei dieser Gelegenheit ausdrücklich bemerkt haben,
er wolle die Berufserprobung trotzdem versuchen (Bericht des
IV-Berufsberaters vom 26. März 2002).

4.
Da die bestehenden Unterlagen keine schlüssige Beurteilung der
Arbeitsfähigkeit in einer zumutbaren Verweisungstätigkeit erlauben, wird die
IV-Stelle das beantragte ärztliche Gutachten in Auftrag geben und bei Bedarf
berufsberaterische Abklärungen tätigen. Sie wird dem Beschwerdeführer
Gelegenheit zur Stellungnahme einräumen, bevor sie über den Anspruch auf eine
Invalidenrente neu verfügt.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der
Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. August 2003
und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom 11. November 2002
aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen wird, damit
sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Anspruch des
Beschwerdeführers auf eine Invalidenrente neu verfüge.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Die IV-Stelle des Kantons Aargau hat dem Beschwerdeführer für das Verfahren
vor dem Eidgenössischen Versicherungsgericht eine Parteientschädigung von Fr.
2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.

4.
Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau wird über die Parteientschädigung
für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen
Prozesses zu befinden haben.

5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau,
der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.

Luzern, 27. Februar 2004
Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Die Präsidentin der III. Kammer:  Der Gerichtsschreiber:
i.V.