Sammlung der Entscheidungen des Schweizerischen Bundesgerichts
Collection des arrêts du Tribunal fédéral suisse
Raccolta delle decisioni del Tribunale federale svizzero

Sozialrechtliche Abteilungen I 637/2003
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I 637/03

Urteil vom 16. Juni 2004
IV. Kammer

Präsident Ferrari, Bundesrichter Meyer und Ursprung; Gerichtsschreiber
Grunder

S.________, 1965, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Tim Walker,
Hinterdorf 27, 9043 Trogen,

gegen

IV-Stelle des Kantons Appenzell Ausserrhoden, Kasernenstrasse 4, 9102
Herisau, Beschwerdegegnerin

Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden, Trogen

(Entscheid vom 18. Juni 2003)

Sachverhalt:

A.
Der 1965 geborene S.________ betrieb ab 1990 an seinem Wohnort in T.________
zusammen mit seiner Ehefrau einen Lebensmittelladen, in welchem aushilfsweise
drei Verkäuferinnen sowie ein vollzeitlich angestellter Hilfsarbeiter
beschäftigt waren. Ab Februar 1996 arbeitete er zudem als Lastwagenchauffeur
bei der Firma L.________ AG im Rahmen eines 80 %-Pensums an vier Tagen pro
Woche. Als Folge eines Motorradunfalles vom 14. August 1998 leidet S.________
an einer sensomotorischen Paraplegie unterhalb Th5. Mit Gesuch vom 6. Oktober
1998 meldete er sich zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Die
IV-Stelle des Kantons Appenzell Ausserrhoden sprach ihm verschiedene
Hilfsmittel, eine Hilflosenentschädigung mittelschweren Grades sowie eine
Umschulung zum technischen Kaufmann zu, welche er im Herbst 2001 abschloss.
Seit 15. Oktober 2001 ist der Versicherte bei der Versicherung H.________ als
Sachbearbeiter in zeitlichem Umfang von 50 % angestellt, wo er gemäss
internem Bericht der Verwaltung vom 29. Oktober 2001 bestmöglich
eingegliedert ist.
Die IV-Stelle holte im Folgenden weitere Auskünfte der Firma L.________ AG
(Schreiben vom 29. Oktober 2001), des Versicherten zu dem im Januar 1999
verkauften Lebensmittelbetrieb (Eingaben des Rechtsvertreters vom 11. und 18.
Dezember 2001 mit nicht datiertem Begleitschreiben des Versicherten und
Erfolgsrechnungen und Bilanzen der Jahre 1995 bis 1999) sowie des Bundesamtes
für Sozialversicherung (vom 16. Januar 2002) ein und zog einen Auszug aus dem
Individuellen Konto bei. Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach sie
dem Versicherten mit zwei Verfügungen vom 5. Juni 2002 und 8. August 2002
eine halbe Invalidenrente auf Grund eines nach der
Einkommensvergleichsmethode ermittelten Invaliditätsgrades von 61 % mit
Beginn ab 1. Oktober 2001 zu (nebst Zusatzrente für den Ehegatten und drei
Kinderrenten).

B.
Hiegegen liess S.________ zwei Beschwerden einreichen, welche das
Verwaltungsgericht von Appenzell Ausserrhoden in einem Verfahren vereinigte
und mit Entscheid vom 18. Juni 2003 abwies.

C.
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ beantragen, unter
Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei ihm eine ganze Invalidenrente
zuzusprechen, es sei im letztinstanzlichen Verfahren ein zweiter
Schriftenwechsel anzuordnen, zudem sei ihm eine angemessene
Parteientschädigung für den kantonalen Prozess zuzusprechen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das
Bundesamt für Sozialversicherung verzichtet auf eine Vernehmlassung.

Das Eidg. Versicherungsgericht zieht in Erwägung:

1.
Der Beschwerdeführer rügt in formellrechtlicher Hinsicht die nicht
ordnungsgemässe Besetzung des kantonalen Gerichts. Der Leiter der IV-Stelle
des Kantons Appenzell-Ausserrhoden sei gleichzeitig Richter am
Verwaltungsgericht und Mitglied der Aufsichtsbehörde für Schuldbetreibung und
Konkurs, in welchen Behörden auch der am hier angefochtenen Entscheid
mitwirkende E.________ als Präsident Einsitz habe, was zumindest den Anschein
der Befangenheit dieser Gerichtsperson begründe.

1.1  Nach der materiell unverändert von Art. 58 aBV in Art. 30 Abs. 1 BV
überführten (vgl. SVR 2001 BVG Nr. 7 S. 27 f. Erw. 1a), ebenfalls in Art. 6
EMRK enthaltenen Garantie des verfassungsmässigen Richters hat der Einzelne
Anspruch darauf, dass seine Sache von einem unabhängigen, unvoreingenommenen
und unbefangenen Richter ohne Einwirkung sachfremder Umstände entschieden
wird. Solche Umstände können entweder in einem bestimmten persönlichen
Verhalten des Richters oder in äusseren Begebenheiten liegen, wozu auch
funktionelle und organisatorische Gesichtspunkte gehören. Nach der
Rechtsprechung ist die unabhängig vom kantonalen Verfahrens- und
Organisationsrecht gewährleistete Minimalgarantie von Art. 30 Abs. 1 BV
verletzt, wenn bei objektiver Betrachtungsweise Gegebenheiten vorliegen, die
den Anschein der Befangenheit und die Gefahr der Voreingenommenheit einer
Gerichtsperson zu begründen vermögen (BGE 128 V 84 Erw. 2a mit Hinweisen).

1.2  Dass der Leiter der Beschwerdegegnerin Einsitz als nebenamtlicher
Richter
am Verwaltungsgericht des Kantons Appenzell-Ausserrhoden hat und auch Fälle
zusammen mit dem Präsidenten dieses Tribunals beurteilt, lässt bei objektiver
Betrachtung nicht auf eine den Anschein der Befangenheit begründende
Interessenbindung (Urteil Z. vom 23. September 2002, U 249/00, Erw. 2a) des
Präsidenten schliessen. Die Rüge der Befangenheit ist demnach unbegründet.

2.
Gemäss Art. 110 Abs. 4 OG findet ein weiterer Schriftenwechsel nach Eingang
von Beschwerde und Vernehmlassung nur ausnahmsweise statt. Dieser ist nach
den Grundsätzen des rechtlichen Gehörs zu gewähren, wenn in der
Vernehmlassung der Gegenpartei oder der Mitbeteiligten neue tatsächliche
Behauptungen aufgestellt werden, deren Richtigkeit nicht ohne weiteres
aktenkundig ist und die für die Entscheidung von wesentlicher Bedeutung sind
(BGE 119 V 323 Erw. 1 mit Hinweisen). Im Lichte dieser Rechtsprechung
rechtfertigt die Vernehmlassung der IV-Stelle, mit welcher im Wesentlichen
auf die Eingaben im kantonalen Verfahren und auf die Erwägungen im
angefochtenen Entscheid verwiesen wird, die Durchführung des beantragten
zweiten Schriftenwechsels nicht, zumal auf sie für die nachfolgende
Entscheidung in der Sache nicht abgestellt wird. Der entsprechende
Verfahrensantrag des Beschwerdeführers ist daher abzuweisen.

3.
Streitig und zu prüfen ist einzig die Bemessung des Valideneinkommens. Diese
Frage beurteilt sich nach Art. 28 Abs. 2 IVG in der bis 31. Dezember 2002
(In-Kraft-Treten des ATSG am 1. Januar 2003) gültig gewesenen Fassung (BGE
129 V 4 Erw. 1.2 mit Hinweisen), wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat.

3.1  Parteien und Vorinstanz sind sich darin nicht einig, in welchem Ausmass
der seiner tatsächlich geleisteten Mitarbeit entsprechende Anteil des
Beschwerdeführers am Betriebsergebnis des Lebensmittelgeschäfts bei der
Bemessung des Valideneinkommens zu berücksichtigen ist. Während die IV-Stelle
und ihr folgend die Vorinstanz von einer hälftigen Aufteilung zwischen dem
Versicherten und seiner Ehefrau ausgehen, wird in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde geltend gemacht, der Beschwerdeführer habe die
hauptsächliche Arbeit geleistet.

3.2  Diese Auseinandersetzung trifft nicht den entscheidenden Punkt. Nach der
Rechtsprechung ist vom Grundsatz auszugehen, dass die Invalidenversicherung
als Erwerbsunfähigkeitsversicherung nur Versicherungsschutz bietet für eine
übliche, normale erwerbliche Tätigkeit; Mehrfachbeschäftigungen über 100 %
hinaus - sei es durch Kumulierung von Erwerbs- und Haushaltarbeit, sei es
durch Ausübung verschiedener Erwerbstätigkeiten - können bei der
Invaliditätsbemessung nicht berücksichtigt werden (ZAK 1988 S. 476 und
seitherige beständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteile L. vom 3. August 1993
[I 40/93] und I. vom 25. Oktober 2002 [I 245/02]; Meyer-Blaser,
Rechtsprechung zum IVG, S. 207).

4.
Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer vor dem Motorradunfall vom 14.
August 1998 seit Februar 1996 zwei Erwerbstätigkeiten ausgeübt hat, welche er
wegen der erlittenen Paraplegie nicht weiter ausüben konnte. Im
Administrativverfahren hat der Beschwerdeführer dazu angegeben:
"Mit der Anstellung bei der Firma L.________ in A.________ konnte ich
Geschäft und Zusatzarbeit so engagieren, dass für Personal und Familie keine
Veränderungen stattfanden. Bei meinem Arbeitgeber konnte ich die Arbeitszeit
so einteilen, dass ich vier Arbeitstage anwesend war. Ich arbeitete während
zwei Arbeitstagen, Dienstag und Samstag, mindestens durchschnittlich elf bis
zwölf Stunden, während vier Arbeitstagen mind. drei Stunden im eigenen
Betrieb. Am Sonntag musste ich häufig auch noch arbeiten. Sonntagsarbeiten
waren Vorbereitungen für Gesellschaften, Anlässe und
Geschenksvorbereitungen."
Der Rechtsanwalt des Versicherten führte im Schreiben vom 11. Dezember 2001
an die IV-Stelle aus:
"Schon gar nicht trifft zu, dass Herr S.________ sein Lebensmittelgeschäft in
T.________ bloss zu 20 % führte. Vielmehr arbeitete er auch ab Februar 1996
in seinem Betrieb wöchentlich im Durchschnitt mehr als 35 Stunden, was einem
Zeitpensum von deutlich mehr als 80 % entspricht (sogar bei Annahme einer
gemäss BFS-Statistik überdurchschnittlichen 42-Std.-Woche)."
Aus diesen unverdächtigen Darlegungen, welche die tatsächliche
Arbeitsleistung des Versicherten vor Eintritt des invalidisierenden
Gesundheitsschadens am 14. August 1998 glaubhaft wiedergeben, geht
einwandfrei hervor, dass der Beschwerdeführer nicht eine Haupt- und
Nebenerwerbstätigkeit (vgl. dazu RKUV 2003 Nr. U 476 S. 107) ausübte, sondern
gleichzeitig zwei wirtschaftlich gleichbedeutende Beschäftigungen, die
zusammen rund 160 % eines normalen Arbeitspensums ausmachten. Im Lichte der
in der vorstehenden Erwägung dargelegten Rechtsprechung können die daraus
erzielten Einkünfte bei der Invaliditätsbemessung nicht vollständig
berücksichtigt werden. Der Beschwerdeführer kann vielmehr nur die Anrechnung
von 10/16 der insgesamt aus selbst- und unselbstständiger Erwerbstätigkeit
erwirtschafteten Einkünfte verlangen. Geht man im Sinne der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde von der für den Beschwerdeführer
allergünstigsten Annahme eines hypothetischen Valideneinkommens von Fr.
130'000.- aus (je zur Hälfte aus selbst- und unselbstständigem Erwerb; vgl.
das unter Ziff. 13 der Verwaltungsgerichtsbeschwerde erwähnte Schreiben an
die IV-Stelle vom 26. Oktober 2001, worin für die Jahre 1996 bis 1999 ein
Durchschnittseinkommen von Fr. 125'300.- geltend gemacht wurde), ist in die
Vergleichsrechnung ein Betrag von Fr. 81'250.- einzusetzen (Fr. 130'000.- :
160 x 100). Wird dieser Betrag dem unbestrittenen Invalideneinkommen von Fr.
31'200.- als Versicherungssachbearbeiter gegenübergestellt, ergibt sich eine
Resterwerbsfähigkeit von 38,4 % oder ein Invaliditätsgrad von rund 62 % (BGE
130 V 131) gemäss vorinstanzlichem Entscheid. Damit ist der nach Art. 28 Abs.
1 IVG (in der bis 31. Dezember 2003 gültig gewesenen Fassung; In-Kraft-Treten
der Änderung des IVG vom 21. März 2003 am 1. Januar 2004) erforderliche
Mindestinvaliditätsgrad von 66 2/3 % für den Anspruch auf eine ganze
Invalidenrente nicht erreicht. Es bleibt zu bemerken, dass der
Beschwerdeführer auf Grund der Neufassung von Art. 28 IVG im Rahmen der 4.
IV-Revision mit Wirkung ab 1. Januar 2004 im Falle eines andauernden
Invaliditätsgrades von 62 % in den Genuss einer Dreiviertels-Invalidenrente
gelangt, was jedoch hier nicht Verfügungsgegenstand bildet.

5.
Bei diesem Ergebnis ist der kantonale Abweisungsentscheid zu bestätigen,
weshalb dem Beschwerdeführer für das vorinstanzliche Verfahren keine
Parteientschädigung zusteht. Der entsprechende Antrag in der
Verwaltungsgerichtsbeschwerde ist daher abzuweisen.

Demnach erkennt das Eidg. Versicherungsgericht:

1.
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.

2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.

3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht von Appenzell
Ausserrhoden, der Ausgleichskasse ALBICOLAC und dem Bundesamt für
Sozialversicherung zugestellt.
Luzern, 16. Juni 2004

Im Namen des Eidgenössischen Versicherungsgerichts

Der Präsident der IV. Kammer:  Der Gerichtsschreiber: